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Lieber Herr Shalev,
lieber Herr Kron,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
"Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen" – das ist ein klingender Titel für diese Veranstaltung. Er zeichnet, genau wie das farbenfrohe Motiv auf den Plakaten, die mich hier im Radialsystem begrüßt haben, ein Bild deutsch-israelischer Beziehungen, wie wir es uns vor 50 oder gar 70 Jahren kaum vorzustellen wagten. Zukunftsgerichtet, aber fern von Geschichtsvergessenheit, ein offenes, diskursives und kreatives Miteinander, geprägt von gegenseitigem Respekt, kultureller Bereicherung und Verantwortung.
"Deutschland und Israel sind enger verbunden, als jemals zuvor: durch gemeinsame Werte, aber auch gemeinsame Interessen", sagte der Bundespräsident bei seinem Besuch in Israel vor fast drei Jahren. Und weiter: "Israelische Künstler verzaubern Berlin und deutsche sind vom Charme des jungen Israels begeistert." Das kann ich aus eigenem, mehrfachem Erleben und aus tiefem Herzen bestätigen.
Die deutsch-israelischen Beziehungen sind von tiefer Freundschaft geprägt, eine Freundschaft, die der staatsoffiziellen Bekräftigung offenbar gar nicht mehr ausdrücklich bedarf. Zu eng sind die vielfältigen persönlichen Beziehungen. Dazu gehört auch die offene, kritische Haltung einer jüngeren Generation gegenüber dem eigenen wie auch dem anderen Land, wie es jüngst einer Umfrage zu entnehmen war.
Die von der Bundeszentrale für politische Bildung vor wenigen Monaten ausgerichtete 5. Internationale Konferenz zur Holocaustforschung stand unter dem Thema "Danach" – ein Begriff, der andeutet, dass nach 1945 alles anders war und ist als zuvor. Eine Zäsur, nach der man nun anders über alle Ereignisse spricht als zuvor; auch über solche, die mit der Shoa vermeintlich nichts zu tun zu haben.
"Danach" ist aber auch eine Vokabel, die anzeigt, dass wir mit einem Ereignis verbunden, zugleich aber auch zeitlich von ihm getrennt sind; sie beschreibt ein Ereignis, das in der Vergangenheit liegt, aber nicht vergangen ist; ein Ereignis, dass in die Zeit davor und danach ausstrahlt und Wirkung hat. Auf die Politik und die Diplomatie, aber eben auch ganz individuelle Ausprägungen auf einzelne Biographien, auf Alltagswelten und auf künstlerisches Schaffen. Diese Zugänge sind es, die der Anthologie "Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen" von Norbert Kron und Amichai Shalev, die soeben im Fischer Verlag und bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen ist, eine solche Wirkungskraft verleihen. Denn dieses "Danach" ist eben vieles, eine Sprachchiffre, die immer wieder und immer wieder neu zu entziffern ist.
Der beste Schlüssel zum "Entziffern" ist in meinen Augen der Dialog. Das war übrigens auch der Anlass, aus dem im Oktober 1963 die Bundeszentrale für politische Bildung die erste Studienreise nach Israel organisierte – noch vor Aufnahme der offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland. Inzwischen wurden daraus 277 Studienreisen mit mehr als 7500 Teilnehmenden. Besonders erfreulich ist, dass die Reisen in den vergangenen 10 Jahren zunehmend jüngere Teilnehmende angesprochen haben – unser wichtigstes Kapital für eine erfolgreiche Fortsetzung des deutsch-israelischen Dialogs.
Ich bin überzeugt davon, dass keine Nachrichtensendung, kein Fachbuch und auch keine Historikerkonferenz die authentische direkte Begegnung, den Dialog miteinander und den Einblick in die komplexe Lebenswirklichkeit, in Verbindendes und Trennendes, ersetzt. Ich freue mich darum sehr, dass in den vergangenen Tagen auch hier in Berlin – gerade in Berlin! – Israelis und Deutsche diese pulsierende Stadt als Begegnungsort genutzt haben, um genau das zu tun. Sie sind zusammengekommen, um gemeinsam zu ergründen, was dieses "Danach" für Israelis und Deutsche der sogenannten "Dritten Generation" bedeutet – hier in Berlin, in Tel Aviv oder andernorts.
Dabei auch zu tanzen – dagegen gibt es, meine Damen und Herren, überhaupt nichts einzuwenden. Ich freue mich, hier heute Abend so interessante Kulturschaffende aus Israel, Deutschland und anderen Ländern begrüßen zu dürfen und freue mich auf einen inspirierenden Abend mit vielen erhellenden Einblicken in Ihren bisherigen Diskurs. Wir vergessen nicht und niemals. Und wir gehen gemeinsam tanzen.
Vielen Dank!
- Es gilt das gesprochene Wort -
Dear Mr Shalev,
Dear Mr Kron,
Ladies and gentlemen,
"We do not forget, we go dancing" is a resounding title for this event. Just like the colourful motive on the posters that welcomed me here to the Radialsystem, it draws a picture of German-Israeli relations we could not have imagined 50 years ago, never mind 70 years ago. Looking to the future, but a long way from forgetting our history - an open, discursive and creative togetherness characterised by mutual respect, cultural enrichment and a sense of responsibility.
"Germany and Israel are linked more closely than ever before: through shared values, but also through shared interests", said the German Federal President during his visit to Israel almost three years ago. And further: "Israeli artists are enchanting Berlin, and German artists are captivated by the charm exuded by the young Israel". I can confirm this from my own repeated experience and from the bottom of my heart.
German-Israeli relations are characterised by deep friendship, the kind that no longer seems to need explicit official state confirmation. Personal relationships have grown far too diverse and close. The open and critical attitude of a younger generation towards their own country and the other, recently confirmed by a survey, also forms part of this.
The 5th International Conference on Holocaust Research, organised by the Federal Agency for Civic Education a few months ago, was dedicated to the topic of "Afterwards" - a term indicating that everything changed in the aftermath of 1945 and continues to be different. A turning point from which on all events are discussed differently, even those supposedly unrelated to the Shoa.
The term "Afterwards" signifies both our connectedness to an event and our separation from it through time. It describes an event which is in the past but is not past, an event that impacts on, and has an effect on, what came before and follows it. An event which impacts on politics and diplomacy, but which also has a highly individual bearing on biographies, everyday worlds and artistic practice. It is these access points which lend such power to Norbert Kron's and Amichai Shalev's anthology "We do not forget, we go dancing" which has just been published by the Fischer Verlag and by the Federal Agency for Civic Education. Because this "Afterwards" is many things, a linguistic chiffre which needs to be decoded again and again in ever new ways.
In my view, dialogue is the best key for "decoding". By the way, this was the very reason why the Federal Agency for Civic Education organised a first study visit to Israel in October 1963 - even before formal diplomatic relations were established between Germany and Israel. This has since grown into 277 study visits with more than 7,500 participants. It is good to see that the visits have attracted increasingly younger participants over the past 10 years. This is our most important asset in the successful continuation of the German-Israeli dialogue.
I am convinced that no news programme, no textbook or conference of historians can replace authentic direct encounters, dialogue and gaining insight into the complex realities of life - including the things that connect us and those that separate us. I am delighted, therefore, that Israelis and Germans have also used this pulsating city - especially Berlin! - as a meeting place to do exactly that. They have come together to jointly explore the significance of the "Afterwards" for Israelis and Germans of the so-called "third generation" – here in Berlin, in Tel Aviv or elsewhere.
Ladies and gentlemen, there is no reason at all to not also dance during this. I'm pleased to be able to welcome such interesting creative artists from Israel, Germany and other countries tonight, and look forward to an inspiring evening with many illuminating insights into your discourse so far. We do not forget, we'll never forget. And we go dancing together.
Thank you very much!
- Es gilt das gesprochene Wort -