Inmitten der Verhandlungen über das umstrittene transatlantische Freihandelsabkommen Interner Link: TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zwischen der Europäischen Union (EU) und den USA fand im Februar 2015 eine Konferenz im EU-Viertel statt, bei der EU-Verhandler/-innen mit Wirtschaftsvertreter/-innen über die Zukunft von TTIP diskutierten. Die anwesenden Lobbyorganisationen hatten bis zu 10.000 Euro dafür bezahlt, ihre Redebeiträge halten zu dürfen. Mit anderen Worten: Sie haben sich mit Geld Gehör bei denjenigen verschafft, die bei TTIP die Richtung vorgeben.
Möglich machte dies 'Forum Europe', eine Agentur, die in Brüssel Veranstaltungen zu verschiedenen europapolitischen Themen organisiert. Finanziert werden die Veranstaltungen von Unternehmen, die zwischen verschiedenen Sponsorenpaketen wählen können. Wer bei der TTIP-Konferenz beispielsweise eine Podiumsdiskussion sponsern wollte, musste 10.000 Euro zahlen – und bekam dafür einen Platz auf dem Podium. Ein Redebeitrag während eines der Arbeitsessen zu Themen wie "TTIP und Chemikalien bzw. Medikamenten" kostete 7.500 Euro. Für 3.000 Euro konnte man eine Erfrischungspause finanzieren – und durfte dafür Werbung in der Kaffeeecke auslegen oder im Konferenzprogramm unterbringen (siehe Seite 4 und 5 im Sponsorenpaket). Die lobbykritische Nichtregierungsorganisation Lobbycontrol spricht von einem "fragwürdigen Geschäftsmodell", durch das sich die Unternehmenslobby Kontakt zu politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern kauft.
Bei dem geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA kämpft nicht nur die Chemikalien- und Medikamentenlobby um ihre Interessen – auch die Belange anderer Industriezweige sowie von Gewerkschaften und Verbraucherschutz- und Umweltorganisationen sind von möglichen TTIP-Vereinbarungen betroffen. Über Jahre hinweg versuchten dessen Protagonisten, die Verhandler/-innen von ihren Standpunkten zu überzeugen. Interessengruppen der Wirtschaft gelingt das manchmal besser und manchmal schlechter. Im Falle von TTIP ist das noch nicht abschließend zu sagen, zum Erscheinungsdatum des Textes liegen die Externer Link: Verhandlungen auf Eis. Dennoch eignet sich der Fall, um deutlich zu machen, wie Unternehmenslobbyismus in Brüssel funktioniert.
Akteure in Brüssel
Brüssel gilt nach Washington als Hauptstadt des Lobbyismus. Laut Schätzungen von Transparency International kämpfen rund um die EU-Institutionen mehr als 37.000 Lobbyist/-innen für ihre Interessen. Auf jeden Abgeordneten des Europaparlaments kommen also rund 50 Lobbyistinnen und Lobbyisten.
Die meisten Lobbyistinnen und Lobbyisten, schätzungsweise 70 Prozent, vertreten Interessen von Unternehmen und Industrie. Sie arbeiten in einem der Büros von transnationalen Konzernen, für einen Unternehmensverband oder für Anwaltskanzleien, PR-Firmen, Thinktanks und Beraterfirmen. 20 Prozent der Lobbyszene setzen sich für die Interessen von Städten, Regionen und Staaten ein. 10 Prozent vertreten Menschen- und Arbeitsrechte, Umweltschutz, humanitäre Hilfe oder globale soziale Gerechtigkeit.
Dabei sind die finanziellen Ressourcen der verschiedenen Interessengruppen sehr unterschiedlich: So hatte der Chemieverband CEFIC laut eigenen Angaben im EU-Lobbyregister im Jahr 2017 ein Gesamtbudget von 41 Millionen Euro für seine Arbeit zur Verfügung. CEFIC hat 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und wird bei seiner Arbeit unterstützt von Chemie-Konzernen wie BASF oder Bayer und von nationalen Chemieverbänden, die in Brüssel eigene Büros unterhalten. Im gleichen Zeitraum hatte die europäische Sektion von Greenpeace, einem der größten Umweltverbände auf EU-Ebene, laut Lobbyregister ein Budget von 1,7 Millionen Euro – und einen einzigen Mitarbeiter von insgesamt 13, der die EU-Chemiepolitik der Organisation betreute.
Enge Kontakte zwischen Kommission und Unternehmen
Die ungleiche Ausstattung mit finanziellen und personellen Ressourcen bedeutet, dass Unternehmens-Lobbygruppen die EU-Institutionen intensiver lobbyieren können als andere Interessengruppen. Bei den TTIP-Verhandlungen war das sehr deutlich. So zeigt ein über eine Informationsfreiheitsanfrage veröffentlichtes internes Dokument der EU-Kommission, dass sich die Behörde zur Vorbereitung der Verhandlungen im Jahr 2012 und Anfang 2013 fast nur mit Unternehmen und ihren Verbänden getroffen hat: 119 Mal haben diese den EU-Verhandler/-innen ihre Anliegen vorgetragen. Telefonate, Vortragseinladungen und informelle Treffen bei einem Kaffee oder zum Mittagessen sind da noch nicht mitgezählt.
Das wichtigste Organ für Lobbyisten: die Kommission
Von den insgesamt knapp 600 TTIP-Lobbygesprächen der Kommission zwischen Januar 2012 und Februar 2014 fanden 88 Prozent mit Konzern-Lobbygruppen statt – und nur 9 Prozent mit Gewerkschaften, Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen. Die restlichen Gespräche wurden mit Universitäten und öffentlichen Institutionen geführt. Das liege unter anderem daran, dass die Beamtinnen und Beamten der Kommission vielfach selbst neoliberale Positionen vertreten würden. Der frühere europäische Handelskommissar Karel de Gucht hat das einmal folgendermaßen auf den Punkt gebracht: "Mein Job ist es, für die europäische Industrie und den Dienstleistungssektor Weltmärkte zu öffnen".
Die EU-Kommission ist für die TTIP-Lobby das wichtigste Organ. Die Europäische Handelspolitik ist vergemeinschaftet, für die EU sitzen allein die Beamtinnen und Beamten der Kommission am Verhandlungstisch. In der TTIP-Hochphase (Juni 2013 bis Oktober 2016) verhandelten sie viermal jährlich für eine Woche mit der US-Gegenseite – mal in Brüssel, mal in Washington. Schätzungsweise 100 Beamte und Beamtinnen sind auf jeder Seite Teil einer solchen Delegation. Etwa 30 von ihnen sind höhere Beamte und auf EU-Seite besonders wichtig, da sie die einzelnen Verhandlungsbereiche koordinieren, also beispielsweise das Kosmetik-Kapitel im TTIP oder die Regeln zur Liberalisierung von Finanzdienstleistungen.
In den Worten des Recherchenetzwerks Correctiv: "Die Musik bei TTIP spielt in Brüssel. Wer das Abkommen beeinflussen will, wendet sich am besten direkt an die Verhandler/-innen der EU-Kommission. Das politische Berlin wäre ein Umweg. Die Bundesregierung kann die Verhandlungen zwar beeinflussen – aber nicht direkt. Sie sitzt quasi in der zweiten Reihe. Und in jener Reihe sitzen außerdem die Regierungen von 27 weiteren Ländern. Da wird man schnell überhört." Das Europaparlament kommt erst nach Abschluss der Verhandlungen zum Zuge, wenn es über ein fertig verhandeltes Abkommen abstimmen muss. Ihm bleibt dabei nur ein "ja" oder "nein" zum gesamten Vertrag. Allerdings kann das Parlament seine Position schon vorher deutlich machen – und die Kommission drängen, diese Position zu berücksichtigen, wenn sie später keine Ablehnung riskieren möchte.
Die TTIP-Lobby
Angeführt wird die TTIP-Lobby von großen europäischen und US-amerikanischen Unternehmens-Dachverbänden. Der europäische Arbeitgeberverband BusinessEurope traf sich am häufigsten mit der EU-Kommission, um über TTIP zu sprechen. Darauf folgen der Transatlantic Business Council (eine Lobbygruppe von über 40 Konzernen aus Europa und den USA, darunter Siemens, Intel, Audi und Exxon), der Verband der Autoindustrie ACEA (mit Mitgliedern wie BMW, VW und Ford), die Chemie-Lobby CEFIC (mit Mitgliedern wie Bayer, BASF und Dow), das European Services Forum (eine Lobby-Gruppe für Dienstleistungsunternehmen wie die Deutsche Bank und Deutsche Telekom), der Verband der Pharmaindustrie EFPIA (mit Mitgliedern wie Pfizer und Novartis) und die Lebensmittel-Lobby FoodDrinkEurope (mit Mitgliedern wie Coca Cola, Danone und Nestlé). Zum Vergleich: während sich die TTIP-Verhandler-/ innen zwischen Januar 2012 und Februar 2014 kein einziges Mal mit dem europäischen Verband der kleinen und mittelständigen Unternehmen UEAPME trafen, gab es mit BusinessEurope ganze 15 Treffen hinter verschlossenen Türen, 19 mit dem Transatlantic Business Council 19, 12 mit ACEA usw.
Die Lobbygruppen der Großkonzerne haben in der Vergangenheit mehrfach gegen EU-Initiativen mobilisiert, die mehr Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitnehmer-Schutz bedeutet hätten. So lobbyierte BusinessEurope gegen Gesetzesvorschläge zu einer Frauenquote in Aufsichtsräten, zur Verlängerung des Mutterschutzes und zur Reduktion von Luftverschmutzung. FoodDrinkEurope investierte eine Milliarde in eine Kampagne zur Verhinderung der so genannten Lebensmittelampel, einer verbraucherfreundlichen Kennzeichnung von Lebensmitteln. CEFIC war eine der treibenden Kräfte in einer Kampagne zur Verzögerung von Initiativen, die darauf abzielten, negative Auswirkungen hormonell wirksamer Chemikalien auf Mensch und Umwelt zu verhindern.
Bevorzugter Zugang für die Wirtschaftslobby
Interne Dokumente, die die EU-Kommission im Rahmen von Informationsfreiheitsanfragen veröffentlichen musste, zeigen, dass die Behörde Unternehmens-Lobbygruppen immer wieder aktiv aufforderte, sich in die TTIP-Verhandlungen einzubringen – was sie bei anderen Interessengruppen nicht tat. "Die EU-Kommission fordert die Wirtschaft auf, an den Positionen mitzuschreiben. Kritiker können nur reagieren", urteilte das Recherchenetzwerk Correctiv, das die TTIP-Verhandlungen mehrere Jahre begleitet und zahlreiche interne Verhandlungsdokumente veröffentlicht hat.
In einer E-Mail forderte eine Kommissionsbeamtin beispielsweise den Lobbyverband der Pestizid-Industrie ECPA acht Monate vor Beginn der offiziellen Verhandlungen auf, "innovative Ideen" für TTIP zu entwickeln, "um Kosten und Belastungen für Unternehmen infolge (bestehender und zukünftiger) unterschiedlicher Regeln und Regulierungen auf beiden Seiten des Atlantik zu minimieren". Und weiter: "Eine substantielle Beteiligung von Ihrer Seite, idealerweise gemeinsam mit ihrer US Partnerorganisation, wäre daher wichtig, um die Möglichkeiten für mehr Kooperation und Kompatibilität der Regeln auszuloten." Umwelt- und Gesundheitsorganisationen wie der Bund für Umwelt und Naturschutz befürchten, dass diese Kompatibilität zu einer Absenkung von Standards für Chemikalien führen könnte. So sind in den USA gerade einmal acht chemische Stoffe in Kosmetika verboten – in der EU sind es 1349.
Verhandlungspositionen ähneln Lobbypapieren
Ein weiteres Beispiel für die enge Zusammenarbeit zwischen der Kommission und der Unternehmenslobby veröffentlichte die New York Times. Der europäische Arbeitgeberverband BusinessEurope und sein Pendant in den USA, die US Chamber of Commerce, hatten der Kommission folgenden Vorschlag unterbreitet: Im TTIP sollte ein Verfahren festgelegt werden, nach dem Gesetze in Zukunft von Unternehmen mitverfasst würden. Wörtlich heißt es im Papier der Lobbygruppen: "Interessengruppen würden mit Regulierern zusammen an einem Tisch sitzen, um gemeinsam Gesetze zu schreiben." Ein "game changer" (in etwa: Spielregel-Veränderer), der die Art und Weise, wie in Zukunft dies- und jenseits des Atlantiks Gesetze entworfen werden, dramatisch in ihrem Interesse verändern würde, fanden die beiden Lobbygruppen. Die Kommission analysierte den Vorschlag in einem mehrseitigen Papier, diskutierte ihn ausführlich mit den Verbänden und machte sich schließlich wesentliche Bestandteile wie die frühzeitige Involvierung von Lobbygruppen und der US-Regierung in zukünftige EU-Gesetzgebungsprozesse für ihren TTIP-Verhandlungsvorschlag zu eigen. (Siehe dazu auch den Correctiv-Artikel "Industrie sichert sich TTIP-Einfluss").
Auch in anderen TTIP-Bereichen ähnelten sich die offiziellen EU-Verhandlungspositionen und die Wünsche von Unternehmens-Lobbygruppen. Als 2014 der EU-Vorschlag zur regulatorischen Kooperation im Finanzsektor durchsickerte, bemerkte ein Lobbyist des Verbands der Londoner Finanzindustrie, TheCityUK, die Position könne nahezu vollständig aus ihrer TTIP-Broschüre stammen. Und den EU-Vorschlag für das Chemie-Kapitel im TTIP aus dem Jahr 2015 kommentierte Reinhard Quick vom deutschen Chemieverband VCI so: "Die EU hat unseren Vorschlag in weiten Teilen übernommen."
"Mitgestaltung: Je früher, desto besser"
Eineinhalb Jahre zuvor hatten der europäische Chemieverband CEFIC und sein US-amerikanisches Pendant, der American Chemistry Council (ACC), einen gemeinsamen Vorschlag an die TTIP-Verwandler/-innen geschickt. Es handelte sich dabei nicht um ein Positionspapier, sondern um den Entwurf eines spezifischen TTIP-Kapitels dazu, wie Standards im Chemiebereich künftig auf beiden Seiten des Atlantiks miteinander abgestimmt werden könnten. Die abstrakten Begrifflichkeiten und der juristische Charakter des Papiers zeigen, wie technisch Lobbyismus in Brüssel bisweilen ist – und wie schwierig es selbst für Expertinnen und Experten, geschweige denn die breite Öffentlichkeit ist, mitreden zu können und Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Das Papier ist noch aus einem anderen Grund aufschlussreich: Es stammt aus einer Zeit, in der die EU-Kommission selbst noch keinen eigenen Vorschlag für das TTIP-Chemiekapitel vorgelegt hatte, und zeigt somit die Relevanz von möglichst frühem Lobbyismus. "Mitgestaltung: Je früher, desto besser", fasste der deutsche Chemieriese BASF dieses Credo einmal in einer Präsentation zu seiner Lobbytätigkeit in Brüssel zusammen.
Aus welchen Ländern kommt die TTIP-Lobby?
Die Chemielobby hat bei den TTIP-Verhandlungen transatlantisch agiert. Auch die Autoindustrie, der Pharmasektor und viele andere Branchen haben TTIP-Positionen entwickelt, die von europäischen und amerikanischen Verbänden gleichermaßen getragen wurden. In den Verbänden sind im Wesentlichen die gleichen Unternehmen und damit die gleichen Interessen organisiert. So sind deutsche Unternehmen wie BASF, Bayer und Merck nicht nur Mitglied im europäischen Verband der Chemie-Lobby, CEFIC, sondern auch im US-amerikanischen Pendant, dem American Chemistry Council. Auch die Anti-TTIP-Lobby hat ihre Arbeit transatlantisch abgestimmt und ihre Kritik beispielsweise in offenen Briefen formuliert, die von Gewerkschaften, Verbraucher- und Umweltorganisationen aus den USA und der EU gleichermaßen unterzeichnet wurden.
Andere haben dagegen auffällig wenig für TTIP lobbyiert. So gab es zwischen Januar 2012 und Februar 2014 keinen einzigen Kontakt zwischen der federführenden Generaldirektion Handel der EU-Kommission und Lobbygruppen aus Griechenland, Zypern, Malta, Portugal, Polen, Bulgarien, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Estland, Litauen und Lettland. Die Interessen von Unternehmen aus diesen Ländern werden zwar auch von Dachverbänden wie BusinessEurope vertreten – einige haben auch Büros in Brüssel. Aber dass sie sich nicht explizit für TTIP engagiert haben, passt zu Studien, die andeuten, dass TTIP den ökonomisch schwächeren Ländern in der EU eher schaden denn nutzen würde. Unternehmen aus den USA, Großbritannien und Deutschland haben sich dagegen stark für TTIP eingesetzt. Mit deutschen Lobbygruppen haben sich die TTIP-Verhandler/-innen so häufig getroffen, wie mit denjenigen aus allen anderen EU-Ländern zusammen.
Kanzleien und andere Dienstleister
In ihrer Lobbyarbeit werden Industrieverbände und einzelne Unternehmen von einer Reihe weiterer Akteure unterstützt; so etwa von Anwaltskanzleien. Ein Anwalt der Kanzlei K&L Gates bezeichnete TTIP zu Beginn der Verhandlungen gegenüber der Zeitschrift The Hill als die "ultimative Lobbyherausforderung", die zeitgleiche Kampagnen auf beiden Seiten des Atlantiks erfordere. Der Großteil der EU-Lobbytätigkeit von Kanzleien findet im Verborgenen statt. Hugo Paemen, früher EU-Botschafter in den USA und jetzt Lobbyist für die Kanzlei Hogan Lovells beschrieb das gegenüber der New York Times einmal so: "Ich suche nicht gerade nach Sichtbarkeit. Die wirklich wichtige Arbeit passiert am Telefon, während eines Mittagessens oder bei einem Kaffee."
Ähnliche Arbeit machen professionelle Beratungs- bzw. Lobbyagenturen – von der Erstellung von Studien über die Organisation von Veranstaltungen bis zum Einfädeln von Treffen mit wichtigen Entscheiderinnen und Entscheidern. Eine dieser Firmen, Alber & Geiger, warb zu Beginn der TTIP-Verhandlungen bei US-amerikanischen Agrarkonzernen für ihr "direktes, hard core Lobbying" in der EU. TTIP, so Alber & Geiger, sei die ultimative Chance, um den europäischen Widerstand gegen Gentechnik zu überwinden und den europäischen Markt für genveränderte US-Produkte zu öffnen.
"Front Groups" richten Kampagnen aus
Eine typische Dienstleistung, die professionelle Lobby-Agenturen ihren Kunden anbieten, ist die Einrichtung so genannter "Front Groups". Diese Organisationen schmücken sich oft mit Namen, die nach Wissenschaft oder sozialem Engagement klingen, aber letztendlich nichts anderes als Lobby-Vehikel für Unternehme sind. Mit ihrer Hilfe versuchen einige Konzerne, ihre Partikularinteressen als gesamtgesellschaftliche Anliegen darzustellen und so die Akzeptanz für umstrittene Projekte zu erhöhen.
Ein Beispiel für eine TTIP-"Front Group" ist die Alliance for Responsible Commerce, kurz ARC. ARC wurde vom schwedischen Arbeitgeberverband initiiert, der u.a. Unternehmen wie H&M oder IKEA vertritt. Die Allianz versuchte TTIP als verantwortungsvolles Projekt darzustellen, und zwar vor allem über eine Kampagne in den sozialen Netzwerken. So finden sich auf ARCs Webseite, Facebook und Twitter-Account Beiträge dazu, wie kleine und mittelständige Unternehmen von TTIP profitieren können, wie die umstrittenen TTIP-Konzernklagerechte dem Klimaschutz dienen, usw. Organisiert wurde die Kampagne von Kreab, einer der größten PR-Firmen in Brüssel.
Auch Thinktanks leisten solche Überzeugungsarbeit. Sieben von ihnen waren laut einer Recherche investigativer Journalistinnen und Journalisten besonders aktiv zu TTIP. Sie haben hunderte TTIP-Veranstaltungen organisiert und Studien veröffentlicht und sich dabei als "neutraler" Akteur präsentiert, dem allein an einer gut informierten Debatte zum Thema gelegen ist. Dabei zeigen die Recherche-Ergebnisse: Die Arbeit der Thinktanks wurde von über 300 Unternehmen und Verbänden finanziert, darunter über 100, die selbst aktiv für TTIP lobbyiert haben. Als Gegenleistung bekommen letztere "scheinbar wissenschaftliche Analysen" voller "Informationen und Statistiken im Gewand der Objektivität". Diese Analysen, so befanden die Journalisten und Journalistinnen, beleuchten allerdings eher einseitig den Nutzen von TTIP. Vor allem in der Kommission und im EU-Parlament waren sie dennoch "sehr einflussreich", so Ferdi de Ville, Professor für EU-Studien an der Universität Ghent.
Drehtürkarrieren
Die TTIP-Lobby kann sich bei ihrer Arbeit auf eine politische Kultur stützen, die von einer zunehmenden Symbiose zwischen politischen und wirtschaftlichen Schlüsselfiguren in Brüssel gekennzeichnet ist. Ein solches Zusammenrücken unterstreicht der rege personelle Austausch zwischen der Lobbyindustrie und den EU-Institutionen, durch den sich die Industrie Insiderwissen und ein Netzwerk an Kontakten ins politische System kauft. Laut Transparency International sind mehr als die Hälfte aller ehemaligen EU-Kommissarinnen und -Kommissare sowie 30 Prozent aller ehemaligen Europaabgeordneten heute in der Lobbyindustrie tätig. Sie sind also von der Politik wie durch eine Drehtür in die Wirtschaft gewechselt.
Ein Beispiel für eine sogenannte Drehtürkarriere ist der bereits erwähnte Hugo Paemen – früher Leiter der EU-Vertretung in den USA und jetzt Lobbyist für die Kanzlei Hogan Lovells. Weitere prominente Seitenwechsler sind der frühere Handelskommissar Karel de Gucht , der heute in einer Reihe von Aufsichtsräten sitzt, sein damaliger Sprecher John Clancy (inzwischen bei der Lobbyfirma FTI Consulting https://corporateeurope.org/revolving-doors/2015/07/revolving-door-greasing-wheels-ttip-lobby) und die ehemalige FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin (heute u.a. politische Beraterin der PR-Agentur plus Europe).
Mangelnde Transparenz
Öffentlich gemacht wurden diese Seitenwechsel und andere Lobby-Geschichten rund um TTIP von Medien und Nichtregierungsorganisationen. Die EU-Kommission hält sich dagegen zurück, öffentlich zu dokumentieren, wer bei den TTIP-Verhandlungen mit welcher Agenda, welchen Ressourcen und mit welchem Erfolg versucht hat zu beeinflussen. Listen von Lobbytreffen und Lobby-Papiere an die EU-Kommission werden nicht aus eigener Initiative veröffentlicht, wie es beispielsweise die europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reily angeregt hat. Antworten auf Informationsfreiheitsanfragen wie zur TTIP-Lobbyliste ziehen sich über Monate oder Jahre hin. Und am Ende werden die wesentlichen Informationen in den Dokumenten oft zensiert – wie im Falle eines 14-seitigen Lobbybriefs des Tabakkonzerns British American Tobacco zu TTIP und anderen EU-Handelsabkommen, der bis auf wenige Zeilen komplett geschwärzt wurde.
Die Gegenlobby
Vom Fokus auf die Handlungsspielräume der EU-Kommission über die möglichst frühen Versuche der Einflussnahme bis hin zur Dominanz von Unternehmensinteressen gegenüber Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen: Diese Aspekte des TTIP-Lobbyismus sind in Brüssel an der Tagesordnung. Besonders die Undurchsichtigkeit der versuchten Einflussnahme und der privilegierte Zugang, den die EU-Institutionen den Unternehmenslobbies im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Akteuren oft gewähren, sind immer wieder von zivilgesellschaftlichen Organisationen, aber auch der Europäischen Bürgerbeauftragten angemahnt worden. Bisher ohne nennenswerten Erfolg.
Die Bewegung gegen TTIP
Kein Projekt der EU hat je so viele Menschen mobilisiert wie TTIP. Der Widerstand gegen das Abkommen kam aus breiten Teilen der Gesellschaft und war europäisch:
Ungewöhnlich war bei der Auseinandersetzung um TTIP dagegen die intensive öffentliche Debatte um das Abkommen, an der sich auch die Zivilgesellschaft stark beteiligt hat. Europaweit wurde TTIP in Medien, Parlamenten und öffentlichen Veranstaltungen kontrovers diskutiert – unter reger Beteiligung von Unternehmen, aber auch von Umwelt- und Verbraucherorganisationen, Kirchen und Gewerkschaften sowie Wissenschaftler/-innen. Das Demokratiedefizit der EU-Handelspolitik – die im Wesentlichen von nicht-gewählten Beamt/-innen sowie der Lobbyindustrie bestimmt worden war – stand dabei immer wieder im Zentrum der Kritik. So hat die Online-Kampagnen-Organisation SumOfUs "Geheimniskrämerei" angekreidet, mit der sich gewählte Abgeordnete bei den TTIP-Verhandlungen konfrontiert sahen. Und Aktivisten haben in lobbykritischen Stadtführungen durch Brüssel und Berlin den "inakzeptablen Einfluss" von Lobbygruppen auf die TTIP-Position der EU angeprangert. Diese intensive gesellschaftliche und öffentliche Auseinandersetzung um die Gestaltung und die Stoßrichtung der europäischen Handelspolitik ist ein bedeutendes demokratisches Erbe von TTIP. Und möglicherweise ein Schritt in Richtung mehr Demokratie in der EU.