Das heutige Europaparlament (EP) geht auf die Gemeinsame Versammlung der mit Unterzeichnung des Vertrags von Paris im April 1951 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zurück. Im Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 wurde die Versammlung damit beauftragt, "Entwürfe für allgemeine unmittelbare Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten" auszuarbeiten. Diesem Auftrag kam das EP jedoch aus verschiedenen Gründen nicht nach.
Erst 20 Jahre später nahm sich der Rat der Materie an und erließ im September 1976 den Rechtsakt über die Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen zum EP. Des Weiteren wurden eine Mandatsdauer von fünf Jahren, das freie Mandat sowie die Vereinbarkeit von europäischem Mandat und nationalem Mandat beschlossen. Letzteres bedeutete, dass die Abgeordneten zugleich Mitglied des Europaparlaments als auch eines nationalen Parlaments sein konnten. Die Einführung eines einheitlichen Wahlverfahrens (sprich Wahlsystems), die vertragsgemäß zugleich mit der ersten Direktwahl des Europaparlaments 1979 erfolgen sollte, wurde auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
Bis dahin sollte in jedem Mitgliedsstaat nach den jeweiligen innerstaatlichen Vorschriften gewählt werden. Daran hat sich im Grunde bis heute nicht viel geändert. Während im Bereich des aktiven und passiven Wahlrechts in den verschiedenen Ländern größtenteils internationale Standards herrschen und folglich die Regelungen auch für die Wahl des EP relativ homogen sind, klaffen sie in Teilen des Wahlsystems unverändert auseinander.
Einheitliche Rechtsgrundlagen
Gemeinschaftlich wurde durch den 1997 unterzeichneten Amsterdamer Vertrag allen Unionsbürgerinnen das Wahlrecht zum EP in den Ländern zuteil, in denen sie ansässig sind. Der Lissaboner Vertrag von 2007 begreift das EP nicht mehr wie im Gründungsvertrag als eine Versammlung der Völker der Mitgliedsstaaten, sondern als Versammlung der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Es soll von diesen in allgemeinen, freien, direkten und geheimen Wahlen gewählt werden.
Gleiche Wahlen gelten angesichts der großen Bevölkerungsunterschiede zwischen den einzelnen Ländern nicht als Ziel. Das wird vielfach als demokratisches Defizit kritisiert. Jedes Land entsendet zumindest sechs Abgeordnete. Da die Zahl der Mitglieder des EU-Parlaments mit 751 Abgeordneten (laut Vertrag von Lissabon) eine sinnvolle Obergrenze findet, bleibt das Mandatskontingent der großen Länder zahlenmäßig begrenzt. Die als "degressive Proportionalität" bezeichnete ungleiche Vertretung der Länder ist aber unausweichlich, solange die Nation als Identifikationskern und Bezugsgröße nicht von Europa bzw. der Europäischen Union abgelöst wird.
Rechtsgrundlagen und Vereinheitlichungsversuche des Wahlsystems
Es gab viele Versuche, das Wahlsystem zum EP entsprechend den vertraglichen Verpflichtungen zu vereinheitlichen. Sie konnten im Grunde nur begrenzt erfolgreich sein, wenn mit dem immer wieder erklärten Willen zur Einheitlichkeit zugleich die Forderung einherging, das Wahlsystem müsse an Modelle anknüpfen, die den Bürgern vertraut seien.
Da die nationalen Wahlsysteme verschieden sind, lassen sich beide Forderungen in keiner institutionellen Form unterbringen. Vereinheitlichung hätte bedeutet, von traditionellen nationalen Wahlsystemen abzurücken. Nur allmählich setzte sich ein pragmatischer Ansatz durch. Dabei wurde bereits Anfang der 1980er-Jahre die Verhältniswahl in Wahlkreisen unterschiedlicher Größe und Vergabe der Mandate nach der Methode d´Hondt als einheitliches Wahlsystem vorgeschlagen (der so genannte Seitlinger Entwurf). Alle weiteren technischen Regelungen sollten den Ausführungsbestimmungen der einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen bleiben.
Erst im Amsterdamer Vertrag, der 1999 in Kraft trat, gelang die Öffnung der vertraglichen Verpflichtungen zugunsten eines "Verfahrens im Einklang mit den allen Ländern gemeinsamen Grundsätzen", ergänzt durch den Beschluss des Rats von Juni und September 2002, der "Verhältniswahl nach nationalen Wahlgesetzen" beinhaltete. Die Betonung lag damit auf der Einheitlichkeit im Grundsätzlichen und der Verschiedenheit im Spezifischen. Durch Anpassung der gemeinschaftlichen Rechtsgrundlagen wurde somit der erreichte Grad der Vereinheitlichung vertragskonform.
Einheitlichkeit und Verschiedenheit des Wahlsystems
Die Vorschläge zur Reform des EP-Wahlsystems waren fast alle auf Verhältniswahl hin orientiert. Die Einheitlichkeit im proportionalen Repräsentationsprinzip ist bisher am weitesten vorangeschritten. In der Tat gingen damals die Länder, die national weiterhin nach Mehrheitswahl wählten (Frankreich und Großbritannien), für die Wahlen zum EP zur Verhältniswahl über. Auch in den verschiedenen Beitrittsländern wurde überall unabhängig von den jeweils nationalen Wahlsystemen Verhältniswahl eingeführt.
Eine gewisse Vereinheitlichung fand auch im Typ der Verhältniswahl statt. Es überwiegt Verhältniswahl, die den Proporz einschränkt - entweder durch die Wahl in Wahlkreisen, deren Größe keine exakte Verhältnismäßigkeit von Stimmen und Mandaten zulässt, oder durch die Einführung einer gesetzlichen Sperrklausel. Nach der Reform von Juli 2018 soll ab den Wahlen von 2024 in allen Ländern eine Sperrklausel zwischen 2 und 5% gelten.
Gleichwohl soll die politische Vertretung der Einzelstaaten im EP in etwa die parteipolitischen Präferenzen der Wählerschaft widerspiegeln. Das hat seinen größten Vorteil darin, dass in den Fraktionen des Europaparlaments die nationalen Vertreter der jeweiligen politischen Strömungen entsprechend den auf sie proportional entfallenen Wählerstimmen präsent sind. Damit leistet das Wahlsystem einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung europäischer politischer Parteien und der sich in ihnen vollziehenden gemeinschaftlichen Willensbildung.
Andere Elemente des Wahlsystems zum EP sind verschieden, so dass man meinen könnte, das EP werde nach unterschiedlichen Wahlsystemen gewählt. Der erreichte Stand der Vereinheitlichung lässt jedoch zu, von einem Wahlsystem zu sprechen, von polymorpher Verhältniswahl, deren wichtigsten Merkmale einheitlich, andere national unterschiedlich gestaltet sind.
Bewertung der polymorphen Verhältniswahl
Für das europäische Wahlsystem kann gelten: So viel Einheitlichkeit wie möglich, so viel Unterschiedlichkeit wie nötig. Die Unterschiede ergeben sich aus der Anerkennung, die den spezifischen Strukturen und Traditionen der Mitgliedsländer der EU gezollt wird. Man sollte deshalb im polymorphen Wahlsystem zum EP kein demokratisches Defizit mehr sehen, sondern eine Ressource.
Unter diesen Leitgesichtspunkten ist positiv, dass unterschiedliche Traditionen politischer Repräsentation in den europäischen Ländern im europäischen Integrationsprozess nicht von oben unterbrochen, sondern für den Fortbestand eines pluralen Europas genutzt werden. Zudem wird berücksichtigt, dass die gesellschaftlichen und politischen Strukturen der europäischen Länder nicht unbedingt für vereinheitlichte institutionelle Strukturen empfänglich sind, die man ihnen aufpfropft. Des Weiteren ergeben sich für die Bewertung des EP-Wahlsystems zwei Perspektiven: die top-down Perspektive des Gesamtbetrachters und die subjektive, bottom-up Perspektive der Wählerinnen und Wähler. Der Gesamtbetrachter ist mit der fast unübersichtlichen Vielfalt der Verhältniswahl in den einzelnen Ländern konfrontiert. Er wird deshalb dazu neigen, die Uneinheitlichkeit und die Komplexität des Wahlverfahrens zu betonen.
Die Wählerinnen und Wähler in den einzelnen Ländern haben es jeweils nur mit dem Wahlsystem zu tun, das für die Wahl der EP-Mitglieder aus ihrem Land gilt und das sie leicht zu handhaben verstehen, weil sie es von den nationalen Wahlen her kennen, minimal invasive Veränderungen eingeschlossen. Im Übrigen zielen die meisten Änderungen der Regelungen in den einzelnen Ländern, die gegenüber den Wahlsystemen der jeweiligen nationalen Parlamente vorgenommen werden, auf Vereinfachung, wie beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland (statt personalisierter Verhältniswahl einfache Verhältniswahl), in Spanien und Portugal (jeweils statt Verhältniswahl in Wahlkreisen Verhältniswahl in einem landesweiten Wahlkreis).
Komplizierter wurden die Wahlsysteme dort, wo den Wählerinnen und Wählern die Freiheit eingeräumt wurde, nicht nur zwischen Parteien, sondern auch zwischen Kandidatinnen und Kandidaten zu entscheiden. Lose gebundene Listen ermöglichen hier, deren Reihenfolge auf den Parteilisten zu beeinflussen, freie Listen gestatten, eigene Listen aus allen Bewerberinnen und Bewerbern zusammenzustellen. Die Wahl zum EP wurde so auch zum Experimentierfeld für mehr Partizipation oder (wie in Großbritannien) für Wahlreformen in den Mitgliedsländern (zu den Regionalparlamenten in Schottland und Wales wurde die personalisierte Verhältniswahl eingeführt), was ihren Stellenwert im nationalen Kontext erhöhte. Insgesamt bestätigt sich, dass die verbliebene Verschiedenheit in der Gestaltung der Verhältniswahl kein Defizit, sondern eine Ressource im Verschiedenheit anerkennenden und nutzenden europäischen Integrationsprozess ist.
Literatur
Christoph Lenz: Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, Baden-Baden 1995.
Dieter Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Überarbeitete und aktualisierte Auflage, Opladen & Toronto, 2014.