Historiker_innen zufolge wies Köln im Mittelalter die gleiche Rate an Gewalt auf wie die New Yorker South Bronx Ende der 1980er Jahre. Galt Köln jedoch als Ort des Friedens, so war die Bronx der Inbegriff des gefährlichen Underclass-Ghettos. Erklären lässt sich diese vermeintliche Paradoxie zum einen durch den Vergleichsmaßstab: Im Mittelalter waren die befestigten Städte im Vergleich zum Land, auf dem neben marodierenden Raubrittern gar der Teufel vermutet wurde, sicherere Orte. Zum anderen durch eine zunehmende Sensibilität: Der von dem Soziologen Norbert Elias beschriebene „Prozeß der Zivilisation“
Die anonyme Großstadt
Die objektivierbaren Merkmale, anhand derer Großstädte definiert werden – Größe, Dichte, Heterogenität, Arbeitsteilung –, deuten bereits ein grundlegendes Dilemma und eine Ambivalenz an. Großstädte sind sowohl durch strukturell bedingte Fremdheit und Anonymität als auch durch ein enormes Maß an wechselseitiger Abhängigkeit einander fremder Menschen gekennzeichnet. Die Stadt ist dadurch ein Ort der Produktivität, der Innovation, der Chance auf sozialen Fortschritt und der Befreiung der Individuen von den engen Zwängen dörflicher Gemeinschaften. Sie schafft die Freiheit zur Abweichung von einem Handeln- und „Denken-wie-üblich“
Die Konfrontation mit sozial ungleichen und kulturell unterschiedlichen Menschen bedeutet aber auch eine permanente Krise. Fremdheit und Anonymität verunsichern: Der Fremde als Prototyp des Großstädters, weil er durch seine Position als außenstehender Beobachter die scheinbar selbstverständlichen Zivilisationsmuster hinterfragt und die Konfrontation mit anderen symbolischen Welten grundsätzliche Verunsicherungen mit sich bringt; die Anonymität, weil sie nicht nur eine negative Voraussetzung für Individualisierung ist, sondern auch mit Vereinzelung und einem Kontrolldefizit assoziiert wird. Die Ausdifferenzierung sozialer Milieus, Migration und Individualisierung überhöhen nun sowohl die produktiven und reizvollen als auch die verunsichernden Elemente von Großstädten.
QuellentextAmbivalenz und großstädtische Fremdheit
Die Stadt ist der Ort von Lust und Gefahr, von Chance und Bedrohung. Sie zieht an und stößt ab und kann das eine nicht ohne das andere.
Quelle: Zygmunt Bauman 1997
Kontrolle in der Großstadt bedeutet damit in erster Linie Selbstkontrolle. Sie zeichnet sich in einem wechselseitig distanzierten Umgang mit Fremden aus: „Der urbane Mensch setzt in jedem Falle voraus, dass der andere – mag dessen Verhalten noch so sonderbar sein – eine Individualität ist, von der her sein Verhalten sinnvoll sein kann. (...) Das Verhalten ist geprägt durch resignierende Humanität, die die Individualität des anderen auch dann respektiert, wenn keine Hoffnung besteht, sie zu verstehen.“
Voraussetzung für die auf Differenz beruhende Kultur der Stadt und damit ihr freiheitliches, produktives und emanzipatorisches Potential ist eine prekäre Balance sozialer Kontrolle: Kontrolle tritt nur dann in Erscheinung, wenn die Individualität des einen die des anderen einzuschränken droht.
Bedrohte Urbanität
Diese Balance wird derzeit von zwei Seiten als gefährdet angesehen: Durch zunehmende Kriminalität, Anschläge und eine Informalisierung von Verhaltensstandards einerseits sowie durch neue Formen der Überwachung, die disziplinierende und räumlich exkludierende Effekte zeitigen sollen, andererseits.
Neue Formen von Kontrolle werden mit vermeintlich vermehrten oder neuen Bedrohungen begründet. Straßenkriminalität und Bombenanschläge in Städten sind solche Bedrohungen, die sich eignen, aus politischem Kalkül (Wahlkämpfe), aus ökonomischen Überlegungen (Sicherheit als Wachstumsmarkt und Sicherheitsgefühle als Standortfaktor) oder aus arbeitsmarktpolitischen Erwägungen (Arbeitsplätze bei Polizei, Sicherheitsgewerbe etc.) instrumentalisiert zu werden. Betrachtet man jedoch die in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Häufigkeitsziffern, so zeigt sich, dass die registrierte Straßenkriminalität zwischen 1994 und 2014 nahezu kontinuierlich abgenommen hat: von 2.744 Fällen pro 100.000 Einwohner_innen auf 1.663. Die Anzahl der Fälle vollendeter Morde und Totschlagsdelikte verringerte sich in Deutschland im selben Zeitraum in absoluten Zahlen sogar um mehr als die Hälfte: von 1.480 auf 642.
Zu bedenken ist zudem, dass die besonders beunruhigenden Handlungen, sexualisierte Gewalt sowie Tötungsdelikte, Delikte sind, die ganz überwiegend im privaten Nahbereich stattfinden – Opfer und Täter kennen sich meist. Es sind also Bedrohungen, die gerade nicht mit der Anonymität der Großstadt in Zusammenhang stehen. Der Fremde im öffentlichen Raum als sozialer Typus ist verunsichernd, aber relativ selten Quelle von Gefahren für Leib und Leben.
Soziales Handeln erhält zudem seine Qualität erst durch intersubjektiv hergestellte Bedeutungen. Kriminalität ist nichts Dingliches; eine Handlung wird erst dazu, indem sie von Instanzen soziale Kontrolle (Polizei bzw. letztendlich Gerichte) so bezeichnet wird. Die Thematisierung von Kriminalität in Großstädten ist mithin Ausdruck der erwähnten Sensibilisierung und davon, dass rigidere Ordnungsvorstellungen aus kriminal- und stadtpolitischen sowie ökonomischen Erwägungen wieder an Gewicht gewinnen. Auch alltagsprachlich werden mehr Handlungen als Kriminalität oder zumindest als vermeintliche Vorstufe dazu bezeichnet. Dies zeigt sich bei so genannten „social and physical disorder“, unter die etwa Graffiti, Müll auf der Straße, öffentliches Urinieren oder auch Betteln, das noch in den 1970er Jahren explizit als „gemeinverträglich“ aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde, subsumiert werden. Mit der „Broken Windows Theorie“
Nicht zuletzt der Kriminologe Sampson verweist jedoch darauf, dass Zusammenhänge zwischen Unordnung und Kriminalität größtenteils Scheinkorrelationen sind, und daran anknüpfende Kriminalpolitiken gerade in so genannten Brennpunkten kontraproduktiv erscheinen
Mit neuen kommunalen Sicherheits- und Ordnungsgesetzen wird aber der definitorische Übergang fließend: „Any activity or behaviour containing an element of the unknown, a dimension of uncertainty, can be translated as being anti-social“
Vier Dimensionen sozialer Kontrolle
Damit ist die erste Dimension neuer Formen sozialer Kontrolle in Städten angesprochen: eine zunehmende Verrechtlichung von urbanen Verhaltensweisen und Räumen – denn viele Bestimmungen gelten lediglich an bestimmten Orten: Fußgängerzonen, Parks, ...
Unmittelbar im Zusammenhang damit stehen Neuerungen auf der organisatorischen Ebene (zweite Dimension). Hierzu gehört der vermehrte Einsatz kommerzieller Sicherheitsdienste. Bewachten sie früher als Werkschutz die privaten Areale der Industriebetriebe, so schützen sie heute die Partikularnormen der Eigentümer_innen de jure privater, aber überwiegend allgemein zugänglicher Räume der Dienstleistungsstadt: Einkaufszentren, Bahnhöfe, Passagen etc. Zunehmend sind sie aber auch im eigentumsrechtlich öffentlichen Raum und im Auftrag der Kommunen oder von Nachbarschaftsorganisationen tätig. Gerade letzteres deutet darauf hin, dass Sicherheit zu einer Dimension sozialer Ungleichheit in Städten wird: Sie wird zu einem Gut für diejenigen, die es sich leisten können.
Des Weiteren verfügt auch die Polizei über neue Handlungsspielräume. Sie vermag Platzverweise und teilweise Monate andauernde Aufenthaltsverbote auszusprechen sowie an von ihr selbst definierten „gefährlichen Orten“ verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen. Sie setzt somit die für Rechtsstaaten konstitutive Unschuldsvermutung lokal außer Kraft. Gleichermaßen räumlich ausgerichtet sind jüngere Konzepte polizeilichen Handelns, die mit unterschiedlichen Ausprägungen sowohl in den Quartieren unterer sozialer Schichten wie in den Quartieren der Besserverdienenden praktiziert werden. Gelten erstere entgegen empirisch und theoretisch begründeten Zweifeln als Orte, an denen Kriminalität entsteht, geht es bei letzteren um die Abgrenzung nach Außen: Die Strategie der Null-Toleranz, bereits gegen die erwähnten Formen von „disorder“ offensiv vorzugehen, widerspricht bereits in ihrer Begrifflichkeit Vorstellungen von Urbanität.
In Verbindung mit „racial profiling“ – als einer nach Hautfarbe und Ethnizität selektiven polizeilichen Kontrollpraxis – gilt sie sogar als eine der Ursachen für die Riots in den französischen Banlieues 2005, in London 2011 oder in Ferguson 2014. Aber auch die weniger repressiv ausgerichteten Ansätze des „Community Policings“ oder die Aktionen „wachsamer Nachbar“ können als anti-urban angesehen werden: Nachbarn und lokale Institutionen sollen Probleme artikulieren, selbst als Kontrolleure agieren und Sicherheit soll als Vehikel der Vergemeinschaftung fungieren.
Vergemeinschaftung steht jedoch Vergesellschaftung als Merkmal und Prinzip des Städtischen entgegen, und entsprechende Programme unterliegen der Gefahr, alles (Orts-)Fremde als Problem zu definieren. Abgrenzende sowie „problemverlagernde“ Praktiken überhöhen Segregation und unterminieren zudem den produktiven Austausch zwischen unterschiedlichen Stadtteilen und ihren Bewohner_innen. Eine solche auf Abgrenzung und Ausgrenzung verweisende Orientierung zeigt sich auch in einer dritten Dimension der Kontrolle: bauliche und gestalterische Änderungen.