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Politisch motivierte Gewalt auf Demonstrationen

Robert Pelzer

/ 11 Minuten zu lesen

Demonstrationen verlaufen in Deutschland überwiegend gewaltfrei. In wenigen Fällen kommt es jedoch zu gewaltsamen Eskalationen des Protests. Welche Protestgruppen lassen sich unterscheiden, welche Rolle spielt die Polizei in den Konflikten, und was sind die Ursachen für gewalttätigen Protest?

Gewaltsame Demonstration gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm. (© AP)

Gewalt hat einen hohen Nachrichtenwert. Das gilt auch für Gewalt im Rahmen von Protestveranstaltungen. Vermummte Demonstranten, die Steine auf Polizisten werfen, und Polizisten in Kampfmontur, die Schlagstöcke und Pfefferspray einsetzen, produzieren aufsehenerregende Bilder und lösen Entrüstung aus. Von einer steigenden Gewaltbereitschaft bei Demonstranten ist die Rede, aber auch von unverhältnismäßigen Polizeieinsätzen, durch die friedliche Demonstranten in Mitleidenschaft gezogen werden. Was passiert auf politischen Protestveranstaltungen, die gewalttätig verlaufen? Warum wird hier Gewalt ausgeübt? Welche Rolle spielt dabei die Polizei? Und hat politisch motivierte Gewalt zugenommen?

Wie lässt sich Gewalt definieren?

Gewalt ist ein wertbesetzter Begriff. Konfliktparteien neigen dazu, nur das Verhalten der anderen Seite als Gewalt zu bezeichnen; die eigene Gewalt hingegen soll der Öffentlichkeit als legitime "Gegengewalt" erscheinen. In der Gewaltforschung wird versucht, dieser Problematik durch eine wertfreie Definition von Gewalt beizukommen. Ob Gewalt vorliegt, soll an den Merkmalen einer Handlung, nicht aber an ihrer moralischen Bewertung festgemacht werden. Dabei wird meist ein enger Gewaltbegriff verwendet, der unter Gewalt die absichtliche oder leichtfertig in Kauf genommene körperliche Verletzung einer Person versteht. Davon zu unterscheiden ist ein weiter Gewaltbegriff, der auch die sogenannte "psychische" Gewalt einschließt.

In der Praxis bleibt es aber bei Definitionskonflikten. Sie entstehen meist dort, wo Demonstranten sich gegen polizeiliche Maßnahmen nicht nur passiv (sich wegtragen oder wegschieben lassen), sondern aktiv zur Wehr setzen, dabei aber die Schwelle tätlicher Angriffe auf Polizisten nicht überschreiten. Typische Beispiele sind das Verweigern einer Festnahme oder das Drücken gegen eine Polizeikette. Viele Demonstranten bewerten dies nicht als gewalttätig, weil sie darin eine harmlose und legitime Form der Gegenwehr sehen. Für die Polizei hingegen handelt es sich um eine gewaltsame und gleichzeitig strafbare Widersetzung gegen rechtmäßige polizeiliche Maßnahmen. Zur Durchsetzung ihrer Maßnahme setzt die Polizei gegebenenfalls einen aus ihrer Sicht notwendigen und rechtmäßigen physischen Zwang ein, der umgekehrt von Demonstranten häufig als unverhältnismäßig oder illegitim angesehen und als Polizeigewalt wahrgenommen wird. In wie vielen Fällen Polizisten nach juristischen Maßstäben tatsächlich unrechtmäßig Gewalt ausüben – hier geht es vor allem um den Vorwurf einer Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) –, ist hoch umstritten.

Schwierige Unterscheidung in friedliche und gewaltbereite Demonstranten

Diese Definitionskonflikte machen die Unterscheidung in gewaltbereite und friedliche Demonstranten schwierig. Wenn von Gewaltbereitschaft die Rede ist, muss genau differenziert werden, zu welchen Handlungen Demonstranten in welchen Situationen bereit sind. Dabei ist zunächst festzustellen, dass der überwiegende Teil des Demonstrationsgeschehens in Deutschland völlig gewaltfrei verläuft. Mittel des Protests sind mitunter aber auch auf Konfrontation setzende Methoden wie Sitzblockaden, Besetzungen oder Versuche, polizeiliche Absperrungen zu umlaufen. Es handelt sich hierbei um begrenzte Regelverletzungen, die nach dem Selbstverständnis der meisten Aktivisten gewaltfrei bleiben sollen. Trotzdem können Konfliktsituationen eskalieren. Das kann dazu führen, dass Aktivisten die Schwelle zur Gewalt überschreiten und sich in eine Eskalation verstricken, obwohl sie das nicht geplant haben und Gewalt grundsätzlich ablehnen.

Davon zu unterscheiden sind Protestgruppen, die Gewalt von vornherein als Möglichkeit des Protests in Betracht ziehen. Zu differenzieren ist hier wiederum zwischen Gruppen, die Gewalt nur in bestimmten Situationen für legitim erachten (situationsgebundene Gewaltbereitschaft) und Gruppen, die Gewalt prinzipiell als legitimes und auch notwendiges Mittel des Protests ansehen (prinzipielle oder generelle Gewaltbereitschaft). Zu diesen Gruppen gehören Mitglieder der rechtsextremistischen und der linksextremistischen Szene. Da statistisch gesehen der weit überwiegende Teil gewaltförmig verlaufender Protestveranstaltungen dem linken Spektrum − insbesondere den "Autonomen" − zuzuordnen ist, wird rechtsextreme Demonstrationsgewalt im Folgenden nur am Rande thematisiert. (siehe Abschnitt "Rechte und linke Kriminalität im Kontext von Demonstrationen")

"Autonome" stellen den Autoritätsanspruch des Staates bewusst in Frage

Die "Autonomen" sind eine heterogene Bewegung. Ihr verbindendes Merkmal ist zunächst einmal die Ablehnung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung in Verbindung mit der Utopie eines "selbstbestimmten" Lebens in einer von Herrschaft und Unterdrückung "befreiten Gesellschaft". Zu ihrem Selbstverständnis gehört dabei die Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols. Sie weisen den polizeilichen Autoritätsanspruch zurück und beanspruchen einen selbstbestimmten, also rechtsfreien Raum. Damit verbindet sich der Anspruch, Demonstrationen gegen Eingriffe durch die Polizei zu "verteidigen". Die Anwendung von Gewalt auf Protestveranstaltungen hat vor diesem Hintergrund einen stark symbolisch-expressiven Charakter. Es geht darum, sich selbst und der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass man das "System" radikal ablehnt und entschlossen ist, sich der Autorität des staatlichen Gewaltmonopols gewaltsam zu widersetzen. Gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei dienen daher vor allem der Identitätsbestätigung. So legen sich einige "Autonome" regelmäßig bewusst mit der Polizei an, um anhand der folgenden Polizeigewalt den repressiven Charakter des "Systems" vorzuführen.

Gleichwohl verbindet sich die Gewaltanwendung der "Autonomen" häufig mit politischen Zielsetzungen. Im Vordergrund stehen meist konkrete Themen, die sich mit einem Protestereignis oder einer Protestkampagne verknüpfen. Es geht dann darum, eine höhere Medienaufmerksamkeit für das Protestanliegen zu erzeugen, durch die Vermittlung "linksradikaler Inhalte" die öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen oder ein Protestziel mit gewaltsamen Mitteln durchzusetzen, etwa die Verhinderung eines Castor-Transportes oder eines Aufmarsches von Rechtsextremisten.

Gerade bei Demonstrationsmärschen spielen ordnungsbehördliche Auflagen eine große Rolle. Die Versammlungsgesetze der Länder erlauben der Polizei, die Versammlungsfreiheit durch Auflagen (z.B. zur Länge von Seitentransparenten oder zur Demonstrationsroute) einzuschränken. Das tut die Polizei, wenn sie von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, z.B. durch die Anwesenheit gewaltbereiter Demonstranten, ausgeht. Konflikte entzünden sich häufig an Verstößen gegen Auflagen, die die Polizei durch Eingriffsmaßnahmen durchzusetzen versucht. Weitere Konfliktpunkte bilden Eingriffe wegen Verstößen gegen das Vermummungsverbot, das Umleiten oder Anhalten des Demonstrationszugs oder die so genannte "einschließende" Begleitung (Spalier) eines Zugs durch Polizeikräfte. Aber auch die Durchführung von Videoaufzeichnungen zu Dokumentations- und Beweissicherungszwecken wird von "Autonomen" immer wieder als Provokation angesehen.

Unterschiedliche Konfliktwahrnehmung bei Polizei und Demonstranten

Derartige Konflikte beschränken sich nicht nur auf die "Autonomen". Sie sind vielmehr Ausdruck eines Grundkonflikts zwischen Demonstranten und der Polizei. Aufgabe der Polizei ist es, das Recht auf Versammlungsfreiheit politisch neutral zu gewährleisten, gleichzeitig aber für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Protestierende werfen der Polizei immer wieder vor, durch Auflagen oder Eingriffe in den Demonstrationszug ihre Möglichkeiten zur Artikulation von Protest und damit die Demonstrationsfreiheit einzuschränken.

Verfestigt sich unter Protestierenden ein Bild von der Polizei als Gegner der Demonstration, kann es passieren, dass Demonstranten einen Eingriff als illegitim wahrnehmen, auch wenn sie den Anlass bestimmter polizeilicher Maßnahmen unter Umständen gar nicht kennen. Sie können sich in der Folge mit den gewaltbereiten Demonstranten solidarisieren, was zu einer Eskalation beitragen kann. Konflikte zwischen Polizei und Demonstranten gewinnen ihre Dynamik aus gegensätzlichen Wahrnehmungen und Bewertungen der Situation, einer so genannten "diskrepanten Interpunktion". Beide Seiten nehmen dann für sich in Anspruch, mit ihren Handlungen oder ihrer Gewalt in legitimer Weise auf illegitime Handlungen oder Gewalt der anderen Seite nur zu reagieren.

Auch bei friedlich angelegten Blockadeaktionen kann dieser Mechanismus zu einer Eskalation führen. Ein Beispiel dafür ist die Räumung des Stuttgarter Schlossgartens im Zusammenhang mit den Protesten gegen Stuttgart 21 am 30. September 2010. Gegner des Bauprojektes hatten im Schlossgarten eine Sitzblockade durchgeführt, um das Fällen von Bäumen zu verhindern. Bei der Räumung leisteten die Blockierer überwiegend passiven Widerstand. Aus Gründen, die derzeit von einem Untersuchungsausschuss geklärt werden, sah sich die Polizei zu einer härteren Gangart – unter anderem zum Einsatz von Wasserwerfern − veranlasst, um die Räumung gegen den Widerstand durchzusetzen. Der Protest gegen die Baumfällung vermischte sich nun mit Protest und Empörung über den als unangemessen wahrgenommenen Gewalteinsatz der Polizei − umso mehr, als er der Durchsetzung einer aus Sicht der Blockierer inakzeptablen politischen Entscheidung diente. Demonstranten äußerten lautstark ihren Unmut, indem sie auf Polizisten zugingen, um sich dazwischenzustellen oder um sich zu beschweren. So setzte sich eine Eskalationsspirale in Gang.

Ist die Gewalt auf Protestveranstaltungen politisch motiviert?

Angezeigte Straftaten, denen die Polizei eine "politische Motivation" zuordnet, werden in der gesonderten Statistik der Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) aufgeführt. Diese Statistik basiert auf dem sogenannten "Kriminalpolizeilichen Meldedienst für Fälle der PMK", der in den jeweiligen Bundesländern von den Staatsschutzabteilungen der Landeskriminalämter geführt wird. Seit 2001 gilt ein bundeseinheitliches Definitionssystem zur PMK, das Kriterien dafür festlegt, wann ein Delikt der PMK zuzuordnen ist. Als Kriterien gelten die Einstellung des Täters/Tatverdächtigen und/oder die Umstände der angezeigten Tat, wie sie sich aus Sicht der polizeilichen Ermittlungen darstellen. Diese müssen Anhaltspunkte dafür geben, dass die Tat darauf gerichtet ist, zum Beispiel den "demokratischen Willensbildungsprozess" zu beeinflussen oder politische Entscheidungen zu verhindern.

Für die Polizei liegt ein solcher Anhaltspunkt beispielsweise vor, wenn die Einstellung eines Tatverdächtigen oder das Demonstrationsgeschehen aus ihrer Sicht einer "linken Orientierung" zuzurechnen ist. Diese Zuschreibungen können zwischen Bundesländern und einzelnen Sachbearbeitern in Einzelfällen variieren. Generell muss berücksichtigt werden, dass die Zuordnung einer "politischen Motivation" nicht den Zweck erfüllt, eine im kriminologischen Sinne gültige Aussage zu den Beweggründen eines Tatverdächtigen zu treffen. Vielmehr geht es um eine tatbezogene Klassifizierung, die politische von nicht-politischen Straftaten abheben soll, um ihnen so eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Die Politisch Motivierte Gewalt (PMG) ist eine Unterkategorie der PMK. Sie umfasst neben den klassischen Gewaltdelikten, wie Tötungsdelikten, Raub, Brand- und Sprengstoffdelikten oder schweren Körperverletzungen, auch die einfache Körperverletzung und den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) nicht zu den Gewaltdelikten gezählt werden. Straftaten werden den Phänomenbereichen "PMK – links", "PMK – rechts", der "politisch motivierten Ausländerkriminalität" oder der Kategorie "Sonstiges" zugeordnet. Seit 2001 werden neben "extremistischen" Taten, die sich im Sinne einer Systemfeindschaft gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten, auch Delikte mit einer "nicht extremistischen" politischen Motivation registriert und einem der drei Phänomenbereiche zugeordnet. Ein Beispiel für die Kategorie "Sonstiges" sind Delikte, die sich bei Protesten gegen Stuttgart 21 ereignen. Ihnen wird zwar eine politische Motivation, größtenteils aber keine einheitliche politische Orientierung zugeordnet. Einer Vielzahl der Gewaltdelikte, die sich am Abend des 1. Mai in Berlin-Kreuzberg ereignen, wird keine politische Motivation zugeordnet. Sie gelten etwa als Gewalthandlungen sogenannter "gewalterlebnisorientierter" Jugendlicher, die sich aus "Spaß am Krawall" an gewaltsamen Auseinandersetzungen beteiligen.

Struktur demonstrationsbezogener Delikte im Bereich PMK-links und -rechts Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de

Rechte und linke Kriminalität im Kontext von Demonstrationen

Der überwiegende Teil der im Zusammenhang mit einem Demonstrationsgeschehen registrierten Straftaten fällt in den Bereich PMK-links. Von 2001 bis 2010 wurden im Jahresdurchschnitt etwa 2.000 linksorientierte und 450 rechtsorientierte Straftaten mit Demonstrationsbezug registriert. Während demonstrationsbezogene Delikte im Bereich PMK-links etwa ein Drittel der Gesamtzahl registrierter Straftaten ausmachen, spielen sie im Bereich PMK-rechts nur eine untergeordnete Rolle (ca. 3% der Straftaten). Den Schwerpunkt rechtsmotivierter Straftaten bilden Propagandadelikte – bei Gewalttaten Körperverletzungen. Im Vordergrund rechter Gewalt stehen Angriffe auf Personen. Die klassischen Delikte sind fremdenfeindlich-rassistische Übergriffe. Demgegenüber richtet sich linke Gewalt überwiegend gegen Institutionen und deren Repräsentanten, insbesondere die Polizei.

Sowohl im Bereich der PMK-links als auch der PMK-rechts bilden Verstöße gegen das Versammlungsgesetz das am häufigsten registrierte Delikt im Zusammenhang mit Demonstrationen, gefolgt von Gewaltdelikten bei linken und Propagandadelikten bei rechten Protestveranstaltungen.

Gewaltdelikte insgesamt sowie Gewaltdelikte mit Demonstrationsbezug im Bereich PMG-links und -rechts, 2001- 2010 Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de

Hat die Gewalt auf Demonstrationen zugenommen?

Bezogen auf die Gesamtzahl der registrierten Gewaltdelikte zeigt sich im Bereich der PMG-links bis 2009 ein leicht ansteigender Trend. Demgegenüber ist der Anteil demonstrationsbezogener Delikte seit 2005 gesunken. Die absoluten Zahlen linker Gewaltdelikte mit Demonstrationsbezug zeigen keinen eindeutigen Trend zur Zu- oder Abnahme des Gewaltaufkommens.

Im Bereich PMG-rechts verhält es sich umgekehrt. Demonstrationsbezogene Gewalttaten haben seit 2005 ein deutlich höheres Niveau (durchschnittlich 76 Fälle pro Jahr) als in den Vorjahren (durchschnittlich 26 Fälle pro Jahr), wohingegen die Gesamtzahlen registrierter Gewaltdelikte keinen eindeutigen Trend zeigen.

Kritische Bewertung der Fallzahlen nötig

Diese Fallzahlen sind jedoch nur bedingt aussagekräftig und müssen mit großer Vorsicht interpretiert werden. Sie sind kein Abbild der Wirklichkeit, sondern zunächst das Ergebnis eines komplexen Registrierungsvorgangs, bei dem auch die rechtliche Bearbeitung der Delikte eine Rolle spielt. Die Fallzahlen beziehen sich zunächst auf Tatvorwürfe. Diese können im Laufe eines Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens angepasst bzw. fallengelassen werden. Ebenso kann die Zuordnung einer politischen Motivation aufgehoben oder erst nachträglich festgestellt werden. Das führt zu einer Anpassung der Jahresfallzahlen in der Statistik, mitunter noch einige Jahre später. Ferner werden nicht Einzeldelikte, sondern Fälle gezählt. Ein Fall bezeichnet einen sogenannten "Lebenssachverhalt". Dabei werden mehrere Gewaltdelikte mehrerer Personen zu einem Fall zusammengefasst, wenn sie in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ähnlicher Motivlage zueinander stehen. Ein registrierter Fall sagt daher nichts darüber aus, ob es sich um Gewalthandlungen nur einer einzelnen Person, mehrerer Personen oder Gewaltanwendung durch größere Gruppen gehandelt hat.

Entwicklung der Anzahl gewaltförmig verlaufender Proteste im Zusammenhang mit Demonstrationen, Kundgebungen, Blockaden und Besetzungen 1968 – 2001 Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de

Gewalt bei Demonstrationen folgt "Konjunkturwellen"

Doch wie erklären sich Schwankungen des Gewaltaufkommens bei Demonstrationen? In der Protestforschung wird davon ausgegangen, dass gewaltförmiger Protest in Konjunkturwellen in Erscheinung tritt. Dies zeigen am Wissenschaftszentrum in Berlin auf Basis von Medienberichten stichprobenartig erhobene Daten zu Protestereignissen (Prodat) für den Zeitraum von 1955 – 2001. Für gewaltförmige Proteste im Kontext von Protestveranstaltungen ergibt sich folgendes Bild:

Die starken Schwankungen erklären sich aus Mobilisierungsphasen von Protesten zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten, die sich überlagern. Die Spitzen spiegeln Mobilisierungsschübe wider. So werden die Spitzen 1981 und 1986 jeweils durch Hochphasen der Proteste gegen Räumungen besetzter Häuser sowie gegen Kernenergie bestimmt – 1981 gegen den Bau des Kernkraftwerkes in Brokdorf, 1986 gegen die Entscheidung zum Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Hinter dem Anstieg der Gewalt zwischen 1991 und 1993 verbergen sich rechte und fremdenfeindliche Ausschreitungen Anfang der 1990er Jahre und gewaltförmig verlaufende Gegenproteste. Mobilisierungsschübe werden durch konfliktauslösende und -verstärkende Faktoren beeinflusst. Dies können politische Entscheidungen sein, aber auch Ereignisse wie die Katastrophe in Tschernobyl oder die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin, in deren Folge sich die Studentenproteste radikalisierten.

Zwar hat die Anzahl gewaltförmig verlaufender Protestveranstaltungen nach der ersten Welle Ende der 1960er Jahre bis Ende der 1990er Jahre in der Tendenz etwas zugenommen, ihr Anteil an der Gesamtzahl der Protestveranstaltungen hat aber tendenziell abgenommen. Inwiefern sich dieser Trend in den 2000er Jahren fortgesetzt hat, lässt sich auf dieser Datenbasis nicht feststellen. Mit Blick auf die 2000er Jahre kann jedoch unabhängig davon von einer Abnahme der Gewaltintensität ausgegangen werden: Ausgedehnte Straßenschlachten, wie sie in den 1980er und 1990er Jahren stattfanden, gibt es heute selten. Auch sind die Gewaltmittel nicht vergleichbar. Während "Autonome" früher – etwa bei Räumungen besetzter Häuser − Polizisten auch mit Molotowcocktails, Zwillen und Gehwegplatten attackierten, bildet der Einsatz derartiger Gewaltmittel heute eine absolute Ausnahmeerscheinung.

Herausforderungen für die Prävention

Die Ursachen von gewaltsamem Protest liegen in der Regel in sozialen und politischen Konflikten. Diese bringen Ereignisse, Bewegungen und Dynamiken hervor, die zu einer gewaltsamen Austragung dieser Konflikte auf der Straße führen können. Einer Eskalation dieser Auseinandersetzungen lässt sich jedoch vorbeugen. Der Schlüssel liegt dabei in erster Linie in der politischen und gesellschaftlichen Bearbeitung der Konflikte, weniger bei Polizei und Justiz. Letztere können durch die gezielte Ausübung von Kontrolle Gewalt einhegen, durch Überreaktionen aber auch zu ihrer Eskalation beitragen.

Ob die vom Deutschen Bundestag am 07.07.2011 beschlossene Anhebung der Höchststrafe für den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) von zwei auf drei Jahre Freiheitsstrafe, einen erfolgsversprechenden Präventionsansatz darstellt, muss dabei kritisch hinterfragt werden. Eskalierende gewaltsame Auseinandersetzungen lassen sich dadurch nicht besser kontrollieren. Auch werden sich gewaltbereite Demonstranten, die organisiert zu Werke gehen und nur selten gefasst werden, so nicht von Gewalt abschrecken lassen. Grundsätzlich kann das Strafrecht immer nur partiellen Schutz bieten. Es ist aus gutem Grund ein Instrument zur Kontrolle von Kriminalität, nicht aber zur Lösung sozialer und politischer Probleme.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Studierte Soziologie an der FU Berlin sowie Kriminologie an der Universität Hamburg. Von 2006 bis 2009 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient in Berlin im BMBF-Projekt "Muslime in Europa", von 2009 bis 2010 zudem am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie der FU Berlin in einer Studie zur "Analyse der Gewalt am 1. Mai in Berlin". Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg.