Amtliche Daten zur "Ausländerkriminalität" können nicht mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung gleichgesetzt werden. Bei der Interpretation von Daten zur Straffälligkeit von Deutschen und Nichtdeutschen müssen zahlreiche Aspekte beachtet und differenziert werden: Wer gilt als Ausländer, wie wird Kriminalität polizeilich erfasst, und begehen Ausländer andere Straftaten als Deutsche?
Amtliche Statistiken sind nicht neutral
Amtliche Statistiken wie die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) werden nicht nur von Wissenschaftlerinnen, sondern auch von Politikern, Journalisten und Lobbyisten gerne und häufig als Quelle herangezogen. Die amtlichen Zahlen sind bei Bedarf relativ kurzfristig abrufbar und besitzen im Allgemeinen eine sehr hohe Glaubwürdigkeit. Das macht sie zu einem wirkungsvollen Machtinstrument in den politischen Auseinandersetzungen um die Interpretation der sozialen Wirklichkeit. Der Entstehungsprozess von amtlichen Statistiken wird dabei in der Regel nicht hinterfragt, solange das Ergebnis plausibel und der eigenen Argumentation dienlich zu sein scheint. Es ist jedoch eine Binsenweisheit der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre, dass Messbarkeit nicht mit Wahrheit gleichzusetzen ist. Dass subjektive Erwartungen in die Erhebung und Interpretation von Daten einfließen, ist selbst bei besten Absichten und bei bester Qualifikation nicht zu vermeiden. Deshalb kommt es in der Praxis vor allem darauf an, die Verwendung von Statistiken vor dem Hintergrund ihrer Entstehung zu reflektieren.
Mangelnde Objektivität in der amtlichen Statistik zur "Ausländerkriminalität"
Im Fall der amtlichen Statistik zur "Ausländerkriminalität" ist die Reflexion inzwischen so umfangreich, dass die Daten ihren Objektivitätsanspruch verloren haben. Das Bundeskriminalamt formuliert deshalb folgenden Hinweis: "Diese Daten dürfen nicht mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung gleichgesetzt werden. Sie lassen auch keine vergleichende Bewertung der Kriminalitätsbelastung von Deutschen und Nichtdeutschen zu"
Im Folgenden werden die wesentlichen Effekte dargestellt, die unter der Zielsetzung eines verantwortungsvollen Umgangs mit der PKS – und hier insbesondere den erfassten Daten zu "Nichtdeutschen" – reflektiert werden sollten.
Vergleichskategorieneffekt: Warum werden Deutsche und Ausländer verglichen?
Dass sich ein Staat bei der Erfassung von personenbezogenen Daten für die Staatsangehörigkeit interessiert, ist nicht ungewöhnlich. Damit wird allerdings im Ergebnis eine Demarkationslinie der Zugehörigkeit gezogen. Ausländer sind Menschen, die sich in Deutschland aufhalten und nach verbreiteter Ansicht trotzdem nicht richtig zu "uns" gehören. Wenn bei der Erhebung und Auswertung von Daten über Straftaten, Geburtenziffern und Schulabschlüsse nach Deutschen und Ausländern differenziert wird, zielt dies darauf, Aussagen über eine erwartete Andersartigkeit machen zu können. Die Auswahl von Vergleichskategorien ist daher eine normative Aussage darüber, welche personenbezogenen Merkmale als relevant eingestuft werden. Niemand würde die Frage stellen, ob Dünne mehr Straftaten begehen als Dicke – obwohl hier womöglich ebenfalls Unterschiede feststellbar sind.
Abgrenzungseffekt: Wer zählt als Ausländer?
Ausländer werden in der PKS ausschließlich anhand eines Merkmals, nämlich einer nichtdeutschen Staatsangehörigkeit, in der Kategorie "Nichtdeutsche" erfasst
Zur Einordnung und Bewertung der Daten werden in der Regel andere, nicht vergleichbare Datenquellen zur ausländischen Wohnbevölkerung herangezogen. Aussagen wie "22 Prozent der Straftaten werden von Ausländern begangen, obwohl sie nur neun Prozent der Bevölkerung ausmachen" entbehren daher der Seriosität. Die Tatsache, dass prozentual mehr durchreisende Ausländer auffällig werden als Sesshafte, verzerrt eine solche Aussage zu Lasten der nichtdeutschen Wohnbevölkerung.
Die Daten zur Kriminalität von Nichtdeutschen werden häufig mit Aussagen zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund assoziiert und damit zum Zuwanderungsproblem stilisiert. 54 Prozent der in Deutschland lebenden Einwanderer und ihrer Nachkommen sind deutsche Staatsangehörige, unter anderem durch Einbürgerung, (Spät-)Aussiedlerstatus und Geburt in Deutschland,
Tatverdächtigeneffekt: Nur Tatverdächtige werden polizeilich erfasst
Für die PKS insgesamt gilt, dass sie nicht Täter, sondern Tatverdächtige zählt. Die Erfassung gibt lediglich den Stand der polizeilichen Ermittlungen wieder, während die Staatsanwaltschaft und die Gerichte zu anderen Bewertungen kommen können. Ein direkter Vergleich der PKS mit der Verurteiltenstatistik ist aufgrund unterschiedlicher Grundlagen nicht möglich
Anzeigeneffekt: Nur angezeigte Straftaten werden erfasst
Erfasst werden können nur Straftaten bzw. Verdachtsfälle, von denen die Polizei, die Bundespolizei oder der Zoll erfahren − entweder durch eigene Kontrollen oder durch Anzeigen. Diese Straftaten bilden das sogenannte Hellfeld der Kriminalität, das sich vom Dunkelfeld – der polizeilich nicht erfassten Kriminalität − unterscheidet. Nachweisbare Veränderungen im Hellfeld müssen nicht zwingend für eine veränderte Kriminalitätshäufigkeit sprechen, sondern können auch mit einer Veränderung der polizeilichen Kontrolldichte oder einem veränderten Anzeigeverhalten (etwa infolge bestimmter Ereignisse und ihrer Berichterstattung) zusammenhängen. Das Anzeigeverhalten der Bevölkerung ist ethnischen Merkmalen gegenüber nicht blind, da bestimmte ethnische Minderheiten nachweislich eher mit einer Anzeige rechnen müssen als die deutsche Mehrheitsgesellschaft
Straftateneffekt: Begehen Ausländer andere Straftaten als Deutsche?
Ausländische Staatsangehörige sind Deutschen in vieler Hinsicht rechtlich nicht gleich gestellt und können daher potenziell mehr und anders geartetes Unrecht begehen. Das betrifft zum Beispiel Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz, das Asylverfahrensgesetz und das Freizügigkeitsgesetz der EU. Dazu zählen die unerlaubte Einreise und der unerlaubte Aufenthalt in Deutschland sowie das Erschleichen eines Aufenthaltstitels. Insgesamt wurden 2010 64.009 nichtdeutsche Tatverdächtige in dieser Straftatengruppe registriert. Damit stellen sie unter den sogenannten "ausländerspezifischen" Delikten einen Anteil von 96,8 Prozent an allen Verdächtigten
Darüber hinaus können weitere Deliktgruppen genannt werden, in denen nichtdeutsche Tatverdächtige im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtheit aller erfassten Straftaten überdurchschnittlich repräsentiert sind, zum Beispiel die Urkundenfälschung (34,5 Prozent) und spezifische Rauschgiftdelikte wie die illegale Einfuhr von Betäubungsmitteln (44,4 Prozent). In den Straftatengruppen "Sachbeschädigung" (11,9 Prozent), "Beleidigung" (14, 6 Prozent) und "Widerstand gegen die Staatsgewalt und Straftaten gegen die öffentliche Ordnung" (15,8 Prozent) sind Nichtdeutsche hingegen unterdurchschnittlich erfasst
Grundsätzlich stehen alle erfassten Straftaten in der PKS-Zählung gleichrangig nebeneinander, "dass so der Ladendiebstahl dem Mord, die illegale Einreise dem illegalen Verschieben von Massenvernichtungswaffen oder der Handtaschenraub dem Terroranschlag gleichwertig gegenüberstehen"
Als Strategie gegen diese Normativität werden oft die quantitativ bedeutsamsten Straftaten(gruppen) übernommen. Doch die quantitative Rangfolge hängt entscheidend von der Kategorienbildung und der Auswahl der Über- bzw. Untergruppen der Delikte ab. Betrachtet man beispielsweise die Gesamtheit aller erfassten Rauschgiftdelikte und nicht nur die illegale Einfuhr (wie oben), so fallen keine signifikanten Unterschiede zwischen deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen auf. Eine weitere Strategie ist es, eine althergebrachte und als "normal" anerkannte Auswahl zu übernehmen. Doch auch dahinter verbergen sich subjektiv begründete Entscheidungen für oder gegen bestimmte Kategorien (wenn auch bereits an anderer Stelle getroffen), die im Ergebnis entweder Unterschiede oder Gemeinsamkeiten betonen (sollen).
Soziallagen-Effekt: Soziale Merkmale beeinflussen das Kriminalitätsrisiko
Vergleiche zwischen Ausländern und Deutschen anhand der PKS blenden soziale Merkmale aus, die für die Strafanfälligkeit und die Strafauffälligkeit mit ausschlaggebend und zudem in den beiden Gruppen sehr ungleich verteilt sind. Dazu zählen vor allem Geschlecht (mehr Männer unter den Straffälligen), Alter (mehr Junge), Region (mehr Großstadtbewohner) sowie Qualifikation (mehr Ungelernte). Statistische Unterschiede in der PKS sind somit auch auf die ungleiche Sozialstruktur zurückzuführen, die komplexe gesellschaftliche Ursachen hat. Geißler hat die Kriminalität von ausländischen Arbeitsmigranten isoliert betrachtet und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es zwischen der Strafauffälligkeit dieser Kerngruppe und der deutschen Bevölkerung keine signifikanten Unterschiede gebe. Berücksichtigt man mittels statistischer Verfahren zudem die unterschiedliche soziale Struktur der beiden Vergleichsgruppen, kehrt sich das vermeintliche Ergebnis in das Gegenteil um: In den gleichen sozialen Lagen weisen ausländische Arbeitsmigranten eine größere Gesetzestreue auf als Deutsche. Geißler schlussfolgert, dass nicht der Zusammenhang von Migration und Kriminalität zu untersuchen sei, sondern die Frage, warum Migration zu mehr Gesetzestreue führe
Jugend-Effekt: Keine erhöhte Kriminalitätsbelastung nichtdeutscher Jugendlicher
Auf den Jugend-Effekt als spezifische Ausprägung des Soziallagen-Effekts soll hier noch näher eingegangen werden. Wies die ausländische Bevölkerung einst einen höheren Jugendanteil auf als die deutsche Bevölkerung, sind inzwischen rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung unter 21 Jahre alt, während der Anteil dieser Altersgruppe in der ausländischen Bevölkerung nur 18 Prozent beträgt
Ein Viertel der polizeilich erfassten Tatverdächtigen sind Jugendliche bzw. Heranwachsende unter 21 Jahren. Unter den nichtdeutschen Tatverdächtigen liegt der Anteil dieser Altersgruppe jedoch mit 20,7 Prozent niedriger als bei den Deutschen mit 26,3 Prozent. Betrachtet man ausschließlich die Gruppe der "Gewaltdelikte", dann liegt der Anteil der unter 21-Jährigen an allen deutschen Gewaltverdächtigen mit 41,5 Prozent sogar deutlich über dem Jugendanteil an den nichtdeutschen Gewaltverdächtigten (36 Prozent)
Dunkelfeldstudien, die Erkenntnisse zur Kriminalitätsentwicklung generieren, die nicht im Hellfeld der PKS registriert ist, widmen sich auch den Fragen nach der Delinquenz von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund bzw. Vergleichen zwischen ethnischen Gruppen