Biologische Theorien – Ist Kriminalität angeboren?
Biologische Kriminalitätstheorien verweisen vorwiegend auf biologische Prozesse und teilweise auf die genetischen Anlagen eines Menschen. Einige wenige Theorien stehen dabei im Lichte der von Cesare Lombroso eingeführten kriminalanthropologischen Schule, die die genetische Veranlagung kriminogener Faktoren in den Mittelpunkt rückt. Dieser Ansatz aus dem Jahre 1876 wurde verstärkt in der These seines Schülers Enrico Ferri über den ,delinquente nato‘, den zum Verbrecher geborenen Menschen, der auf Grund seines genetischen Codes kriminell wird. Obwohl diese Theorie bereits wenige Jahre später eindeutig widerlegt wurde, zogen die Nazis in Deutschland sie zur Rechtfertigung ihrer Taten heran. Nicht zuletzt aus diesem Grunde fanden biologische Theorien in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg wenig Beachtung. Heutzutage spielen Lombrosos und Ferris Ansätze in der Wissenschaft keine Rolle mehr.
Stattdessen umfasst die moderne biologische Kriminalitätsforschung seit ungefähr 1970 mehrere Stränge mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Biologische Forschungen konzentrieren sich neben der genetischen Vererbung stark auf biochemische und endokrine Auffälligkeiten sowie auf neurowissenschaftliche Aspekte. Als Beispiel genannt seien an dieser Stelle Hirnschädigungen, verursacht durch Krankheiten, Unfälle oder auch durch Nahrung, die Veränderungen der Psyche hin zu kriminogenem Verhalten bewirken können.
Allen biologisch orientierten Forschungssträngen ist gemein, dass sie körperliche Merkmale als eine Prädisposition, eine Veranlagung, sehen. Diese Sichtweise führt zu der Erkenntnis, dass sich eine Veranlagung nicht zwangsläufig kriminogen auswirken muss, sondern durch die Umwelt beeinflusst werden kann.
Obwohl die Veranlagung weiterhin als Haupteinflussfaktor betrachtet wird, werden anderen Umwelteinflüssen eine zumindest nachrangige Bedeutung zugestanden. Derartige Modelle, die biologische als auch soziale Einflüsse beachten, werden als biosoziale Modelle bezeichnet. Trotz zunehmenden Einflusses der seriösen biologischen Forschungsrichtung seitens der forensischen Psychiatrie und Kriminologie finden in Deutschland vorwiegend biosoziale Modelle Beachtung.
Die vergleichende biologische Verhaltensforschung (Ethologie) vergleicht menschliches mit tierischem Verhalten und setzt sich mit der Frage auseinander, zu welchen Teilen Verhalten instinktgesteuert (angeboren) bzw. erlernt ist. Ziel dieser Strömung ist es, einen Einblick in die Grundstrukturen menschlichen Verhaltens zu erlangen. Dieser Ansatz bezieht in interdisziplinärer Weise auch andere Rahmenbedingungen ein.
Die Sozial- und Verhaltenswissenschaftlichen Kriminalitätstheorien
Gemeinsamer Standpunkt aller sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Theorien ist, dass sie Kriminalität vorrangig durch die Rahmenbedingungen der Umwelt erklären. Psychologische und sozialpsychologische Ansätze stellen dabei vornehmlich den einzelnen Menschen in den Vordergrund. Soziologische Ansätze versuchen hauptsächlich mittels gesellschaftlicher Bedingungen Kriminalität zu erklären. Wegen zahlreicher Überschneidungen und Verflechtungen der Theorien ist eine klare Abgrenzung kaum möglich, und auch in der einschlägigen Literatur herrscht kein Konsens diesbezüglich.
Die „klassische“ Erklärung – Der Mythos „Kriminalität lohnt sich“
Der „klassische“ Erklärungsansatz ist die der Ökonomie entlehnte Theorie des rationalen (Wahl)Handelns, die Rational Choice (RC)-Theorie: „Kriminalität lohnt sich“. Demnach überlegt der Täter, was er erhält, wenn er kriminell handelt und stellt dem die möglichen „Kosten“ gegenüber (erwischt zu werden, eine Strafe etc.). Es wird also davon ausgegangen, dass der Täter Vernunft geleitet und Nutzen maximierend handelt, eine Kosten-Nutzen-Analyse für kriminelle Handlungen aufstellt und dann wählt, ob sich kriminelles Handeln lohnt. Der Staat hingegen analysiert das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Kriminalitätsbekämpfung und richtet sein Vorgehen daran aus. Dass dieser recht einseitige Ansatz den Großteil kriminellen Verhaltens nicht erklärt, liegt auf der Hand. Daher haben sich Vertreter aus Psychologie und Soziologie auf abweichendes Verhalten und dessen Erklärung spezialisiert.
Nachfolgend werden gängige Ansätze themenbezogen dargestellt. An dieser Stelle handelt es sich um Theorien, die jeweils nur einen Teil kriminellen bzw. abweichenden Verhaltens erklären (können). Theorien, die sich hauptsächlich auf den einzelnen Menschen konzentrieren, werden als Persönlichkeitstheorien (1) bezeichnet. Wird das soziale Umfeld als Einflussfaktor mit einbezogen, spricht man häufig von Sozialisationstheorien (2). Nahezu untrennbar verknüpft mit der Sozialisation ist die soziale Struktur (3). Sozialisation und soziale Struktur beeinflussen einander wechselseitig.
Persönlichkeitsbezogene Theorien beziehen sich in erster Linie auf den Menschen als Individuum. Frühe Konzepte waren stark naturwissenschaftlich geprägt. Darunter fallen u.a. die Verhaltenskonditionierung, die ähnlich der (Hunde-)Experimente Pawlows funktioniert, sowie das empirisch kaum haltbare Konzept der psycho-/soziopathischen Persönlichkeit.
Neben dieser Herangehensweise gibt es die psychodynamischen Ansätzen, von denen der psychoanalytische Ansatz Freuds der wohl bekannteste ist. Das Handeln eines Individuums wird als Folge bestimmter Fehlentwicklungen in dessen Leben begriffen, wobei insbesondere der frühkindlichen Entwicklung eine tragende Rolle zukommt. Eine andere Strömung innerhalb der Psychoanalyse beschäftigt sich mit der Gesellschaft und ihren kollektiven psychischen Mechanismen.
Hinsichtlich der Persönlichkeit eines Menschen ist auch die Entstehung von Aggression sowie der Umgang damit bedeutend. Aggressionstheorien greifen dies auf, aber auch Forschungen zu Frustration und Erregung schlagen sich darin nieder. In vielseitigen Ansätzen werden beispielsweise lernpsychologische Ansätze mit Aggressionstheorien verknüpft: Sie thematisieren, welches Verhalten Individuen hinsichtlich Aggression, Frustration und Erregung erlernen.
Da der Mensch jedoch nicht unabhängig von seiner sozialen Umwelt existiert, wird er durch sie beeinflusst und passt sich an. Diese umfangreichen Prozesse des sozialen Lernens werden als Sozialisation bezeichnet.
Unter den Sozialisationstheorien nehmen Lerntheorien eine zentrale Stellung ein. Lerntheorien sind Ansätze, die davon ausgehen, dass kriminelles Verhalten erlernbar sei – so wie jedes andere Verhalten auch. Persönlichkeitsbezogene Lerntheorien betonen insbesondere die Konditionierung und spezielle Verhaltensmechanismen, während aus dem soziologischen Blickwinkel insbesondere die sozialen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen der Sozialisation thematisiert werden.
Ein weiteres Theoriefeld bilden die Kontrolltheorien, die auch bekannt sind unter dem Begriff Halt- und Bindungstheorien. Je nach wissenschaftlichem Ansatz berücksichtigen sie mehr die innere oder die äußere Kontrolle. Die inneren Kontrolltheorien knüpfen an die (Freud‘sche) psychoanalytische Sichtweise an und fragen danach, warum Menschen keine Straftaten begehen und sich stattdessen sozial konform verhalten. Die äußere Kontrolle wird in der Regel durch die Sozialstruktur geschaffen.
Unter Sozialstruktur sind die Rahmenbedingungen der Gesellschaft, also die soziale Struktur, zu verstehen. Der Großteil der gesellschaftlich ausgerichteten Konzepte bezieht sich darauf. Dabei nimmt insbesondere die Anomie eine zentrale Stellung ein. Anomie ist ein Zustand abnehmender Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zur Instabilität gesellschaftlicher Normen und Werte führt. Infolgedessen müssen sich die Menschen an eine veränderte soziale Ordnung anpassen. Dafür entwickeln sie unterschiedliche Strategien, darunter auch kriminelles Verhalten. Die Anomie-Theorien bilden die Ausgangslage für andere Ansätze. So erfahren sie in der Drucktheorie eine Erweiterung: Drucktheorien gehen davon aus, dass aus dem Umfeld sozialer Druck bzw. eine soziale Belastung auf das Individuum einwirkt, was zu abweichendem Verhalten führen kann.
Ähnlich basieren auch Theorien der Desintegration auf Anomie-Theorien. Mit sozialer Desintegration ist gemeint, dass die sonst übliche informelle Sozialkontrolle (z.B. durch Mitbürger) ausfällt und sich somit kriminalitätsbegünstigende Wertvorstellungen verbreiten können. Eine Spielart der Desintegrationstheorien ist der ökologische Ansatz, wonach es einen Zusammenhang zwischen Städtebau (und städtebaulichem Verfall) und Kriminalität gibt. In diesem Geiste stehen auch die Kultur(konflikt)theorien. Sie stellen ab auf unterschiedliche kulturelle Wert- und Verhaltensnormen, die sich nicht vereinen lassen und daher zu Konflikten führen. Insbesondere hinsichtlich Migranten findet diese Theorie Anklang. Aber auch bei der Erklärung kriminellen Verhalten spezieller Subkulturen, die eigene Regeln haben wie z.B. Gangs, liefern diese Theorien ihren spezifischen Beitrag. Allen bisher vorgestellten Kriminalitätstheorien ist eines gemein: Sie betrachten kriminelles Verhalten als eine Abweichung von sozialen Normen. Darin liegt eine der Grenzen derartiger Theorien. Denn Kriminalität ist immer auch gesellschaftlich definiert. Kriminalisierungstheorien – auch Interaktionstheorien genannt – greifen diese Sichtweise auf.
Etikettierung – Definition – Label(l)ing Approach
Einige Theorien gehen davon aus, dass von der Norm abweichendes menschliches Handeln nicht von sich aus kriminell sei, sondern dass das Handeln erst in einem Zuschreibungsprozess durch die Instanzen der formellen Sozialkontrolle, also dem Gesetz oder der Justiz, als kriminell definiert wird. Diese Zuschreibung ‚kriminell‘ wird Etikettierung oder (englisch) label(l)ing genannt. Eine derartige Etikettierung ist ein aktiver Prozess, weshalb aus theoretischer Perspektive nicht mehr von Kriminalitätstheorien gesprochen wird, sondern von Kriminalisierungstheorien.
Der Schwerpunkt der verschiedenen Ausprägungen des labeling approaches liegt auf der Bewertung, der Zuschreibung (engl.=label; Etikett) und somit Stigmatisierung durch staatliche Instanzen als Reaktion auf als abweichend bezeichnetes Verhalten. Aus diesem Blickwinkel wird weniger das kriminelle Handeln als erklärungsbedürftig angesehen, sondern eher die Etikettierung. Genau darin liegt jedoch einer der Hauptangriffspunkte dieser Ansätze, denn in erster Linie soll das abweichende Verhalten erklärt werden und nicht das normkonforme, nichtkriminelle Verhalten. Wurde ein Verhalten als kriminell etikettiert, reagieren die Personen im Umfeld des Täters auf Grund des Etiketts mit Ausgrenzungs-, Stigmatisierungs- und Degradierungshandlungen - sie stempeln ihn ab. Abgesehen davon ist ein anderer Effekt des Etiketts „kriminell“, dass es auch Auswirkungen auf das Selbstbild des Täters haben, und zwar in Form der self-fullfilling prophecy, der „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“. Damit ist gemeint, dass ein Täter das Etikett ‚kriminell‘ für sich übernimmt, in das eigene Selbstbild integriert und sich dann entsprechend der offiziellen Zuschreibung rollenkonform – kriminell – verhält. Diese Etikettierung mit den weitreichenden Folgen ist besonders bedeutsam für die Erklärung des Konzeptes „kriminelle Karriere“ von Mehrfachtätern. Andererseits verschärfen die Stigmatisierungseffekte „kriminelle Karrieren“ weiterhin.
Alternativansätze
Keiner der bislang aufgezeigten, vorwiegend einseitig erklärenden Theorien wird in der Fachliteratur eine hinreichende Erklärungskraft zugestanden. Aus der Erkenntnis heraus, dass disziplin-, themen- oder gegenstandsbezogene Theorien immer eben wegen des gewählten Zugangs begrenzt sind, wurden integrative Konzepte entwickelt. Integrationskonzepte vereinen verschiedene Herangehensweisen. Die entwicklungskriminologische Sicht beispielsweise ist ein interdisziplinärer Ansatz mit Elementen der Psychologie sowie der Soziologie. Aus diesem Blickwinkel wird darauf verwiesen, dass in verschiedenen Entwicklungsstadien unterschiedliche Einflussfaktoren herangezogen werden müssen. Dabei müssen aber mögliche Wendepunkte, die die Entwicklungsrichtung beeinflussen, entsprechend berücksichtigt werden. Auch Integrationsbemühungen zielen darauf, durch Projektion auf den Lebenslauf, Themen und Befunde unterschiedlicher Herkunft in eine nachvollziehbare Abfolge zu bringen. Ähnlich der Integrationsbemühungen wurden auch sogenannte „übergreifende Theorien“ gebildet. Exemplarisch seien hier die „Low self control“-Theorie von Hirschis und Gottfredsons, die „Theorie des ‚reintegrative shaming‘ von John Braithwaite oder aber aus Deutschland Sebastian Scheer & Henner Hess‘ „Skizze einer konstruktivistischen Kriminalitätstheorie“ genannt. Obwohl diese Theorien mehrere Ansätze aus verschiedenen Disziplinen zusammenführen als auch die Etikettierung nicht außen vor lassen, sind sie keineswegs unumstritten. Daher wurde ihnen von Göppinger et al ein eher empirisch ausgerichteter Ansatz mit multifaktoriellen Analysen entgegengestellt. Dieser Ansatz zielt jedoch weniger auf Theorien mit ihren zugrunde liegenden Kausalbeziehungen als auf eine vorwiegend empirisch fundierte Erklärung, weshalb er wiederum als theorieloser Ansatz kritisiert wird.
Nicht nur die Verknüpfung und Integration verschiedener biologischer, sozial-/ psychologischer und soziologischer Theorien entweder auf der Ebene des Individuum, dessen Umfeld, der Gesellschaft oder querbeet sind geeignet, kriminelles Verhalten zu erklären. Das Problem hieran ist, dass sie alle in erster Linie täterorientiert erklären. Daher gibt es im Gegensatz zur täterorientierten auch die opferorientierte Herangehensweise.
Viktimologie: "Opferforschung"
Diese auch „viktimologisch“ (Viktimologie = Lehre vom Verbrechensopfer) genannten Ansätze, gehen davon aus, dass bestimmte Konstellationen das Risiko erhöhen, Opfer zu werden. Diese Forschungsrichtung gewinnt zunehmend an Bedeutung, orientiert sich aber zumeist an den traditionellen, oben vorgestellten Kriminalitätstheorien. Opferorientierte Theorien knüpfen an drei hauptsächlichen Punkten an, warum Menschen Opfer von Straftaten werden. Zum einen rückt dabei (1) die Person, die Persönlichkeit des Opfers in den Blick, hinzu kommen bestimmte Opferdispositionen (z.B. Theorie der erlernten Hilflosigkeit) und (2) die Beziehung zum Täter (Interaktionistische Theorie, Opferpräzipitation). Auch die Tatsituation (3) spielt insbesondere in situationsorientierten Ansätzen eine tragende Rolle. Weitere Aspekte sind gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie z.B. die Machtlosigkeit der Opfer oder auch kulturelle Einflüsse (z. B. die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Minderheit). Besondere Betonung erfahren in diesen Ansätzen situative Bedingungen, worunter die Attraktivität eines potentiellen Tatziels und das Fehlen wirksamer Schutzmechanismen fallen. Opferorientierte Ansätze dienen in erster Linie der Prävention und bedeuten keine Schuldzuschreibung auf die Opfer.
Schlussbetrachtung
Es gibt nicht DIE eine, richtige und vollständige Erklärungstheorie für abweichendes und kriminelles Verhalten. Der umfangreiche Forschungsbestand bietet zahlreiche Kriminalitätstheorien, Erklärungsansätze und Konzepte. Aber obwohl sich die Kriminalitätstheorien zum Teil deutlich unterscheiden, ist allen gemein, dass sie beschränkt sind in ihrer Reichweite und Perspektive. So zahlreich die Kriminalitätsdelikte sind, so verschieden sind auch ihre Akteure und ihre Gründe. Daher können Theorien immer nur einen Teil erklären. Jedoch bedeutet dies nicht, dass Kriminalitätstheorien deshalb nutzlos sind. Vielmehr besteht die Herausforderung darin, einen größtmöglichen Teil kriminellen Verhaltens zu erklären. Für eine solche Theorie sind eine interdisziplinäre Sichtweise sowie verschiedene Bezugspunkte erforderlich und im Idealfall berücksichtigt eine solche Theorie auch, dass die Definition von Kriminalität immer wieder Veränderungen unterliegt.