"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." lautet der wohl berühmteste unvollendete Satz im Vorfeld des Mauerfalls am 9. November 1989. Die übrigen Worte des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher gingen im Jubelsturm unter. Mehr als 4.000 DDR-Flüchtlinge lagen sich an diesem Abend des 30. September 1989 in der westdeutschen Botschaft in Prag vor Freude in den Armen. Einige von ihnen hatten dort seit Wochen ausgeharrt, um nach Westdeutschland auszureisen.
Flucht in westdeutsche Botschaften
Bereits seit Mitte der 1980er Jahre hatten sich immer mehr DDR-Bürgerinnen und -Bürger in bundesdeutsche Botschaften in den Ländern des Ostblocks, vor allem in Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei, geflüchtet, um ihre Ausreise in den Westen durchzusetzen.
Die Ausreisewilligen harrten etwa in Prag, Budapest, Warschau, aber auch in Ost-Berlin aus. Einige der Botschaftsbesetzer/-innen wurden von der Bundesrepublik
Im Sommer 1989 erreichte die Zahl der Flüchtlinge in den bundesdeutschen Botschaften einen neuen Höhepunkt. Auf dem Gelände der Prager Botschaft im Palais Lobkowicz hielten sich bis Mitte August bereits über 120 Menschen auf, am 22. August musste die Botschaft wegen Überfüllung für den Publikumsverkehr geschlossen werden. Jeden Tag stiegen mehr Menschen über den bis zu vier Meter hohen Zaun.
QuellentextStasi-Bericht vom 9. September '89 über Ausreisemotive
Die überwiegende Anzahl dieser Personen wertet Probleme und Mängel an der gesellschaftlichen Entwicklung, vor allem im persönlichen Umfeld, in den persönlichen Lebensbedingungen und bezogen auf die so genannten täglichen Unzulänglichkeiten, im Wesentlichen negativ und kommt, davon ausgehend, insbesondere durch Vergleiche mit den Verhältnissen in der BRD und in Westberlin, zu einer negativen Bewertung der Entwicklung in der DDR.
Die Vorzüge des Sozialismus, wie zum Beispiel soziale Sicherheit und Geborgenheit, werden zwar anerkannt, im Vergleich mit aufgetretenen Problemen und Mängeln jedoch als nicht mehr entscheidende Faktoren angesehen. [...] Das geht einher mit der Auffassung, dass die Entwicklung keine spürbaren Verbesserungen für die Bürger bringt, sondern es auf den verschiedensten Gebieten in der DDR schon einmal besser gewesen sei. Derartige Auffassungen zeigen sich besonders auch bei solchen Personen, die bisher gesellschaftlich aktiv waren, aus vorgenannten Gründen jedoch "müde" geworden seien, resigniert und schließlich kapituliert hätten. [...]
Diese Personen gelangen in einem längeren Prozess zu der Auffassung, dass eine spürbare, schnelle und dauerhafte Veränderung ihrer Lebensbedingungen, vor allem bezogen auf die Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse, nur in der BRD oder Westberlin realisierbar sei. [...]
Als wesentliche Gründe/Anlässe für Bestrebungen zur ständigen Ausreise bzw. das ungesetzliche Verlassen der DDR - die auch in Übereinstimmung mit einer Vielzahl von Eingaben an zentrale und örtliche Organe/Einrichtungen stehen - werden angeführt:
Unzufriedenheit über die Versorgungslage;
Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen;
Unverständnis für Mängel in der medizinischen Betreuung und Versorgung;
eingeschränkte Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR und nach dem Ausland;
unbefriedigende Arbeitsbedingungen und Diskontinuität im Produktionsablauf;
Unzulänglichkeiten/Inkonsequenz bei der Anwendung/Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie Unzufriedenheit über die Entwicklung der Löhne und Gehälter;
Verärgerung über bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe, Betriebe und Einrichtungen sowie über Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern;
Unverständnis über die Medienpolitik der DDR. [...]
Diese Argumentation erfährt ihre Zuspitzung durch den Verweis darauf, dass die Besitzer von Devisen [...] im Wesentlichen alles erwerben könnten. Es wird Kritik am so genannten doppelten Währungssystem, an Intershops, Valutahotels und an "Privilegien" für Devisenbesitzer geübt. [...]
Im untrennbaren Zusammenhang damit wirken aktuelle Entwicklungstendenzen in anderen sozialistischen Staaten, insbesondere in der Ungarischen Volksrepublik, Volksrepublik Polen und der Sowjetunion, durch die in beachtlichem Umfang Zweifel an der Einheit, Geschlossenheit und damit der Stärke der sozialistischen Staatengemeinschaft entstanden sind, die zunehmend auch zu Zweifeln an der Perspektive und Sieghaftigkeit des Sozialismus überhaupt führen.
Arnim Mitter, Stefan Wolle (Hg.), Ich liebe euch doch alle. Befehle und Lageberichte des MfS, Berlin 1990, S. 141 ff.
Diplomatische Vermittlung
Die angespannte Situation in den westdeutschen Botschaften führte dazu, dass die BRD-Regierung stärkeren Druck auf die DDR-Führung ausübte, in der Flüchtlingsfrage einzulenken.
Überraschender Kompromiss
Doch dann ließ sich die Führung in Ost-Berlin überraschend auf einen Kompromiss ein: Die Flüchtlinge sollten in Sonderzügen über DDR-Territorium in den Westen ausreisen. Damit wollte die SED-Führung den Anschein wahren, die Ausreisenden offiziell auszuweisen. Der Ständige Vertreter der DDR, Horst Neubauer, überbrachte Genscher diese Nachricht nach dessen Rückkehr aus New York. An dem Treffen am Morgen des 30. Septembers im Bonner Kanzleramt nahm auch der damalige Kanzleramtschef Rudolf Seiters teil, der für die deutsch-deutschen Verhandlungen in der Flüchtlingsfrage mitverantwortlich war. Im Anschluss flogen Genscher und Seiters nach Absprache mit Bundeskanzler Helmut Kohl unverzüglich nach Prag.
Als Genscher am 30. September um kurz vor 19 Uhr den Balkon der Prager Botschaft betrat, befanden sich über 4.000 Flüchtlinge auf dem Gelände. Sie hatten zum Teil seit Wochen auf dem matschigen Gelände kampiert. Dann erklärte Genscher, dass ihre Ausreise genehmigt wurde und sie in Sonderzügen durch die DDR in die Bundesrepublik gebracht würden. Nachdem das Wort „Ausreise“ gefallen war, brachen die Menschen in Jubelschreie aus. Zunächst waren viele der Geflüchteten besorgt, dass die Züge auf dem Gebiet der DDR doch angehalten werden könnten. Die westdeutschen Diplomaten garantierten ihnen jedoch eine sichere Durchreise und entsendete Botschaftsmitarbeiter, um die Züge zu begleiteten.
Mit Sonderzügen in den Westen
Noch am Abend des 30. September wurden die ersten Flüchtlinge mit Bussen zum Bahnhof Praha-Libeň gebracht. Wie mit der DDR-Führung vereinbart, ging ihre Fahrt über Dresden in das bayerische Hof, Externer Link: wo der erste Sonderzug am Morgen des 1. Oktober eintraf.
Ankunft der Flüchtlinge aus der Prager Botschaft am 5. Oktober 1989 in Hof (Bayern). (© picture-alliance/dpa)
Ankunft der Flüchtlinge aus der Prager Botschaft am 5. Oktober 1989 in Hof (Bayern). (© picture-alliance/dpa)
Dem historischen Balkonauftritt Genschers und der Ausreise der DDR-Bürger/-innen folgten weitere Ausreisewellen. Am 3. Oktober befanden sich erneut mehr als 5.000 Menschen auf dem Gelände der Prager Botschaft und weitere 2.000 auf dem Vorplatz. Auch ihnen wurde die Ausreise gewährt. Bei der Durchfahrt der Sonderzüge durch Dresden ereigneten sich zum Teil dramatische Szenen. Menschen versuchten auf die Züge aufzuspringen, weil sie ihre Chancen auf eine Ausreise auf anderen Wegen schwinden sahen: Die DDR-Führung hatte die Grenzen zur Tschechoslowakei kurzfristig geschlossen, um weitere Ausreisen unmittelbar vor den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 zu verhindern. Am 3. November wurde den Bürgerinnen und Bürgern der DDR die direkte Ausreise aus der Tschechoslowakei in den Westen erlaubt. Sechs Tage später, am 9. November,