577 Abgeordnete für dieselbe Anzahl von Wahlkreisen wurden am 11. und 18. Juni in zwei Wahlgängen gewählt. Die Wahlen zur Assemblée Nationale (Nationalversammlung), dem Unterhaus des französischen Parlaments, traten dieses Jahr aus dem Schatten der Präsidentschaftswahlen heraus und standen im Fokus der Aufmerksamkeit wie selten zuvor. Sie galten als "dritter Wahlgang" und entscheidend dafür, ob der gerade gewählte Präsident Emmanuel Macron eine Mehrheit für sein politisches Projekt erlangen kann.
Laut französischem Innenministerium errang seine Bewegung "La République en Marche!" nach beiden Wahlgängen 308 Mandate, das sind 53,4 Prozent der Sitze, die mit ihr verbündete demokratische Bewegung MoDem kommt auf 42 Mandate (7,3 Prozent). Damit kann Macron auf eine für seine Gesetzesvorhaben notwendige absolute Mehrheit von 350 Mandaten bauen.
"Les Républicains" haben im neuen Parlament nur noch 113 Mandate, das sind 19,6 Prozent der Sitze, die Sozialistische Partei 29 (5,2 Prozent). Die 2016 gegründete linke Reformbewegung "La France insoumise" erhielt bei ihrer Wahlpremiere 17 Abgeordnete (3 Prozent). Der rechtspopulistische Front National kommt nur auf acht (1,4 Prozent) Mandate, darunter Parteichefin Marie Le Pen und Frankreichs Kommunistische Partei auf zehn (1,7 Prozent). (Quellen: Externer Link: Französisches Innenministerium und Externer Link: Le Monde vom 19.6.2017).
Dies ist die neue Sitzverteilung in der Nationalversammlung, Parteibündnisse sind zusammengefasst:
In der Nationalversammlung 75 Prozent der Sitze neu besetzt
Die Wahlbeteiligung fiel am 18. Juni allerdings gering aus. Mehr als 57,3 Prozent der Wahlberechtigten gingen beim zweiten Wahlgang nicht mehr zur Stimmabgabe - in Frankreich der bisherige Tiefstwert. Als Gründe gelten neben sommerlichen Ausflugswetter eine relative Wählerfrustration über das bereits absehbare Wahlergebnis seit dem ersten Wahlgang, da sich Macrons klare Mehrheit und das Scheitern vieler bekannter Kandidaten bereits abzeichneten.
Dagegen überraschten zwei vergleichsweise hohe Werte: Von den künftigen 577 Abgeordneten in der Nationalversammlung erhalten 423, also 75 Prozent erstmals einen Sitz im Parlament. Die französische Zeitung Le Monde sprach von einem "Rekord". Und 223 Parlamentsmitglieder sind Frauen. (Aufgliederung: Externer Link: Schaubild in der Zeitung Liberation sowie Reportage über prominente Externer Link: Zu- und Abgänge im Parlament in der NZZ vom 21.6.2017).
Ein solch klarer Sieg war im Vorfeld des ersten Wahlgangs alles andere als sicher: Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai standen sich diesmal vier etwa gleichgroße politische Formationen gegenüber. Emmanuel Macrons Bewegung aus der politischen Mitte "La République en Marche!" (zu Deutsch in etwa: "Vorwärts!"), Marine Le Pens rechtsextremer "Front National" (FN), die konservativen "Les Républicains" (LR) und Jean-Luc Mélenchons linke Bewegung "La France insoumise" (zu Deutsch: "das sich nicht unterwerfende Frankreich").
Emmanuel Macron hat keine traditionelle Partei hinter sich, sondern muss auf den Erfolg der noch jungen Bewegung setzen. Das Parteiensystem, das einst auf zwei großen Parteifamilien – der "Parti Socialiste" (PS) und den "Républicains" (LR) – entlang der zentralen Links-Rechts-Trennlinie beruhte, ist zersplittert. Mit der Ernennung des gemäßigt-konservativen Edouard Philippe zum Premierminister einer Regierung, in der Mitglieder der Linken gleichermaßen wie der Konservativen vertreten sind, hat Emmanuel Macron eine völlig neuartige politische Situation für Frankreich geschaffen. Der größte Verlierer der Wahlen sind die Sozialisten. Zahlreiche Köpfe der Partei wurden abgewählt, darunter auch ihr Parteivorsitzender Jean-Christophe Cambadélis und Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon.
Macrons klarer Sieg wird jedoch überschattet: Zum ersten Mal in der Geschichte der Fünften Republik hat sich die Mehrheit der Wähler, nämlich 51,3 Prozent, enthalten, im zweiten Wahlgang sogar 56,6 Prozent. Damit kann er sich zwar auf die Parlamentsmehrheit berufen, nicht jedoch darauf, die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben. Damit werden er und seine Regierung noch mehr Energie dafür aufwenden müssen, eine Bevölkerung, die vielerorts frustriert vom politischen Leben ist, wieder mitzunehmen.
Absolute Mehrheit statt Cohabitation
Für Macron ist das Ergebnis zentral, denn ein gewählter Präsident kann nichts durchsetzen, wenn er keine Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Laut Verfassung ist es die Politik der Parlamentsmehrheit, die umgesetzt wird, und nicht diejenige des Staatschefs. Entstammt diese Mehrheit einer anderen politischen Familie als der Präsident, so ist auch sie es, die die Regierung stellt – es besteht dann eine Cohabitation (wörtlich "Zusammenleben"). Diese schwierige Konstellation sollte 2002 mit einer Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre und der Angleichung an den Wahlzyklus des Parlaments eigentlich dauerhaft verhindert werden. Die jüngsten Parlamentswahlen demonstrieren den Erfolg dieser zeitlichen Kopplung: Wieder haben die Franzosen so gewählt, dass der amtierenden Präsidenten eine Mehrheit hat. Die Bemühungen der Républicains, Macron in eine Cohabitation zu zwingen, sind gescheitert. Auch eine Koalition, eine Form der Regierungsbildung, die bisher kaum im politischen System Frankreichs vorkam, wird nicht nötig sein. Macrons Bemühungen, eine breite Basis aus gemäßigt linken und gemäßigt konservativen Politikern zu schaffen, sind gelungen.
Mehrheitswahlrecht vs. Verhältniswahlrecht
Das Mehrheitswahlrecht förderte bislang eine klare Mehrheitsbildung in der Assemblée Nationale und ist auf ein klassisches Zweiparteiensystem mit einer starken linken und einer starken konservativen Kraft ausgerichtet. Die derzeitige politische Situation mit dem Auftreten einer dritten Kraft aus der Mitte, sowie einer rechtsextremen und einer zweiten linken Partei bringen dieses System an seine Grenzen. Könnte das Verhältniswahlrecht dieser Änderung Rechnung tragen? Diskussionen über die Einführung des Verhältniswahlrechts gab es in Frankreich immer wieder; unter François Mitterand wurde es 1986 sogar einmal angewandt, als seiner "Parti Socialiste" sonst der Verlust zahlreicher Sitze drohte. Auch François Hollande versprach seinerzeit, einen Teil der Assemblée per Verhältniswahlrecht wählen zu lassen, setzte eine entsprechende Reform aber nicht um. Im jüngsten Präsidentschaftswahlkampf sprachen sich auch Emmanuel Macron, Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon für eine solche zumindest teilweise Einführung des Verhältniswahlrechts aus. Die Parteien bzw. Bewegungen der beiden letzteren wären es freilich auch, die am stärksten davon profitieren würden. Bislang musste der FN sich mit zwei Sitzen begnügen; im neuen Parlament kommt er auf bis zu 10 Sitze. Damit besteht ein starker Kontrast zu den Präsidentschaftswahlen, bei denen im zweiten Wahlgang immerhin 33 Prozent für seine Kandidatin Marine Le Pen gestimmt haben. Klar ist: Das Verhältniswahlrecht würde die bisherige Funktionsweise des französischen Parlaments mit seinen klaren Mehrheitsverhältnissen auf den Kopf stellen. Es würde aber auch dazu beitragen, mehr Franzosen in dieser wichtigen Institution zu repräsentieren, als es derzeit der Fall ist, und damit dem großen Vertrauensverlust der Wähler in ihre politische Elite entgegentreten.
Die Zeichen stehen auf Erneuerung
Die neue Assemblée Nationale erfährt mit diesen Wahlen eine grundlegende Erneuerung: Nicht nur erreicht eine neue politische Gruppierung die Mehrheit. Auch bei den anderen Parteien kündigen sich Erneuerungen an: Rund ein Drittel der bisherigen derzeitigen Abgeordneten ließ lässt sich nicht nochmal aufstellen. Ein Grund dafür ist das Inkrafttreten eines Gesetzes von 2014, welches das Ausüben mehrerer Funktionen gleichzeitig untersagt. Folglich geben viele Abgeordnete anderen Ämtern den Vorzug. Viel Zeit zur Eingewöhnung wird das Parlament jedoch nicht haben: Emmanuel Macrons Priorität ist eine schnelle Reformierung des Arbeitsrechts. Um diesen Prozess zu beschleunigen, hat er schon angekündigt, diese Gesetze im Sommer per Verordnung durchzubringen, was der Zustimmung des Parlamentes unterliegt. Zwar hat er nun eine parlamentarische Mehrheit im Rücken, unumstritten ist sein Projekt jedoch nicht. Die politischen Gräben bleiben tief.
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