Die Proteste hatten sich am vergangenen Freitag (31. Mai) an der gewaltsamen Räumung eines Protestcamps im Gezi-Park entzündet. Die Demonstranten hatten den Park am zentralen Taksim-Platz im europäischen Teil von Istanbul besetzt, um die Abholzung der dortigen Bäume zu verhindern: Auf dem Gelände des Parks soll unter anderem ein Einkaufszentrum entstehen.
Mit enormer Härte hatte die Polizei den Protesten mit Wasserwerfern, Knüppeln und Tränengas entgegnet und die Situation eskalieren lassen. Angesichts des unverhältnismäßigen Vorgehens der Polizisten solidarisierten sich immer mehr Menschen mit den Parkbesetzern. Es kam zu schweren Ausschreitungen – zunächst in Istanbul, später griffen sie auch auf andere Städte der Türkei über. Inzwischen ist es in nahezu allen Provinzen des Landes zu Protesten gekommen. Die türkische Ärztevereinigung TTB spricht von weit über 4.000 Verletzten. Mehrere Tausend Festnahmen meldet Amnesty International Turkey und fordert die Regierung auf, genaue Zahlen zu veröffentlichen. Im Internet kursieren unzählige Videos, auf denen friedliche Demonstranten von der Polizei misshandelt werden. Aktivisten berichteten, die Polizei feuere auf kürzeste Distanz Tränengasgranaten auf Demonstranten und habe dadurch viele Menschen schwer verletzt.
Am Montag verstarb ein 22-jähriger Mann in Antakya. Abdullah Cömert sei von zwei schweren Schlägen auf den Kopf getroffen worden. Cömert ist eins von offiziell insgesamt drei bestätigten Todesopfern der türkeiweiten Ausschreitungen. Bereits am Wochenende war ein 20-Jähriger getötet worden, als ein Auto in Istanbul in eine Demonstration raste.
Inoffizielle Quellen berichteten bereits am Wochenende von allein sechs Toten in Istanbul.
Internationale Kritik an türkischer Polizei
International löst die anhaltende Gewalt Besorgnis aus: Der Präsident des Europaparlaments Martin Schulz bezeichnete das Vorgehen der Polizei als "völlig unangemessen". Ähnlich kritisch äußerte sich eine Sprecherin der US-Regierung. Friedliche Demonstrationen seien Ausdruck der demokratischen Meinungsbildung. Die USA erwarteten von den türkischen Sicherheitskräften Zurückhaltung.
In vielen europäischen Städten kamen Demonstranten zu Solidaritätskundgebungen zusammen, darunter Berlin und Paris.
Wut auf Erdoğan schweißt Demonstranten zusammen
Premier Recep Tayyip Erdoğan geht unterdessen nicht auf die Demonstranten zu. Vor seinem Abflug zu einer Auslandsreise sprach er von "extremistischen Elementen", die die Demonstrationen organisiert hätten. Sowohl inländische als auch ausländische Kreise hätten ihre Finger im Spiel. Ihnen drohte er mit harten Konsequenzen: Der Geheimdienst suche schon die Drahtzieher und werde mit ihnen "abrechnen", sagte er gegenüber Journalisten. Dass er an der Bebauung des Gezi-Parks festhalten möchte, bestätigte er zuletzt heute (6. Juni) während seines Besuchs in der tunesischen Hauptstadt Tunis, berichtet die Agentur AFP. Einen Teil der Protestteilnehmer rückte er dabei in die Nähe des "Terrorismus".
Staatspräsident Abdullah Gül und erstmals auch ein Vertreter der Regierung, Vizeregierungschef Bülent Arınç, bemühen sich derweil um Deeskalation. Am Dienstag entschuldigte sich Arınç für die Gewalt gegen friedliche Demonstranten am Gezi-Park. Zuvor hatte bereits der Staatspräsident versöhnliche Töne angeschlagen: Die Botschaft der Demonstranten werde gehört.
Entgegen der Einschätzung von Premier Erdoğan ist auch nach knapp einer Woche anhaltender Proteste keine zentrale Steuerung der Erhebung erkennbar. Vielmehr ist es die Person Erdoğan selbst, gegen die sich die sehr heterogene Protestbewegung zusammenschweißt: In den Auseinandersetzungen haben sich Sozialdemokraten, Kurden, Nationalisten, Angehörige der Aleviten, gläubige Sunniten und Atheisten, die in der Türkei traditionell starken Fanclubs von Fußballvereinen, Rentner und Studenten zusammengeschlossen. Aber auch extreme Rechte, die der Regierung mangelnde Stärke im Syrienkonflikt vorwerfen, die Annäherung an die EU und die Verhandlungen mit der kurdischen PKK ablehnen, sind inzwischen Teil des Protestes.
Dass die Protestwelle weite Teile der Gesellschaft erfasst hat, zeigt auch das Verhalten der Gewerkschaften: Aus Protest gegen das brutale Vorgehen der Polizei solidarisierte sich am Dienstag der Gewerkschaftsbund KESK mit den Demonstranten und rief zu einem zweitägigen Streik auf. Der Bund forderte seine knapp 240.000 Mitglieder auf, gegen den "Faschismus" der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und für eine demokratische Türkei zu demonstrieren. Weitere Gewerkschaften haben sich inzwischen dem Streik angeschlossen.
Gründe für die Protestwelle
Viele Türken werfen dem seit mehr als zehn Jahren regierenden Erdoğan einen zunehmend autoritären Führungsstil vor. Knapp 50 Prozent der Wähler haben seiner konservativ-islamischen AKP bei der bisher letzten Parlamentswahl 2011 ihre Stimme gegeben. Angesichts dieser parlamentarischen Mehrheit sehe der Ministerpräsident immer seltener die Notwendigkeit, auf Opposition, Experten oder die Bürgerinteressen Rücksicht zu nehmen.
Dies wurde nicht zuletzt in den Diskussionen um die Neu-Bebauung des Gezi-Parks deutlich: Stadtplaner, lokale Politiker und Anwohner kritisierten das Projekt, da es der Stadt schon jetzt an Grünflächen mangele. Erdoğan drängte dennoch darauf, die Bebauung des Parks mit allen Mitteln durchzusetzen. Ähnlich wurden auch andere große Bauprojekte in der Türkei ohne Rücksicht auf frühere Anwohner umgesetzt. Die Metropole Istanbul ist davon in besonderer Weise betroffen. Der "Turbokapitalismus", der die türkische Wirtschaft seit Jahren wachsen lässt, hat so auch die Kluft zwischen Arm und Reich drastisch vergrößert.
Innerhalb der letzten Jahre hat sich in unterschiedlichen politischen und kulturellen Zusammenhängen der Türkei große Unzufriedenheit mit der Regierung angestaut, die nun in dem aktuellen Widerstand zum Ausdruck kommt. Der anfängliche Parkprotest ist zu einer grundsätzlichen Kritik am Premier und seiner Regierung geworden.
Erstmals geht es dabei nicht mehr um die seit Jahrzehnten eingespielte Auseinandersetzung zwischen
Doch nicht nur persönliche, sondern auch politische Rechte sehen die Kritiker Erdoğans in Gefahr. Dem Premier wird vorgehalten, ein präsidiales Regierungssystem nach russischem Vorbild schaffen zu wollen, in dem etwa ohne parlamentarische Zustimmung und Kontrolle neue Richter eingesetzt werden könnten.
Eingeschränkte Pressefreiheit
Die Türkei wird von "Reporter ohne Grenzen" auf Platz 154 ihrer weltweiten Rangliste zur Pressefreiheit geführt. Seit dem Ende des Militärregimes 1983 saßen nach Angaben der Organisation zu keiner Zeit so viele Journalisten im Gefängnis wie heute.
Den großen Fernsehsender bringen immer weniger türkische Bürger Vertrauen entgegen. Als die Proteste am Freitag begannen, zeigte u.a. CNN-Türk Kochsendungen und Tierfilme anstatt über die aktuellen Ereignisse zu berichten. Soziale Medien sind daher zur wichtigsten Informationsquelle der Revoltierenden geworden.
Die Regierung hat darauf bereits reagiert: Wegen der Verbreitung "irreführender und beleidigender Informationen" im Nachrichtendienst Twitter sind laut dpa-Meldung in der Nacht zum Mittwoch mindestens 25 Menschen in Izmir festgenommen worden. Nach etwa zehn weiteren Verdächtigen werde gesucht.
Trotz des repressiven Vorgehens der türkischen Regierung gehen die Demonstrationen gegen den Ministerpräsidenten weiter. Manche Kommentatoren sprechen angesichts der landesweiten Protestwelle gar von einem "Türkischen Frühling" und bringen die Situation in der Türkei damit in einen Zusammenhang mit den Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen.
Gleichzusetzen sind die Proteste in der Türkei jedoch keinesfalls mit denen des arabischen Frühlings. Es ist unklar, wie groß die Unterstützung der Protestierenden in der türkischen Gesellschaft ist. Erst 2011 ist Recep Tayyip Erdoğan mit überwältigender Mehrheit demokratisch im Amt bestätigt worden. Der enorme wirtschaftliche Aufstieg des Landes fällt allein in seine Amtszeit. Auch die konservative und islamische Politik der letzten Jahre wurde von großen Teilen der Bevölkerung begrüßt.