Nach dem 77-fachen Mord von Oslo und Utøya am 22. Juli 2011 hatte der norwegische Ministerpräsident Stoltenberg seine Landsleute zu mehr gesellschaftlicher Offenheit, Demokratie und Wachsamkeit gegen Intoleranz aufgefordert. Sie sollten auf die Taten nicht mit Wut und Hass reagieren, sondern Solidarität mit den Opfern in den Vordergrund stellen. Der Appell richtete sich auch an die Medien. Diese taten sich zunächst schwer mit einer sensiblen Berichterstattung.
Medien: Erfüllungsgehilfen des Täters?
Bereits kurz nach der Tat gelangten Fotos in die Öffentlichkeit, die den Täter, den 32-jährigen Anders Behring Breivik, in inszenierten Posen zeigten – gekleidet in eine Fantasieuniform. Des Weiteren kursierten im Internet ein zwölfminütiges Propagandavideo und ein mehr als 1.500 Seiten umfassendes Schriftstück, die der Täter im Vorfeld der Ereignisse verbreitet hatte. In diesen hatte er sein Weltbild und seine Tatmotive dargelegt sowie sein Vorgehen ausführlich dokumentiert. Es wurde deutlich, dass der Anschlag und die Morde erst den Auftakt eines Planes bilden sollten, der vorsah, ein breites Publikum für die anschließende Inszenierung des Täters und seiner Thesen zu schaffen. In einem Verhör gab Breivik zu Protokoll, er habe genug Menschen töten wollen, um die Aufmerksamkeit der internationalen Medien für sein “Manifest“ sicherzustellen. Die Tat selber sei lediglich “eine Formalität“ gewesen.
Die Medien standen vor einem Dilemma: Brisante Fakten und kontroverse Aussagen Breiviks versprachen ein hohes Publikumsinteresse. Angesichts der Konkurrenz um Auflage und Einschaltquote und aufgrund des journalistischen Informationsauftrags stand eine Berichterstattung außer Frage. Andererseits befürchteten die Medienvertreter, zum Erfüllungsgehilfen des Täters zu werden und diesem ein Forum für die Verbreitung seiner Thesen zu bieten. Zudem wurde befürchtet, durch die Publikation von Breiviks Motiven und Parolen Nachahmungstaten zu provozieren. Es drohte eine zusätzliche Belastung der Opfer durch die fortwährende Konfrontation mit dem Täter.
Dieses Dilemma wurde zwar thematisiert, der Verzicht auf eine Berichterstattung war dennoch keine Option. So wurde das Pamphlet Breiviks ausführlich aufgearbeitet und in Auszügen publiziert. Aussagen, Schnappschüsse und Propagandafotos des Täters wurden veröffentlicht.
Amokläufe wecken Interesse der Öffentlichkeit
Der Fall Breivik weist eine Parallelität zu dem Umgang der Medien mit der seit Ende der 1990er-Jahre andauernden Serie von Amokläufen an Schulen und Hochschulen auf: Auch hier betrieben die Täter häufig einen hohen Aufwand an Propaganda und nutzten ihre Tat als symbolischen Akt der Selbstinszenierung. Das öffentliche Interesse ist bei Amokläufen meist immens. In diesen Fällen ist es mittlerweile Konsens unter Journalisten und Wissenschaftlern, dass aufgrund der Gefahr von Nachahmungstaten und aus Rücksicht auf die Opfer Zurückhaltung und Neutralität geboten sind. Der Deutsche Presserat hat aus diesem Grund eigens einen journalistischen Leitfaden für die Berichterstattung über Schulamokläufe entwickelt.
Wie in mehreren Fällen von Schulamokläufen stieß die Berichterstattung im Fall Breivik zum Teil auf deutliche Ablehnung: Erboste Norweger initiierten die Aktion “Snur Tabloidaviser!“ (dt.: “Dreht die Boulevardzeitungen um!“). Sie nahmen Zeitungen mit dem Foto des Attentäters auf der Titelseite aus den Regalen oder drehten sie schlicht um. Die Hackergruppe Anonymus startete die “Operation UnManifest“, in deren Rahmen Breiviks Pamphlet durch das Bearbeiten von Fotos und Texten verunstaltet und anschließend unter dem Namen des Originales im Internet hochgeladen wurde. Hierdurch sollte die Propaganda des Täters verdrängt und lächerlich gemacht werden.
Live-Übertragung des Breivik-Prozesses
Nachdem die erste Welle der Aufmerksamkeit abgeflaut war und die Behörden die Öffentlichkeit mehrere Monate vor Breivik abgeschirmt hatten, führte der Prozessbeginn im April 2012 erneut zu enormer medialer Beachtung: 800 Journalisten aus aller Welt waren nach Oslo gereist. Die zum Verhandlungsauftakt vorgesehene Befragung des Angeklagten sollte auf Drängen des norwegischen Journalistenverbandes sowie auf Wunsch Breiviks live und zur Gänze im Fernsehen übertragen werden. Das Gericht beschränkte zwar die öffentliche Übertragung – dennoch wurde das von Breivik produzierte Propagandavideo in voller Länge gezeigt. Die Bilder eines vor Rührung weinenden Breiviks gingen um die Welt.
Auf Kritik an einer übermäßigen Täterzentrierung in der Berichterstattung reagierten viele Medienschaffende indem sie Staatsanwältin Inga Bejer Engh verstärkt in den Fokus rückten. Die Juristin versuchte, Thesen und Weltbild Breiviks durch geschickte Fragen systematisch ad absurdum zu führen. Das wachsende Bewusstsein dafür, dem Täter einen Triumph zu verwehren, zeigte sich mit Fortgang des Prozesses durchweg in einer sachlicheren, ruhigeren Berichterstattung, in der die Provokationen Breiviks zur Randnotiz wurden.
“Anti-Breivik-Button“ und weniger sensationsorientierte Berichterstattung
Auch in den deutschen Medien verbreitete sich zunehmend der Unwille, sich die Schlagzeilen von Breivik diktieren zu lassen. Die eigene Rolle wurde in zahlreichen Beiträgen kritisch hinterfragt und in der Folge distanzierte sich die Medienlandschaft von einer sensationsorientierten Berichterstattung. Vereinzelt fanden Medien sogar neue Wege für die Berichterstattung über den Massenmord: Eine norwegische Boulevardzeitung versah ihren Online-Auftritt mit einem “Anti-Breivik-Button“, durch den sich Artikel über den Prozess ausblenden ließen. Die norwegische Bevölkerung trug zu dieser Dekonstruktion bei: Eine abfällige Äußerung Breiviks über ein Friedenslied führte dazu, dass sich allein in Oslo 40.000 Menschen versammelten, um das Lied gemeinsam zu singen.
Der Prozess um den Täter ist abgeschlossen. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass es auch angesichts eines auf Schrecken und destruktive Symbolik abzielenden Aktes konstruktive Mittel und Wege gibt, dem Aggressor durch gesellschaftliche Geschlossenheit und bedachtes journalistisches Handeln entgegenzutreten. Auf diese Weise konnte dem Täter der angestrebte Triumph verwehrt bleiben.
Externer Link: Deutscher Presserat: Praxis-Leitfaden "Berichterstattung über Amokläufe – Empfehlungen für die Redaktion" (pdf-Dokument)