Im Jahr 2004 hat der amerikanische Journalist Ralph Keyes im Buch "The Post-Truth Era" seinen Landsleuten in einer im Rückblick geradezu altmodisch moralischen Weise vorgerechnet, wie oft sie im Alltag Euphemismen gebrauchen, unehrlich sind oder schlicht lügen würden. Keyes zielte zwar hauptsächlich auf die alltäglichen kleinen Lügen, er hatte aber auch schon Medien und Politiker als 'role models' (Vorbilder; Anm. d. Red.) fürs Lügen im Visier. Heute scheint sich durch alle politischen Diskurse von links bis rechts der Zweifel gefressen zu haben, ob man in der politischen Öffentlichkeit überhaupt noch auf so etwas wie die 'Wahrheit' oder 'Fakten' bauen kann. Das zeigt neu ein Buch aus dem Jahr 2016: In "Lies Incorporated. The World of Post-Truth Politics" von Ari Rabin-Havt erscheint die Lüge und die faktenfreie Rede nicht mehr primär als moralisches Problem der Durchschnittsamerikaner_innen, sondern als das bevorzugte tool (Werkzeug; Anm. d. Red.) im politischen Kampf um Deutungshoheit und Macht.
Postmoderne Beliebigkeit?
Desinformation und Propaganda sind sicher nichts Neues und im Kalten Krieg waren sie an der Tagesordnung. Neu ist aber – Donald Trump und andere Politiker führen es täglich vor –, dass es weniger darum geht, falsche Behauptungen wie Fakten aussehen zu lassen, wofür die Geheimdienste im Kalten Krieg einen ziemlichen Aufwand betrieben haben. Vielmehr bemüht man sich oft gar nicht mehr darum, die eigene Argumentation durch wissenschaftliche Fakten zu stützen. Der rechtsnationale Schweizer Politiker und auch in deutschen Talk-Shows dauerpräsente Journalist Roger Köppel etwa ließ in diesem Sinne während des US-Wahlkampfs 2016 verlauten, dass "bei Trump selbst die Lügen ehrlicher klingen als die hochgestochenen Pseudowahrheiten seiner Konkurrentin Clinton".
Das war nicht etwa kritisch gemeint: Lieber "ehrlich" lügen als "hochgestochen" die Wahrheit sagen (und was genau soll eine "Pseudowahrheit" sein…?). Politiker wie Trump, seine Beraterin Kellyanne Conway ("alternative facts") oder rechtsnationale Journalisten wie Köppel sprechen ohne Scheu aus, was sie im politisch-publizistischen Geschäft von der Wahrheit halten: "Fakten" müssen mit ihrem eigenen "Gefühl" für die Wahrheit und damit mit ihrer politischen Weltsicht übereinstimmen. Es erscheint heute zunehmend akzeptabel, den Eindruck zu erwecken, alle Fakten könnten in beliebiger Weise "interpretiert" werden. Rechts von der politischen Mitte wird daraus ein Programm: Völlig normale wissenschaftliche Kontroversen – etwa von Klimatologen über die Umstände des Klimawandels – gelten als Beleg dafür, dass diese auch nicht mehr als bloße "Meinungen" zu bieten hätten.
Was ist passiert? Kann man der amtlichen Statistik widersprechen, weil man etwas Anderes "fühlt"? Sind wissenschaftliche Erkenntnisse bloße Ansichtssache? Kann man gar "ehrlich lügen"…? Man reibt sich die Augen: Wie ist es möglich geworden, so zu denken? Viele kritische Beobachter behaupten, dies sei das Resultat der Postmoderne, d.h. die Folge eines angeblich verbreiteten anything goes, dem zynischen Spiel mit bloßen Worten, der frivolen Behauptung, 'alles' sei nur eine beliebige "Konstruktion" und überhaupt sei für die Postmoderne Wissen von Glauben nicht mehr zu unterscheiden…
Fragen Sie Kant!
Man kommt bei solchen Fragen schnell mit den ganz großen Problemen der abendländischen Philosophiegeschichte in Berührung: Was sind Wahrheit, Wirklichkeit, Realität, Vernunft, Erkenntnis? Seit Kant hat es auf diese alten Fragen in vielen Varianten die Antwort gegeben, dass wir von der Wirklichkeit nur das erkennen, was unsere Vernunft "nach ihrem Entwurfe hervorbringt", wie Kant sagte.
Die Moderne hat diesen Gedanken bis in unsere postmoderne Gegenwart hinein variiert. "Modern" heißt seither eine Gesellschaft bzw. eine Epoche, in welcher der Gedanke vorherrscht, dass es keine absoluten – etwa religiösen – Wahrheiten geben kann, sondern nur relative, d.h. an unser Erkenntnisvermögen zurückgebundene Wahrheiten. Kant versuchte, die Gewissheit von (wissenschaftlicher) Erkenntnis dadurch zu retten, dass er die Strukturen der menschlichen Vernunft als absolut gewiss und unveränderlich setzte. Ohne die gesamte Philosophiegeschichte seit Kant aufrollen zu wollen, lässt sich sagen: Diese Gewissheit löste sich schrittweise auf. Beispielsweise relativierten Hegel und Marx, aber auch der sogenannte Historismus, im 19. Jahrhundert Wahrheiten historisch, indem sie als zeitgebunden, nur für eine bestimmte Epoche gültig betrachtet wurden.
Ebenso einflussreich war die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts formierende Annahme, dass es keine Wahrheit außerhalb der Sprache geben könne. Die Ausgangsvermutung lautete: Weil wir ohne Sprache nicht denken und Aussagen über die Wirklichkeit machen können, bildet die Sprache gleichsam den unübersteigbaren Rahmen, ja die Schranke unseres Wissens von der Welt. Denn die Sprache verändert sich laufend, sie 'passt' nie ganz, sondern stellt immer nur den nie vollständig gelingenden Versuch dar, die Dinge in Worte zu fassen. Nietzsche und Wittgenstein sind die wichtigsten Gewährsleute dieses Konzepts, das landläufig erst der Postmoderne, d.h. dem späten 20. Jahrhundert zugerechnet wird. Richtig ist jedoch: Die philosophische Postmoderne hat nur die erkenntnistheoretischen Konzepte der Moderne, wie sie seit Kant angelegt und von Nietzsche und Wittgenstein weiterentwickelt wurden, konsequent zu Ende gedacht. Es ist also keinesfalls so, dass erst die Postmoderne die Wirklichkeit zu einer bloßen Konstruktion erklärt hätte.
Fakten sind nicht beliebig
Wahrheiten und damit auch das, was wir "Fakten" nennen, sind also an das menschliche Erkenntnisvermögen gebunden, variieren historisch, und sie bewegen sich nicht außerhalb unserer Sprache. Aus der Philosophie der Naturwissenschaften heraus entwickelte sich zusätzlich die Einsicht, dass "wissenschaftliche Tatsachen" (Ludwik Fleck) einem "Denkkollektiv" entstammen und unumgänglich von einem bestimmten "Denkstil" geprägt sind
Dies alles bedeutet, zusammengenommen, dass Fakten nicht außerhalb von Theorien, Konzepten, Modellen und Experimentalsystemen gedacht werden können, weil es ohne diese nicht möglich ist, die "chaotische Mannigfaltigkeit" der Welt zu ordnen, zu deuten und zu verstehen. Weil Modelle und Theorien aber veralten, kann Wissen schal und bislang für wahr Gehaltenes falsch werden. Ja, mehr noch: Aussagen über Fakten sind grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt, in irrigen Vorannahmen und fixen Überzeugungen, in Denkroutinen und Ideologien gefangen zu sein. Bedeutet das nun, dass sich Fakten nicht von Überzeugungen, Wahrheiten nicht von Lügen und Wissenschaft sich nicht von Glaube unterscheiden lassen? Und wenn nein – warum nicht?
Tatsachen bzw. Fakten gelten in der heute dominanten Wissenschaftstheorie – und zwar in den Natur- ebenso wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften – aus den angeführten Gründen als "Konstruktionen", das heißt als gemacht und von den Bedingungen ihrer Herstellung als wissenschaftliche Tatsachen geprägt. Das heißt im Umkehrschluss allerdings nicht, sie seien deshalb beliebig, bloße Erfindungen, Meinungen oder gar von Lügen nicht zu unterscheiden. Kein Postmoderner hat das je behauptet. Die Absicherung für die – immer nur relative – Verlässlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis liegt heute aber nicht mehr, wie bei Kant, in der Vernunft, sondern in einem durch gegenseitige Kontrolle, Überprüfung und Kritik strukturierten Forschungsprozess der scientific community. Argumente und Behauptungen über die Wirklichkeit müssen nachvollziehbar und überprüfbar sein, sie müssen andere Diskussionsteilnehmer_innen überzeugen und sie müssen an bisherige Diskussionen und Erklärungsmodelle anschließen können.
Aussagen über die Welt müssen, mit einem Wort, 'Sinn ergeben'. Wenn sie das nicht tun, gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Sie erweisen sich nach allen Maßstäben als falsch oder gelten als uninteressant (oder beides) – oder aber sie werden, früher oder später, zum Ausgangspunkt neuer Wahrheiten, neuer Erkenntnis, neuer Tatsachen. Fakten sind daher seit der Moderne und explizit in unserer Postmoderne "kontingent", wie der Soziologe Niklas Luhmann sagte
Ein letzter Punkt: Soweit es nicht die Natur, sondern die soziale Welt betrifft, ist seit der Postmoderne deutlicher denn je, dass unsere Welt ausschließlich aus kontingenten Regeln und zeitgebundenen Institutionen, aus Kommunikation und Interpretation besteht – von der Verfassung eines Staates bis zum Fußballspiel. Und die Postmoderne hat deutlich gemacht, wie sehr wir diese unsere soziale Wirklichkeit nicht außerhalb unserer Medien und unseres Sprechens erleben können. Doch das heißt nicht, dass diese Wirklichkeit beliebig ist: Ein Rotlicht ist eine vollständig kontingente Regel, ein einfacher Code, den man interpretieren können muss. Wer ihn falsch interpretiert, riskiert den Tod.
Eine Frage der Redlichkeit
Trotz der (nicht erst) postmodernen Absage an eine als absolut verstandene 'Objektivität' sind Fakten nach wie vor 'robust': Sie sind durch viele Evidenzen bestätigt, können widerlegt werden und erscheinen daher als die beste Auskunft, die wir gegenwärtig zu geben im Stande sind. Sich in 'nicht-absoluter', eben kontingenter Weise auf Fakten zu beziehen und um diese Kontingenz zu wissen, hat daher eine ethische Dimension: Es ist eine Frage der Redlichkeit, unseren Bezug auf Fakten immer mit einer Fußnote zu versehen, um offenzulegen, dank welcher Annahmen, Quellen und Modelle ein bestimmtes Faktum 'möglich', ja 'wahr' ist. Mit bestem Wissen und Gewissen, gleichsam.
Diese Redlichkeit ist ein doppelter Schutz. Sie schützt uns einerseits davor, "Positivist" zu sein, das heißt glauben zu machen, Fakten seien – ganz unabhängig von unserer Erkenntnistätigkeit – 'an sich' da und wahr und müssten bloß 'ans Licht' gebracht werden. Wer eine solche Vorstellung von 'Fakten' behauptet, tut mächtiger, als er menschenmöglich sein kann: Er wäre ein Dogmatiker, ein Ideologe in Gestalt eines 'Realisten'. Gegen solche Versuchungen hat die postmoderne Philosophie nicht nur immer wieder die Konstruiertheit, sondern auch die damit immer mögliche Vielfalt von Aussagen über die Wirklichkeit angemahnt. Man kann die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, und nicht alle der so entstehenden Bilder sind – auch bei bestem Wissen und Gewissen der Betrachter – deckungsgleich. Das aber bedeutet nicht, dass man n’importe quoi, dass man irgendetwas Beliebiges über die Wirklichkeit behaupten kann. Aussagen über die Welt müssen begründbar und für Andere nachvollziehbar sein, sonst sind es Glaubenssätze – oder Lügen. Im Garten steht kein rosaroter Elefant, auch wenn ich ihn "fühlen" oder an ihn glauben sollte. Oder auf Facebook von ihm gelesen, ja sogar ein Bild gesehen habe…
Diese Redlichkeit schützt daher andererseits auch gegen den Zynismus, der gegenwärtig am (breiten) rechten Rand des politischen Spektrums zu beobachten ist: Weil Wissenschaft, Experten und tendenziell komplizierte Erklärungen der Welt in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit als "links" oder "elitär" gelten, wird in ziemlich durchschaubarer Weise die postmoderne Erkenntnistheorie dazu missbraucht, die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit einzuebnen. Das hat mit der Postmoderne nichts zu tun, sondern enthüllt nur, wie wenig Leute, die von alternativen Fakten und ähnlichem sprechen, von Wissenschaft, Argumentation, Überprüfbarkeit und Rationalität halten. Das ist an sich nichts Neues. Aber es scheint durch die neuen technischen Möglichkeiten heute keine Geheimdienste mehr zu brauchen, um mit komplizierten Propaganda-Operationen Lügen den Anschein der Wahrheit zu verleihen. Die Neue Rechte lacht einfach zynisch über jene, die an so etwas wie die Wahrheit noch glauben.
Eine ältere Fassung dieses Textes erschien auf der online-Plattform Geschichte der Gegenwart (geschichtedergegenwart.de).