"Entartung, Raffgier, Genderwahn und Perversion sind die Waffen, die in unseren Tagen gegen das deutsche Volk eingesetzt werden. Der Befreiungslüge folgten die Lügen der selbst ernannten ‚modernen’ und ‚aufgeklärten’ Gesellschaft." Diese Sätze stammen aus einem Aufruf von Neonazis aus dem norddeutschen Raum, mit dem sie im Jahr 2013 zu einem überregionalen Aufmarsch mobilisierten – und sie belegen, wie wichtig Geschlechterpolitik für die extreme Rechte geworden ist: Lange Jahre war die sogenannte Befreiungslüge das zentrale Kampagnenthema: Die Behauptung, Deutschland sei 1945 nicht vom Nationalsozialismus befreit worden, sondern werde seitdem von den Alliierten unterdrückt. Inzwischen jedoch, das zeigt dieser Aufruf, ist neben den geschichtsrevisionistischen Begriff "Befreiungslüge" unter anderem das Feindbild "Genderwahn" getreten – er wird als ähnlich bedeutsame "Waffe" gegen "das deutsche Volk" eingestuft und bekämpft.
Geschlechterpolitiken haben in der extremen Rechten zu allen Zeiten eine Rolle gespielt. Neu dagegen ist das offene Polemisieren gegen "Gender" in feindseligen Kampagnen – mit offensichtlichen Falschbehauptungen und zwei Zielen. Zum einen dienen die Angriffe dazu, eine traditionelle Geschlechterordnung innerhalb der Szene zu verteidigen – und die Einzelnen daran zu erinnern, Interner Link: wie Männer und Interner Link: Frauen angeblich von Natur aus zu sein und zu leben haben. Darüber hinaus geht es der extremen Rechten darum, Einfluss auf gesellschaftliche Debatten zu nehmen.
Zum BegriffGender
Der englische Begriff Interner Link: "Gender" beschreibt zunächst das soziale Geschlecht eines Menschen . Da es die Unterscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht (‚sex’) und dem sozial erworbenen Geschlecht (‚gender’) im Deutschen nicht gibt, hat sich auch im hiesigen Sprachraum der englische Begriff durchgesetzt – und führt mancherorts zu Missverständnissen. Dabei besagt die Trennung von ‚sex’ und ‚gender’ zunächst: Die biologischen Geschlechtsmerkmale eines Menschen bestimmen nicht automatisch, ob und wie eine Person ihr Leben als Mann oder Frau in der Gesellschaft gestaltet. Das biologische Geschlecht ‚sex’, bzw. das, was bei der Geburt ärztlich bestimmt wird, sagt demnach auch noch nichts darüber aus, was in einer Gesellschaft als typisch "weiblich" oder "männlich" bezeichnet wird. Dies gilt in der Regel als Produkt sozialer Aushandlungsprozesse. Bei Transpersonen etwa stimmen "sex" und "gender" nicht überein. Man spricht heute von „geschlechtlicher Vielfalt“ und bezeichnet hiermit die vielfältigen Möglichkeiten, als Mann oder Frau eine Rolle innerhalb von Gesellschaften einzunehmen. Der gleichstellungspolitischen Strategie "Gender Mainstreaming" dagegen geht es darum, Menschen unabhängig vom Geschlecht den gleichen Zugang zu Arbeit, Bildung, frühkindlicher Förderung etc. zu gewährleisten. So muss bei jeder öffentlich-rechtlichen Entscheidung geprüft werden, ob durch sie bestehende Ungleichheiten im Zugang der Einzelnen verstärkt werden oder nicht.
Fußnoten
Die Debatten um "Gender" und Gleichstellungspolitik in Deutschland werden kontrovers geführt – und das Spektrum von Gender-Kritikerinnen und -kritikern ist breit. Es reicht von Politikerinnen und Politikern in den großen Volksparteien über Akteure aus Journalismus und Wissenschaft bis zu antifeministischen Männerrechtsgruppen, radikalen Abtreibungsgegnern und christlich-fundamentalistischen Gruppen.
Die extreme Rechte sucht den Anschluss an all jene Akteure. So merkte eine Aktivistin aus dem Spektrum der Neonazi-Kameradschaften vor Jahren in einem Interview an, sie finde es "erstaunlich, wie gerade sehr religiöse Menschen den ‚Versuchungen’ der Gender-Ideologie trotzen" und sagte weiter: "Viele streng katholische Familien sind meines Erachtens weiter im Umgang mit dem Gender Mainstreaming, als große Teile der nationalen Opposition". Die Polemik gegen "Gender" dient der extremen Rechten also nicht nur zur Mobilisierung in den eigenen Reihen. Sie strebt den Schulterschluss mit anderen Akteuren an indem sie versucht, Begriffe wie „Genderwahn“ oder „Gender-Terror“ in öffentlichen Debatten als Kampfbegriffe mit eigener Agenda zu verankern. Lässt man die Diskurse um den Begriff „Gender“ aus den vergangenen Jahren Revue passieren, so zeigt sich, dass der Anschluss in Richtung der Mitte der Gesellschaft punktuell gelungen ist.
Die Erfindung des "Genderismus"
Kritiken und Angriffe gegen "Gender" und geschlechterpolitische Akteure entstammen nicht nur der extremen Rechten, sondern einem breiten Spektrum – und gehen zurück auf das Jahr 2006. Zeitgleich zur Debatte um Äußerungen der ehemaligen Tagesschausprecherin Eva Herman zur Rolle der Frau in der Gesellschaft erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Beitrag, in welchem die gleichstellungspolitische Strategie des Gender Mainstreaming erstmals als "politische Geschlechtsumwandlung" betitelt wurde. Extrem rechte Akteure, und Medien wie Interner Link: die Wochenzeitung Junge Freiheit, nutzten dies als Auftakt einer gezielten Kampagne. Zugespitzt polemisiert wurde in den Folgejahren gegen "Gender" und die "gesellschaftszersetzende Maßnahme ‚Gender Mainstreaming’", die das Ziel der "Schaffung eines neuen Menschentypus" verfolge.
Erkennbar wurde ein Kampf um die Deutungshoheit über den Begriff "Gender": "Wer einen Begriff platziert und definiert, erreicht, dass man ein Wort benutzt und außerdem, dass man sich darunter etwas vorstellt", umreißt der Interner Link: neurechte Vordenker Karlheinz Weißmann die Strategie, gezielt Diskurse zu beeinflussen. Durch die Erfindung des Kampfbegriffs "Genderismus" wurde der an sich nüchterne Terminus "Gender" zum Kernelement einer Ideologie erklärt. Rechte und extrem rechte Akteure versuchen so, den Begriff "Gender" seines ursprünglichen Inhalts zu entleeren und zu einer Bedrohung für das friedliche Zusammenleben und die gesamte Gesellschaft umzudeuten. Erleichtert wurde der Versuch dadurch, dass der Begriff „Gender“ bis dahin zwar schon längst in wissenschaftlichen Debatten gesetzt war– den ersten Gender-Studies-Studiengang in Deutschland gab es 1997 –, aber in gesellschaftlichen Debatten kaum vorkam. Die breitere Öffentlichkeit lernte ihn erst durch die feindbildgesinnten Kampagnen kennen. Und die Umdeutung des Begriffs prägte und prägt bis heute vielerorts dessen Verständnis.
Mit Begriffsschöpfungen wie dem "Genderismus" oder auch "Gender-Terror" verknüpft ist die Behauptung, Gender-Mainstreaming-Politik sei eine nicht demokratisch legitimierte und machtvoll von oben durchgesetzte ideologische Machtpolitik einiger weniger gegen eine angebliche Mehrheit. Die Rede davon nimmt verschwörungideologische Züge an, teilweise scheut man auch vor NS-Vokabular nicht zurück, mit dem die Nazis Juden entwürdigen wollten, wenn beschrieben wird, wie sich "Gender" einem krebsartigen Geschwür gleich in einen ‚gesunden Volkskörper’ einfresse oder gar das deutsche Volk zerstöre: "Am Beispiel Gender Mainstreaming kann man bestens erläutern, wie ein Volk dem Erdboden gleichgemacht werden soll", sagte die bereits zitierte extrem rechte Aktivistin Mareike Bielefeld 2012 im Interview mit der Jugendorganisation der NPD, den Jungen Nationaldemokraten.
Völkische Geschlechterordnung contra Gender Mainstreaming
Denn auch das Spektrum der NPD stimmte schnell in die Anti-Gender-Kampagnen ein. Beispielsweise erklärte eine Funktionärin der Frauenorganisation Ring Nationaler Frauen (RNF) 2008 in einem Zeitungsinterview: "Wir sehen im Gender-Projekt das tiefgründigere Interesse, Frauen und Männer gleichzuschalten, völlig die Identitäten zu verwischen, alles austauschbar zu machen." Ein RNF-Flugblatt aus dem gleichen Jahr erhob den Vorwurf, Gender-Mainstreaming mache Ungleiches zwanghaft gleich. Dies ist der Kern der extrem rechten Vorwürfe gegen "Gender".
Allein die Vorstellung einer umfassenden Gleichberechtigung von Mann und Frau und eine größere Freiheit bei der Wahl von Geschlechterrollen bedroht einen Kern extrem rechten Denkens. Die extreme Rechte geht aus von einer völkischen Geschlechterordnung, in der Männer und Frauen durch ihr biologisches Geschlecht ihre Rolle in der gedachten Volksgemeinschaft zugewiesen wird: Frauen sind in erster Linie für die Sorge um den Nachwuchs zuständig, Männer für die Verteidigung des angeblich angestammten Lebensraumes. Jede Infragestellung der "Natürlichkeit" von Geschlecht kommt daher einer Infragestellung der völkischen Ordnung als Ganzes gleich. Dass Personen aus den ihnen zugewiesenen (Geschlechter-)Rollen ausscheren, wird zur Bedrohung der (Volks-)Gemeinschaft erklärt. Dies schließt nicht aus, dass einzelne Frauen und Männer sich über die ihnen traditionell zugedachte Rolle hinaus betätigen und zum Beispiel Frauen als politische Aktivistinnen in Erscheinung treten. Sie werden jedoch stets daran gemessen, ob sie zunächst ihrer Geschlechterrolle entsprechend handeln (also beispielsweise Kinder in heterosexuellen Beziehungen gebären) – Abweichungen werden teilweise harsch geahndet.
Diesem völkischen Grundverständnis blieb der RNF bis in jüngste Zeit treu, als der Bundestag Ende Juni 2017 mit breiter Mehrheit die "Ehe für alle" beschloss. In einer Erklärung kritisierten die NPD-Frauen, dass "unsere Volksvertreter im deutschen Parlament zugunsten einer kleinen Minderheit bereit sind, Ungleiches gleich zu machen und die Basis jeden Volkes, die Familie, der Beliebigkeit preiszugeben".
Geschlechterpolitische Agenda der AfD
Die Alternative für Deutschland (AfD) reagierte mit einer ähnlichen Wortmeldung auf die Ehe für alle und stellte sich anlässlich der Bundestagsentscheidung als letzter Hort traditioneller Geschlechterverhältnisse dar. "Dass sie [Merkel] dabei ein weiteres kulturelles Kernelement unserer christlich-abendländischen Kultur und den Verfassungsrang der Ehe verwässert, scheint ihr vollkommen egal zu sein. Die AfD ist die einzige Partei in Deutschland, die diese Werte zugunsten unserer Gesellschaft bewahren will", so die der damalige Parteichefin Frauke Petry. Nahezu wortgleich äußerte sich der Spitzenkandidat der AfD zur Bundestagswahl, Alexander Gauland." Die AfD präsentiert sich hier und anderenorts als „Familienpartei“ mit einem normativen Verständnis von Familie: sie beschränkt den Begriff auf das Zusammenleben zweier Menschen unterschiedlichen Geschlechts mit biologisch eigenen Kindern. Die Partei beschreibt sich zugleich als "Anti-Gender-Partei": "Für starke Familien und gegen Gender Mainstreaming", bringt es der Berliner Landesverband der AfD gleich im ersten Abschnitt des Wahlprogramms zur Abgeordnetenhauswahl im September 2016 auf den Punkt. Und macht damit einen gedanklichen Gegensatz auf, der sich durch weitere Programmpunkte zieht.
Während die AfD in ihrer Gründungsphase weithin als professorale Anti-EU-Partei wahrgenommen wurde, spielten in ihr Geschlechterpolitiken und Angriffe gegen "Gender" von Beginn an eine bedeutsame Rolle. Man wolle, hieß es schon im Programm zur sächsischen Landtagswahl 2014, der "menschenfeindlichen Ideologie (des) verqueren Genderismus (…), der uns mit aller Macht aufgezwungen werden soll", entgegentreten. Das Thema wurde insbesondere durch den christlich-fundamentalistischen Flügel innerhalb der Partei bewusst auf die Agenda gesetzt. Akteurinnen wie die heutige AfD-Vize-Chefin Beatrix von Storch, die sich bereits vor ihrer Parteikarriere in antifeministischen Netzwerken bewegte, verankerten es im Parteiprogramm.
Im Zuge der inhaltlichen Radikalisierung der AfD erlebten geschlechter- und familienpolitische Themen auch in anderen Wahlprogrammen eine Konjunktur. Die AfD Sachsen-Anhalt fordert anlässlich der Wahl im Jahr 2016, "alle auf die Kategorie ‚Geschlecht’ bezogenen Lehrstühle zu streichen und wieder jenen ordentlichen Universitätsfächern zurückzugeben, denen sie zuvor weggenommen wurden". Was hier als vermeintlich sachliche wissenschaftspolitische Forderung daherkommt, entpuppt sich als Teil einer Strategie, "Gender" als etwas Bedrohliches im öffentlichen Diskurs zu verankern. In Sachsen-Anhalt gibt es nämlich lediglich einen einzigen Lehrstuhl, der anteilig im Bereich der Geschlechterforschung angesiedelt ist.
Was genau sich hinter kryptischen Wendungen von "Genderismus" oder "Genderwahn" verbirgt, wird selten detailliert ausgeführt – weder von extrem Rechten noch von anderen Kritikern und Kritikerinnen. Man verlässt sich darauf, dass der Begriff in den öffentlichen Debatten bereits mit (negativer) Bedeutung aufgeladen wurde. Zugleich ermöglicht die fehlende Konkretheit, sich in alle politischen Richtungen anschlussfähig zu halten. Bezeichnenderweise heißt es selbst im Parteiprogramm der CSU schlichtweg ohne weitere Erklärungen: "Eine Gesellschafts- und Bildungspolitik, die Gender-Ideologie und Frühsexualisierung folgt, lehnen wir ab." Dass es sich bei "Gender" um eine "Ideologie" handele, wie es die extreme Rechte behauptet, wird hier quasi als gegeben vorausgesetzt.
Fazit: Zerrbilder schüren bewusst Ängste
Rechtsextremen und rechtspopulistischen Akteuren ist es in den vergangenen Jahren gelungen, geschlechter- und familienpolitische Debatten und Themen aufzugreifen und mit angstbesetzten Begriffen und Bildern einer vollumfänglichen "Genderisierung" der Gesellschaft zu besetzen. Sie wirken damit über die eigene Szene hinaus und erschaffen ein Bedrohungsszenario, von dem sie sich Anschluss an gesellschaftliche Debatten und einen Ausstieg aus der Isolation am rechten Rand der Gesellschaft erhoffen.
Eine klare Abgrenzung von Versuchen der Vereinnahmung demokratischer Debatten um Geschlechterpolitik setzt deswegen voraus, sich mit Themen und Agieren der extremen Rechten ebenso auseinanderzusetzen wie mit den komplexen Inhalten von Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik.
Die Angriffe von Rechtsaußen erschweren eine differenzierte Auseinandersetzung mit Themen geschlechtlicher, sexueller und familialer Vielfalt – dabei ist diese dringend geboten. Doch extrem rechte Akteure polarisieren mit ihren Statements und Kampagnen zur Geschlechterpolitik. Ihnen geht es ganz offensichtlich nicht darum, über Stärken und Schwächen bisheriger Gleichstellungspolitik und Forschung zu Geschlecht und Sexualität ins Gespräch zu kommen – sondern eine differenzierte Debatte hierzu zu verhindern.