Am 17. Juni 2015 wurden in Charleston im US-Bundesstaat South Carolina neun Mitglieder einer Methodistengemeinde ermordet. Das als Charleston church massacre bekannt gewordene Verbrechen hatte einen hohen Symbolwert: Es traf die älteste schwarze Methodistengemeinde des amerikanischen Südens.
Darin unterscheidet sich die Entwicklung des Täters zu beispielsweise Timothy McVeigh, dem Attentäter des verheerenden Bombenanschlags von Oklahoma City 1995. Der Amerika-Historiker Norbert Finzsch stellt das Verbrechen von Charleston daher in den Kontext einer modernisierten politischen Praxis der extremen Rechten: Die "Tat und die ihr entsprechende Gesinnung sind Teil einer technischen und diskursiven Infrastruktur, die seit den 1990er Jahren massiv aufgerüstet wurde. Immer häufiger bedienen sich amerikanische Neonazis nicht nur der Sozialen Medien, um ihre Botschaft zu verbreiten. Sie zeichnen auch verantwortlich für eine Reihe von Foren auf [sic] dem Internet, die dem Zugriff des Staates entzogen sind und regelmäßig zu Gewalttaten aufrufen".
Charleston zeigte, dass die Hassobjekte der extremen amerikanischen Rechten unverändert geblieben sind – doch haben sich Milieu und Vorgehensweise verändert. An die Stelle straffer rechtsterroristischer und neonazistischer Organisationen ist ein breiteres und inhaltlich diffuseres Spektrum getreten, das einen Tätertypus wie Roof hervorbringt. Wichtiger als feste Strukturen ist das Internet geworden, durch das Weltanschauungen jenseits des eigenen Milieus effektiv verbreitet werden können. Die amerikanische Soziologin Jessie Daniels bezeichnet die White-Supremacy-Szene daher als "early adopters".
Diversifizierung der US-Rechten und Obama-Schock
Nicht erst der Wahlkampf Donald Trumps 2016 hat zu einer Renaissance des Rassismus' geführt. Bereits in den letzten Jahren zeichnete sich ein Comeback des äußersten rechten Rands der US-amerikanischen Politik ab. Diese Entwicklung vollzog sich jedoch unter anderen Bedingungen als zuvor. Die US-amerikanische Gesellschaft hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten tiefgreifend gewandelt, sie war erheblich diverser geworden. Der Anteil der nicht-weißen Bevölkerung war gestiegen, mit Barack Obama wurde 2009 erstmals ein Nicht-Weißer zum Präsidenten gewählt. Nach Ende des Kalten Krieges schienen sich die Ziele des historischen Civil Rights Movements langsam zu erfüllen.
Die traditionellen, öffentlich agierenden Hate Groups hatten seit den 1980er Jahren mehr und mehr an Einfluss verloren. Etablierte Strukturen wie die dritte Neugründung des Ku Klux Klans (KKK) oder das 1974 gegründete National Socialist Movement (NSM), ein Erbe der American Nazi Party George L. Rockwells (ANP), wurden zu Randerscheinungen, während in der Reagan-Ära die fundamentalchristliche Rechte an Bedeutung gewann. Der Politologe Michael Minkenberg beschreibt diesen "Wandel der amerikanischen Rechten von einer durch rassistische Gruppen geprägten ‚Bewegungsfamilie’ zu einem von den Gruppen des religiösen Fundamentalismus dominierten Spektrums".
Doch bereits in der Reaktion auf die Präsidentschaft Obamas zeigte sich wieder die andere Seite der USA. Die Gedankenwelt eines "Rassenkrieges" kehrte unter der Fahne eines "weißen Nationalismus" (white nationalism) zurück. Dessen Spektrum umfasst heute mehr als nur amerikanische Neonazis. Im Gegensatz zu früheren Strömungen können sich hinter diesem ethnischen Separatismus und nationalen "drittem Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus (third position) sowohl eine gewaltaffine extreme Rechte als auch konservative Anhänger der Rassentrennung sammeln. Ihrer Forderung nach räumlicher Trennung der Ethnien in je eigenen Staaten wird von extremen Rechten international aufmerksam als zukunftsweisend erachtet.
Dem US-Soziologen Michael Kimmel zufolge war die Wahl Barack Obamas 2008 für dieses Milieu "der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte". Ein schwarzer Präsident bestätigte lagerübergreifend die paranoide Weltsicht: "Amerika hatte sich in der Wahlkabine den Kräften ausgeliefert, die den Staat ohnehin schon vollständig unter ihre Kontrolle bringen wollten: Schwarze, Juden, Frauen, Schwule und Einwanderer."
Es entstand eine Sammlungsbewegung, die Inhalte der extremen Rechten vom Narrensaum in die etablierte Politik führte. Verschwörungstheorien über eine despotische Zentralregierung, die Mitte der 1990er Jahre noch im militanten Milieu des Oklahoma-Attentäters zu finden waren, wirkten nun bis in die Basis der Republikanischen Partei. Ausdruck fand diese systematischen Delegitimierung Washingtons vor allem in der Frage staatlicher Steuerhoheit und im Phänomen der Birther, die anzweifelten, dass Präsident Obama gebürtiger Amerikaner sei.
Cyber Racism und die Rückkehr der Hate Groups
Im Schatten dieser Ereignisse meldeten sich die traditionellen Gruppierungen des US-Neonazismus wieder zurück. Die US-Bürgerrechtsorganisation Southern Poverty Law Center (SPLC) verzeichnete einen sichtbaren Anstieg im Rahmen der Einwanderungsdebatten nach der Jahrtausendwende und einen Wiederanstieg nach dem Amtsantritt Barack Obamas 2009.
Für Überleben und Comeback der "White Supremacy" war der Cyberspace essenziell. Die im Vergleich zu Europa traditionell dezentrale Struktur der US-Rechten kam dieser Entwicklung noch entgegen. Bereits mit dem Niedergang der großen rassistischen Organisationen wie dem KKK oder der American Nazi Party wurden hier die notwendigen Schritte zur Reorganisation in Form eines "Cyber Racism" eingeleitet.
Ihre Geschichte führt in die klassischen Strukturen der extremen US-Rechten. Stormfront wurde 1995 durch Don Black gegründet und sukzessive zum professionellen Forum ausgebaut. Black kam aus dem Ku Klux Klan und war eng mit dem Gründer und Grand Wizard der Louisiana Knights of the KKK, David Duke, verbunden. Dukes eigene Aktivitäten auf Stormfront steigerten die Attraktivität des Angebots für die extreme Rechte. Stormfront ist ein Beispiel dafür, dass sich die US-Amerikanische White-Supremacy-Szene schon früh mit den neuen Kommunikationstechnologien vertraut machte. Lange vor dem Web 2.0 schuf das interaktive Portal erfolgreich eine "virtuelle Gemeinschaft".
Das Konzept eines eigenen Online-Mediums nach dem Vorbild von Stormfront machte Schule. 2013 schuf der amerikanische Neonazis Andrew Anglin die Website Daily Stormer, deren Namensgebung sich an die NS-Propagandazeitschrift Stürmer anlehnte. Sie hat Stormfront mittlerweile als führendes Onlinemedium abgelöst.
Durch den Aufkauf des Musikverlag Resistance Records 1999 entfaltete die National Alliance großen Einfluss in der internationalen Rechtsrockszene. Das damit erreichte subkulturelle Milieu (Skinheads u. ä.) ist traditionell ein wichtiges Rekrutierungsfeld. Doch mit dem Tod von Pierce 2002 begann der Zerfall der Organisation. 2005 kam es zu einer kurzlebigen Abspaltung unter dem Namen National Vanguard (NV), bis die NA sich schließlich 2013 in ihrer bisherigen Form auflöste. Auch die Bedeutung anderer Gruppen sank. Der 1982 von KKK-Mitgliedern gegründete White Aryan Resistance war nach ihrem wirtschaftlichen Konkurs handlungsunfähig geworden. Die Neonazi-Organisation Aryan Nations, ebenso wie die NA vom FBI als terroristische Bedrohung eingestuft, verlor ebenfalls einen Millionenprozess und zerfiel anschließend.
Als größte Neonazi-Organisation der USA blieb dagegen das National Socialist Movement (NSM) aktiv. Es konnte zum Teil die anderen Organisationen beerben, hatte jedoch ebenfalls mit internen Schwierigkeiten zu kämpfen. 2006 geriet es in die Krise, als Verbindungen zu Satanisten bekannt wurden. Kurz darauf machten Verwandte des verunglückten NSM-Führers Bill Hoff publik, dass er ein direkter Nachfahre von Sklaven war.
Antisemitismus
Unverändert ist die zentrale Rolle des Antisemitismus für amerikanische Neonazis. Die Menschenrechtsorganisation Anti-Defamation League registrierte nach den Wahlen 2016 einen signifikanten Anstieg von Terrordrohungen gegen jüdische Einrichtungen in den USA.
Rocky Suhayda von der America Nazi Party (einer unbedeutenden Nachfolgeorganisation der ANP) beklagte, im eigenen Land "nur so wenige Leute [zu] haben, die bereit wären, das Gleiche zu tun" wie die Islamisten.
Fazit
Insgesamt agieren gerade US-Neonazis in einem widersprüchlichen Rahmen. Als eine der Siegernationen des Zweiten Weltkrieges grenzt sich das historische Selbstverständnis der Gesellschaft einerseits von Nationalsozialismus und Faschismus ab und betont die demokratischen Errungenschaften von Unabhängigkeit und Bürgerrechtsbewegung. Andererseits weist die Landesgeschichte selbst eine lange Tradition rassistischer Organisationen und Praktiken unabhängig von europäischen Vorbildern auf. Die äußerste amerikanische Rechte vermag beide Eigenarten miteinander zu kombinieren. Sie beruft sich auf die Tradition der "Weißen Nation" und genießt dabei den Schutz durch den ersten Zusatz der amerikanischen Verfassung, der ihnen die Meinungsfreiheit garantiert und sie so auch über die Staatsgrenzen bis nach Deutschland wirken lässt.
Die technische Infrastruktur hat indessen nur das Überleben der Weltanschauung gesichert. Strukturen und Organisationen des US-Nazismus sind heute vergleichsweise geschrumpft und haben an Einfluss verloren. Der Cyberspace kompensiert dies jedoch durch die Möglichkeit, die Reichweite der eigenen Propaganda zu vergrößern. Allerdings besteht angesichts der hohen Zahl rechter Konkurrenzangebote unterschiedlichster Provenienz auch kein Anspruch mehr auf ein Meinungs- und Deutungsmonopol, wie es noch mit der Mitgliedschaft in einer Organisation verbunden war. Auch unter der Präsidentschaft Donald Trumps ist zu bezweifeln, dass die Splittergruppen des US-Neonazismus wieder Bedeutung erlangen werden. Neue Formen einer "alternativen Rechten" (Alternative Right) haben ihr Erbe angetreten.