Die Auseinandersetzung mit Radikalisierung und Bemühung um Deradikalisierung sind seit wenigen Jahren Thema in der politischen und pädagogischen Debatte um Neonazismus und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Mit dem Bundesprogramm "Demokratie leben!" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) tauchten 2013/14 das Konzept der "Radikalisierung" sowie die Begriffe "Deradikalisierung“ und "Radikalisierungsprävention" erstmals in einem bundesweit geförderten Präventionsprogramm auf (vgl. www.demokratie-leben.de). Damit hielten Fachdebatten Einzug in die bundesdeutsche Präventionspraxis, welche überwiegend in der Auseinandersetzung mit Islamismus entwickelt wurden. So sieht auch das europäische Radicalisation Awareness Network (RAN) seinen Schwerpunkt in der Terrorabwehr
Radikalität und Radikalisierung
Es gibt unterschiedliche Verständnisse davon, was radikal bzw. Radikalität ist. Radikal kann im politisch-gesellschaftlichen Sinne als "an die Wurzel gehend" positiv verstanden werden: als eine tiefgehende, detailgenaue Auseinandersetzung mit den Strukturen von Gesellschaft, ihren Wirkungsweisen, deren Grundlagen und Zusammenhängen sowie dem Einsatz für aus diesen Erkenntnissen gewonnene Konsequenzen (vgl. Quent 2016, S. 30). Entsprechend radikalen Vertreter_innen wird dabei häufig Demokratiefeindschaft, Gewalttätigkeit und Kompromisslosigkeit unterstellt (vgl. ebd.). Laut Quent ist die zentrale Frage für eine politische Beurteilung von Radikalität aber: "Steht der Mensch im Mittelpunkt?" (ebd., S. 31). Dazu führt er aus: "Radikalismus darf sich nicht damit begnügen, schlicht weitergehende Forderungen aufzustellen als der Reformismus. Er muss reflexiv sein und den eigenen Irrtum als möglich erachten. [Ein] Denken, das sich ab hominem richtet, kann nicht radikal sein: Radikalismus ist gleichermaßen dem Humanismus und der Reflexivität verpflichtet. Zugespitzte Ungleichwertigkeitsvorstellungen können extremistisch sein, aber nie radikal." (ebd.)
Diesem emanzipatorischen Verständnis von Radikalität steht ein negatives Verständnis von Radikalismus gegenüber, welches mit dem häufig synonym verwendeten Begriff Extremismus über das Bundesamt für Verfassungsschutz verwaltungspraktische Relevanz erhielt. Der Begriff des Extremismus wurde im VS-Jahresbericht 1973 eingeführt, und mit ihm ein Modell von Mitte-Radikal-Extrem als Kategorien von Nähe und Ferne von einer als demokratische Norm gedachten bürgerlichen Mitte (vgl. ebd., S. 33). In diesem Sinne wird Radikalität auch beschrieben als fehlende Bereitschaft, Kompromisse zu machen und sich demokratischen Aushandlungsformen auszusetzen (vgl. Waldmann 2014, S. 339). Radikale Personen sind, so verstanden, aus einer verengten, gesellschaftlichen Freund-Feind-Wahrnehmung heraus "nicht bereit zu differenzieren, Gegenargumenten zuzuhören oder die sozialen Zusammenhänge wahrzunehmen, in denen sie ihre Botschaften propagieren (ebd.)." Über den Nutzen entsprechender Kategorien und die politische Wirkmächtigkeit des Extremismusmodells herrscht in der Wissenschaft Uneinigkeit, und unterschiedliche Forscher_innen im Feld des Rechtsextremismus wählen andere Zugänge (vgl. Quent, S. 36 ff.). Gleichzeitig besteht ein Bedarf, sich politischen Hinwendungsprozessen zuzuwenden, denn trotz ausdifferenzierter Befunde der deutschen Rechtsextremismusforschung "existieren kaum empirisch belastbare Erkenntnisse über die Ursachen, Prozesse und Interaktionsdynamiken der Radikalisierung von Rechtsextremen bis hin zum Aufbau terroristischer Strukturen (ebd., S. 39)." Hier kann das Konzept der Radikalisierung zur Analyse von Prozessen sich radikalisierender Personen Anwendung finden.
Radikalisierung umfasst Hinwendungsprozesse, welche individuell verlaufen, aber scheinbar verschiedene vergleichbare Elemente aufweisen (Neumann 2013, S. 7). Diese in der Mehrheit der Radikalisierungsmodelle vorkommenden Elemente sind Unzufriedenheits- und Konflikterfahrungen, die Annahme von ideologiegeprägten Weltbildern und eine Rahmung durch Gruppendynamiken und feste Gruppenbindungen (vgl. ebd.). Neben einer Fokussierung auf jene Elemente zielen Träger der Deradikalisierungsarbeit häufig darauf, "Gefühle des Zweifels und der Enttäuschung bei Mitgliedern extremistischer Gruppen zu verstärken" (ebd.).
Wie bereits benannt, greifen Akteure im Feld der Deradikalisierung häufig auf Modelle der Radikalisierung zurück, welche im Bereich der Auseinandersetzung mit islamischem Fundamentalismus und islamistischem Terrorismus entwickelt wurden. Für das neo-salafistische Milieu beschreiben Ceylan und Kiefer Radikalisierung als mehrphasigen Prozess aus "1. Pre-Radicalization, 2. Self-Identification, 3. Indoctrination, 4. Jihadisation" (Ceylan/ Kiefer 2013, S. 162). Dabei vollzieht sich eine Entwicklung, in welcher sich "bislang unauffällige Menschen in einem kürzeren oder längeren Zeitraum, in Gruppenprozessen oder alleine radikale Positionen zu eigen machen, die mit oder ohne Gewaltbefürwortung auf eine Beseitigung der hiesigen freiheitlich-demokratischen Werteordnung zielen (ebd.)." Endpunkt der Radikalisierung ist eine gewaltbefürwortende Haltung mit der stetigen Gefahr, tatsächlich Gewalt anzuwenden. Die Einschätzung des Radikalisierungsgrades einer Person stützt sich aufgrund bisher fehlender wissenschaftlicher Kriterien auf Erkenntnisse, Teilbeobachtungen und Mutmaßungen von Behörden und Akteuren aus dem Sozialraum und dem sozialen Umfeld der Person und gilt als sehr schwierig (vgl. ebd.).
Radikalisierungsprozesse scheinen ideologie- und gruppenübergreifende Gemeinsamkeiten aufzuweisen und dabei ähnlichen Mustern zu folgen. Hier können auch Parallelen zwischen islamistischen und rechtsextremen Jugendgruppen identifiziert werden (vgl. Van der Valk n. Quent 2016, S. 42). Eine Rolle spielen Gefühle der Entrüstung über lokale Situationen, Frust sowie das Rebellieren gegen die Gesellschaft vor allem bei Jugendlichen, welche sich in ausdifferenzierten Gesellschaften mit ihrer noch unsicheren sozialen Identität auseinandersetzen müssen und dabei anfällig scheinen für symbolische und reale Gruppenbedrohungen (vgl. ebd.). Radikalisierungsprozesse sind als Ausdruck einer politischen Kultur zu verstehen, welche über entsprechende gesellschaftliche Strukturen eine Wirkung bei den Individuen und in ihren Gruppenbezügen entfaltet und gleichzeitig von diesen mit gestaltet wird. Quent machte darauf aufmerksam, dass Radikalisierung immer im Spannungsfeld von gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Gruppen entsteht. Politische Kultur drückt sich in diesen Gruppen gewaltförmig aus
Gründe für aktuelle rechtsextreme Radikalisierungen können demzufolge Konkurrenzangst und -druck bei steigenden Qualifikationsanforderungen in globalen Interaktionsprozessen sein, mit welchen die Aufwertung des (sozialen) Nahraums und ein positiver Bezug auf abgewertete Fähigkeiten einhergeht, was u.a. zur Reinszenierung kriegerischer Männlichkeiten und rassistischer Straßengewalt als Verteidigungskampf führt (vgl. Eckert, S. 286). Wahrnehmungen gesellschaftlicher Entsicherungen lassen es anschließend rational erscheinen, "sich "durchzuschlagen", die angeborenen oder als solche definierten Identitätsteile (Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit) aufzuwerten und in Cliquen und Banden Garanten der Solidarität aufzusuchen (ebd., S. 287)“. Diese individuellen Einflussfaktoren werden durch gesellschaftliche Prozesse und Debatten gerahmt, durch welche bestehende (Macht-)Ungleichheit als logisch und rational empfunden werden. Die Folge sind festgeschriebene Gruppenzugehörigkeiten u.a. definiert durch vermeintliche biologische Merkmale, die neonazistische Äußerungen und rassistisches Verhalten legitimieren (vgl. Quent 2014, S. 94). Hierfür benötigt es Räume, die entweder Druck ausüben, sich zu radikalisieren oder die als Vergewisserungsräume zum Einüben der Ideologie zur Verfügung stehen. Diese können, neben entsprechend wirksamen Gemeinwesen, speziell Gefängnisse oder auch unkritisch akzeptierend arbeitende Jugendeinrichtungen sein (vgl. ebd., S. 321 f.).
Deradikalisierung als Ansatz
Deradikalisierung bezieht sich pädagogisch auf die geschilderten Radikalisierungsdynamiken und wird beschrieben als verhaltensbezogener und identitärer Prozess des "individuellen und kollektiven kognitiven (oder: ideologischen) Wandel[s] von einer kriminellen, ideologisch-radikalen oder extremistischen zu einer nicht kriminellen und moderaten Identität und/oder Persönlichkeit" (Köhler 2015, S. 427) und damit als die "Umkehrung des Prozesses, durch den eine Person zum Extremisten wurde. Es geht somit darum, für jeden 'negativen' Einfluss, der zur Radikalisierung beigetragen hat, ein 'Gegengift' zu finden (Neumann 2013, S. 7)." Deradikalisierung strebt die Ablösung von Szenebekenntnissen und dem Bekenntnis zu Gewalt bzw. die Abwendung von als extremistisch identifizierten Denk- und Verhaltensweisen an (Ceylan/ Kiefel 2013, S. 163).
Köhler (vgl. 2015, S. 433) verortet Deradikalisierung unter dem Begriff der Intervention zwischen frühzeitigen, pädagogischen Verhinderungsprozessen und Zugriffen auf radikalisierte Aktivist_innen und damit zwischen sekundärer und tertiärer Prävention. Während Prävention Radikalisierungsprozesse frühzeitig verhindern soll, zielt Repression auf die Eingrenzung eines aktiven radikalen Milieus ab
Dies geht über eine behördliche Definition hinaus, die folgende Stufen des Prozesses der Deradikalisierung umfasst: "1. Stufe: eigener Gewaltverzicht; 2. Stufe: eigener Gewaltverzicht sowie Unterlassen von Unterstützungshandlungen für extremistische Bestrebungen; Stufe 3: eigener Gewaltverzicht, Unterlassen von Unterstützungshandlungen sowie Akzeptanz der herrschenden Rechtsnormen" (Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport, zitiert nach Ceylan/ Kiefer 2013, S. 163). Als wichtiges Merkmal pädagogischer Präventionsarbeit zeigt sich gegenüber einer behördlichen Definition eine qualitative Ausweitung der Perspektiven mit Fokus auf eine ideologische Abwendung und Distanzierung und kein alleiniges Anstreben der Akzeptanz bestehender Rechtsnormen. Auch Fouad und Taubert plädieren dafür, im Bereich der indizierten und tertiären Prävention die Begriffe "Deradikalisierung" und "Disengagement" zu unterscheiden, denn "[w]ährend Deradikalisierung die tatsächliche Abkehr von extremistischem Gedankengut bezeichnet, bedeutet Disengagement in diesem Zusammenhang lediglich das Abschwören von Gewalt ohne eine ideologische Neuorientierung" (Fouad/ Taubert 2014, S. 405).
Im Feld der Deradikalisierung finden sich die Projekte zur Distanzierungsarbeit und zur Ausstiegsbegleitung. Auf Bundesebene arbeiten 18 Projekte mit unterschiedlichen Reichweiten und Ansätzen im Themenfeld (vgl. Glaser et al. 2014, S. 52). Träger, die im Bereich der Deradikalisierung gefördert werden, beschreiben den Ansatz wie folgt: "Deradikalisierungsarbeit und Ausstiegsbegleitung setzen an, wenn der Grad der Radikalisierung sehr weit fortgeschritten ist und die Gefahr besteht, dass junge Menschen sich und andere gefährden, z. B. durch eine Ausreise in ein Kriegsgebiet oder nach der Rückkehr aus einem Kriegsgebiet. [...] Neben der direkten Arbeit mit den Radikalisierten werden gezielt auch Eltern und Angehörige der Radikalisierten beraten und in die Deradikalisierungsarbeit einbezogen" (http://violence-prevention-network.de)
systemische Beratungsansätze unter Einbezug des sozialen Umfelds zum Ausbau tragfähiger, sozialer Bindungen sowie eine kritische Auseinandersetzung mit problematisch erachteten Welt- und Menschenbildern
aufsuchende Jugendarbeit mit sozialräumlichem Fokus unter Ansprache an Aufenthaltsorten der Zielgruppe mit geringerem Grad der Radikalisierung über verschiedene, freiwillige pädagogische Maßnahmen
Religiös-weltanschauliche Ansätze, welche in der Islamisierungsprävention teilweise Anwendung finden, werden in diesem Feld als nicht relevant dargestellt.
Die Ebene der ideologischen Aufarbeitung spielt in allen pädagogisch wirkenden Projekten eine Rolle, wobei die Umsetzung stark differiert. Allgemein kommen anerkannte, durch die Forschung gestützte Methoden der Reintegration zur Anwendung (vgl. Köhler 2015, S. 434). Wenig kann darüber ausgesagt werden, unter welchen demokratiepädagogischen Modellen und Theorien der Demokratiebildung die Projekte arbeiten. "Arbeit, Bildung und persönliche zwischenmenschliche Beziehungen gehören (...) zu den Elementen mit der am umfassendsten belegten positiven Wirkung auf die Verhaltens- und Einstellungsebene im Bereich krimineller und radikaler Karrieren", stellt Köhler fest (Köhler 2015, S. 434). Bei Deradikalisierungskonzepten stehen in der Regel Einzelpersonen im Fokus, die sich radikalen Gruppen anzuschließen oder aus diesen aussteigen wollen. Hinzu kommen die Arbeit mit Gruppen, Beratungen Inhaftierter und die Arbeit im sozialen Umfeld der Betreffenden. Ziele deradikalisierender Maßnahmen sind die Reintegration in die Gesellschaft und das grundlegende Abwenden von Gewalt ausübendem Verhalten (vgl. El-Mafaalani, Aladin u.a. 2016. S. 15). In der praktischen Deradikalisierungsarbeit sind die Ebenen der ideologischen Aufarbeitung, der lebensfragenbezogenen praktischen Unterstützung und der Stärkung emotionaler Bezüge zu unterscheiden (vgl. Köhler 2015, S. 433). Theoretische bzw. abstrakte Diskussionen über Weltbilder und Ideologien werden bei der Zielgruppe als weniger zielführend eingeschätzt als lebensweltlich orientierte, auf persönliche Themen und Beispielsituationen bezogene Erörterungen (vgl. Buchheit 2014, S. 86). Beispielhaft werden hier der positive Bezug auf spielerische Leistungen Schwarzer Spieler_innen der Nationalmannschaften angeführt sowie eine Auseinandersetzung mit individuellen Bedürfnissen über szenespezifische Lieblingsmusik (vgl. ebd., S. 86 f.).
Ausstiegsprozesse sollten folgende Schritte umfassen: 1. Information und Abklärung; Ansprache und Aussteigerwerbung; 2. Vertrauensaufbau und Anamnese; 3. Beratung; 4. Stabilisierung des sozialen Lebens und Netzwerkarbeit; 5. Szenelösung; 6. Beschäftigung mit (Straf-)Taten; 7. Überzeugung; 8. Zielerreichung und Abschluss des Betreuungsprozesses; 9. Nachsorge, welche teilweise parallel verläuft und nicht linear folgt (vgl. Buchheit 2014, S. 82 ff.). Als relevante Ebenen für einen entsprechenden Prozess werden z.B. "Ausstiegsentschluss und Ausstieg", "Schutz und Sicherheit", "Aufarbeitung" und "Integration" angeführt (http:www.exit-deutschland.de). Dabei beginnt die begleitende Arbeit mit einer möglichst niederschwelligen Kontaktaufnahme durch Personen, die sich von der Szene distanzieren wollen. Anschließend sind geeignet scheinende Maßnahmen zu erarbeiten zum Schutz vor gewalttägigen Reaktionen der Szene. Zusätzlich wird rechtlicher Beistand in Auseinandersetzungen mit Behörden als Teil der Zusammenarbeit beschrieben, neben einer Re-Integration in die Gesellschaft unter kompetenzentwickelnden Maßnahmen sowie einer inhaltlichen Abkehr von der bisherigen Ideologie (vgl. http:www.exit-deutschland.de). Buchheit fasst zusammen: "Ein nachhaltiger Ausstieg ist ohne eine weit fortgeschrittene kognitive Deradikalisierung nicht verlässlich möglich. Insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Mehrzahl rechtsextremistisch motivierter Gewaltdelikte unter Alkoholeinfluss, d.h. unter Beeinträchtigung der kognitiven Steuerungsfähigkeit geschieht, scheint nicht einmal eine Straftatenabstinenz ohne diesen Schritt hinreichend verlässlich erreichbar" (Buchheit 2014, s. 87). Zielgruppen deradikalisierender Maßnahmen sind häufig straffällig gewordene oder aktuell in Haft sitzende Personen.
Perspektivenunterschiede bei präventiven und deradikalisierenden Ansätzen
Präventionsarbeit lässt sich in Bereiche der primären, sekundären und tertiären Prävention gliedern (vgl. Böller 2005, S. 1394) und wird allgemein als "vorbeugendes Handeln" (Lukas 2005, S. 655) beschrieben. Damit können de facto alle als Adressat_innen primärer Prävention gelten. Gleichzeitig darf ein großer Teil der Bevölkerung auch in der Bundesrepublik zur Adressat_innengruppe demokratiebezogener, sekundärer Präventionsmaßnahmen gezählt werden
Vom Arbeitsfeld der primären und sekundären Prävention von Neonazismus und demokratiefeindlichen Ablehnungen unterscheiden sich Deradikalisierungsansätze auf verschiedenen Ebenen. Den Schwerpunkt der Adressat_innen bei der Deradikalisierungsarbeit bilden bereits kriminelle, gewalttätige und ideologisch als problematisch erachtete Personen. Deradikalisierungsmaßnahmen gehen von einer Perspektive der Radikalität der Einzelnen aus und versuchen, Wege zu einer ungenau bestimmten Position zurück in die Gesellschaft zu bahnen und zu begleiten. Maßnahmen im Bereich demokratiebezogener Prävention nehmen hingegen die Perspektive von Individuen und Gruppen ein, um diese auf dem Weg zu gesellschaftlicher Selbstbestimmung, dem Nutzen von Freiräumen und bei der Mitgestaltung der sie umgebenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu begleiten. Prävention will nicht Normabweichungen verhindern, sondern individuelle Lebensentwürfe im Rahmen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse (vgl. Böllert 2005, S. 1396) ermöglichen. Zentral ist der Begriff der Bildung. Prävention als Bildung soll "die objektiven Verhältnisse und deren Widersprüche ins Bewusstsein bringen, damit die eigene Gewordenheit und Geschichte eingeholt werden können" (Mende 2009, S. 113). Präventionsarbeit versucht, eine reflektierte Perspektive auf persönliche Freiheitsgrade und strukturell produzierte, individuelle Einschränkungen zu entwickeln, welche Demokratie bildet und zur Weiterentwicklung befähigt. Prozesse emanzipatorischer Bildung sind dabei davon geprägt, dass sie nicht indoktrinierend oder determinierend ablaufen, sondern befähigen zu Kritik und Selbstbestimmung (vgl. ebd., S. 131). "In diesem Sinne heißt Prävention dann, strukturelle und kontextuelle Möglichkeiten und Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass selbstbestimmte Lebensentwürfe tatsächlich realisiert werden können. Scheitern die Adressaten und Adressatinnen bei dem Versuch, eigenständige Lebensentwürfe zu entwickeln, stellt sich die Frage, welche unterstützenden Leistungen erforderlich sind, durch die ihnen entsprechende Kompetenzen vermittelt werden können (vgl. Böllert 2005, S. 1396)."
Radikalisierung wird, wie oben geschildert, häufig über ihre Prozesshaftigkeit, weniger über Inhalte definiert und unterscheidet sich in ihren Definitionen hinsichtlich der Auffassung, welche Personen als Extremist_innen verstanden werden (vgl. Klammer 2016, S. 204). Dabei steht die Bereitschaft zu grundlegenden, gesellschaftlichen Veränderungen unter Angriff auf bestehende Ordnungen im Fokus der Betrachtung (vgl. Dalgaard-Nielsen nach Klammer 2016, S. 205). Während bei der Prävention Gesellschaft kritisch in den Blick geraten muss, scheint sich Deradikalisierung an manchen Stellen v.a. auf individuelle Fehlentwicklungen zu konzentrieren. Präventionsarbeit deutet Individualisierungsmechanismen und damit einhergehende Anforderungen nicht vorrangig mit dem Blick auf Adressat_innen, bei denen es sinnvoll erscheint, eine moderatere Inszenierung anzustreben. Darüber hinaus folgen Deradikalisierungsansätze häufig extremismustheoretischen Modellen (vgl. Neumann 2013 und Dovermann 2013). Deren Erwägungen und Ableitungen wurden verschiedentlich als unzureichend für die politische und pädagogische Auseinandersetzung mit kategorialen, naturalisierenden Ablehnungskonstrukten
Wünschenswert wären dezidiert fachliche Auseinandersetzungen darüber, wo die Grenzen der jeweiligen Ansätze und Erfahrungen liegen und wo tatsächlich fachliche Transfers zwischen Ansätzen der Prävention von Neonazismus oder islamistischem Fundamentalismus geleistet werden können. Dabei wäre es wichtig, Ideologisierungsprozesse auch entlang gesellschaftlicher Machtstrukturen und unterschiedlicher Positionierungen und Privilegierungen der Adressat_innen nachzuvollziehen. Gerade in Zeiten breiter völkisch-nationalistischer Mobilisierungen ist zu erörtern, wo und wie die Bereiche sekundärer und tertiärer Prävention pädagogisch sinnvoll ineinander greifen könnten ohne dabei Betroffene und Adressat_innen primärer Prävention aus dem Blick zu verlieren. El-Mafaalani u.a. weisen zwar auf strukturelle Vergleichbarkeiten der unterschiedlichen Arbeitsfelder hin, betonen aber auch, damit Salafismus und Rechtsextremismus und eine entsprechende pädagogische Auseinandersetzungen, trotz ähnlicher präventiver Ansätze, nicht gleichsetzen zu wollen (vgl. 2016. S. 24). Dabei sind die beschrieben Hinwendungsfaktoren wichtiger Ausgangspunkt für eine gelingende Prozessplanung, denn die hohen Problembelastungen und sozialen Unterstützungsbedarfe stellen eine große Hürde für eine inhaltliche, demokratiepädagogische Arbeit dar (vgl. Hohnstein/Greuel 2015, S. 155 + 197), die in allen Bereichen der Präventionsarbeit zu beobachten ist. Grundlegende Leerstellen bei der Deradikalisierungsarbeit und hier v.a. der ausstiegsbezogenen Deradikalisierung sind nicht vorliegende, nachvollziehbare Evaluationsergebnisse und fehlende allgemeine und umfassende Standards (vgl. Köhler 2015, S. 435) inklusive der notwendigen "Vereinheitlichung von Definitionen und ethisch-praktischen Richtlinien" (ebd., S. 436). Hinzu kommen schwer nachvollziehbare, kognitive Änderungsprozesse, fehlende biografische Verlaufsdokumentationen und hohe sicherheitsbezogene Hürden für Transparenz in der Arbeit (vgl. ebd., S. 435 sowie El-Mafaalani u.a. 2016. S. 16). Dabei scheint die Zusammenführung in der 2014 gegründeten Bundesarbeitsgemeinschaft "Ausstieg zum Einstieg", die auf Transparenz bzgl. ihrer "Ziele, Zielgruppen und Arbeitsweisen" (http://www.ausstiegzumeinstieg.de) setzt, eine wichtige Entwicklung auf diesem Weg zu sein.
Um zukünftig Hinwendungsprozesse zu Neonazismus und völkisch-nationalistischen Ideologien pädagogisch abzuwenden oder Distanzierungsprozesse hiervon erfolgreich anzubahnen, benötigt es einen erweiterten, ausdauernden Dialog der Professionellen auf den unterschiedlichen Präventionsebenen. Dies böte die Möglichkeit, den Ansatz und die Implikationen von Deradikalisierungsmaßnahmen weiter transparent zu machen und ggf. zu ergänzen sowie die Option, erfolgreiche Strategien und Übersetzungsmöglichkeiten aus dem Feld der Auseinandersetzung mit fundamentalistischem Islamismus fachlich zu erörtern.
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