Der NSU-Prozess läuft seit dem 6. Mai 2013 mit der Präzision eines Uhrwerks ab. Dreimal die Woche, immer Dienstag, Mittwoch und Donnerstag, tagt der 6. Senat des Oberlandesgerichts München im Gerichtsgebäude an der Nymphenburger Straße in München. In einem lichtlosen Betonbau, der eher an einen Bunker denn an ein Gerichtsgebäude erinnert. Seit mittlerweile drei Jahren treten dort auf: selbstgewisse Neonazis, blinde Ermittler, mauernde Zeugen. Nachbarn, die von nichts gewusst haben wollen. Und eine Hauptangeklagte, die über ihren Anwalt Erklärungen abgeben lässt, in denen sie sich als ein Opfer ihrer Gefährten darstellt.
Der NSU-Prozess ist der größte Prozess der Nachwendezeit. Seit fast 280 Verhandlungstagen versucht das Gericht unter der Leitung des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl, die Hintergründe von zehn Morden, 15 Raubüberfällen und zwei Sprengstoffanschlägen auszuleuchten. Dem Gericht geht es in erster Linie um die individuelle Schuld der Hauptangeklagten Beate Zschäpe und der vier Männer, die mit ihr auf der Anklagebank sitzen: des früheren NPD-Funktionärs Ralf Wohlleben, seinem früheren Gehilfen und späteren Aussteiger Carsten S., dem langjährigen Freund des NSU-Trios Holger G., und dem späteren Unterstützer André E. Ihnen wird die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, Carsten S. und Ralf Wohlleben zudem Beihilfe zum Mord – weil Wohlleben die Beschaffung der Tatwaffe, einer Ceska 83, in Auftrag gegeben haben soll und Carsten S. sie an die mutmaßliche Terrorgruppe überbracht hat. Diese Tat hat Carsten S. zugegeben. Er ist der Einzige der Angeklagten, der von Anfang an ausgesagt hat und sich auch selbst nicht schont. Carsten S. war als junger Mann in der rechten Szene von Jena aktiv, auch bei den Jungen Nationaldemokraten, dann spürte er immer stärker, dass er als Schwuler von seinen Kameraden abgelehnt wurde und wandte sich von der Szene ab.
Die Hauptangeklagte aber ist Beate Zschäpe. Ihr wirft die Bundesanwaltschaft nicht nur vor, die Taten ihrer Gefährten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gedeckt zu haben und Mitglied in der terroristischen Vereinigung NSU gewesen zu sein. Zschäpe sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie mitgemordet hat – obwohl sie wohl an keinem einzigen Tatort dabei war. Die Bundesanwaltschaft greift dabei auf ein rechtliches Konstrukt zurück, das sie auch in den Prozessen gegen die linke Rote Armee Fraktion (RAF) bemühte: Wer in einem RAF-Kommando mitmachte, musste sich die Taten der anderen zurechnen lassen, auch wenn er selbst nicht geschossen hatte. Die Bundesanwaltschaft wirft Zschäpe vor, sie habe innerhalb des NSU sogar einen sehr wichtigen Tatbeitrag geleistet: die Tarnung der Gruppe nach außen. Sie sei der sichere Hafen für die beiden Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gewesen, die immer wieder losgezogen waren, um türkische und griechische Geschäftsleute zu ermorden und die zuletzt eine deutsche Polizistin töteten. Zudem wird Zschäpe auch vorgeworfen, die gemeinsame Wohnung des NSU in Brand gesetzt und dabei den Tod einer alten Nachbarin in Kauf genommen zu haben. Mundlos und Böhnhardt hatten sich am 4. November 2011 selbst erschossen, als sie nach einem Banküberfall in Eisenach in ihrem Wohnmobil entdeckt worden waren.
Das erste Verhandlungsjahr: die zehn Morde
Das Gericht verhandelt nun seit drei Jahren: Im ersten Jahr ging es vor allem um die zehn Morde. Angehörige der Opfer sagten aus, wie sie ihre Väter, Söhne, Brüder aufgefunden hatten, Zeugen erzählten, wie sie dunkel gekleidete Radfahrer unmittelbar am Tatort gesehen hatten, Gerichtsmediziner berichteten, an welchen Verletzungen die Mordopfer gestorben waren. Im zweiten Jahr dann beleuchtete das Gericht die Zeit vor dem Untertauchen von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt. Wie sich die Gruppe immer stärker radikalisierte, wie in der Kameradschaft Jena, zu der sie gehörten, über den Einsatz von Gewalt geredet wurde. Wie die drei und ihr Freund Wohlleben losgezogen waren und eine Puppe mit einem Judenstern an einer Autobahnbrücke aufgehängt hatten. Und es wurde klar, dass der "Untergrund", in den die drei im Januar 1998 gingen, eine recht öffentliche Angelegenheit war. In einem Kreis von Neonazis in Chemnitz waren sie sicher, als sie schon von der Polizei gesucht wurden: Die Freunde dort besorgten ihnen auf ihre Namen Wohnungen, Pässe, Bahncards, eröffneten ein Konto. Für die drei wurde Geld gesammelt, und es wurden Waffen besorgt. Bis ins Jahr 2002 hatten zudem die Eltern von Uwe Böhnhardt Kontakt zu den Dreien, sie informierten aber nicht die Polizei.
Auch der Thüringer Verfassungsschutz war nah dran: Einmal berichtete Tino Brandt, dass er mit Uwe Böhnhardt in einer Telefonzelle in Chemnitz telefonieren werde. Die Telefonzelle wurde observiert, Böhnhardt auch erkannt, aber die Information versickerte beim Verfassungsschutz. Und einmal saß Beate Zschäpe sogar direkt bei der Polizei: Bei ihr im Haus hatte es einen Wasserrohrbruch gegeben, sie sollte als Zeugin aussagen. Da half ihr Freund André E., Zschäpe gab sich als seine Frau Susann aus. Er stellte ihr auch den Ausweis seiner Frau zur Verfügung. Zschäpe konnte die Polizeiwache in Zwickau unbehelligt wieder verlassen.
Das zweite Verhandlungsjahr: die Rolle von Verfassungsschutz und Polizei
Der Rolle des Verfassungsschutzes und der Polizei ging das Gericht in diesem zweiten Jahr intensiv nach: Allein der hessische Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme musste bisher sieben Mal im Gericht erscheinen. Er war am 6. April 2006 mit großer Wahrscheinlichkeit in einem kleinen Internetcafé in Kassel gewesen, als der NSU dort den 21 Jahre alten Halit Yozgat erschoss. Das Gericht scheint dem Zeugen nicht zu glauben, dass er damals den Mord nicht mitbekommen hat. Temme aber erklärt immer wieder, er habe nichts gehört und den Toten in dem winzigen Café nicht gesehen. Auch meldete er sich nicht als Zeuge bei der Polizei, was ihm Ermittlungen wegen Mordverdachts einbrachte. Sie wurden später eingestellt.
Aber auch andere V-Leute und Geheimdienstler wurden und werden vor Gericht intensiv befragt: Tino Brandt, der als V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes 300.000 Mark bekommen hatte und damit die rechte Szene hochpäppelte. Seine V-Mann-Führer, die sich rühmten, sie hätten das doch alles gut im Griff gehabt. Und der frühere Chef des hessischen Verfassungsschutzes, der sich weigerte, die Quellen von Temme preiszugeben, um seiner möglichen Verwicklung in die Mordtaten nachzugehen. Im dritten Jahr dann bestimmte vor allem der Streit zwischen Beate Zschäpe und ihren drei Anwälten Anja Sturm, Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl den Prozess. Zschäpe wollte die drei loswerden, der Richter ließ das nicht zu – um den Prozess nicht zu gefährden. Doch Zschäpe wurde immer öfter krank, schon befürchtete man, sie könne verhandlungsunfähig werden – dann wäre der Prozess geplatzt. Es ging auch darum, ob Zschäpe redet oder nicht. Ihre alten Anwälte rieten ihr davon ab. Richter Götzl stellte Zschäpe schließlich nach mehr als 200 Verhandlungstagen im Sommer 2015 einen neuen Anwalt zur Seite, Mathias Grasel. Mit ihm und seinem Kollegen Hermann Borchert bereitete Zschäpe eine Erklärung vor, die sie am 9. Dezember 2015 verlesen ließ: Dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die zehn Morde begangen hätten, ohne Unterstützung von anderen. Dass sie selbst immer nur im Nachhinein von den Morden erfahren habe. Dass sie diese Morde nicht wollte, sie ablehnte und sich deswegen auch mit ihren Freunden stritt. Aber dann doch aus Liebe zu Böhnhardt und aus Freundschaft zu Mundlos blieb. Zschäpe ließ erklären, sie habe der Gruppe nicht entfliehen können, weil ihre Männer sie emotional erpresst hätten: Wenn sie gehe, würden sie von der Polizei gefasst, und die Männer würden sich dann selbst töten.
Trio oder Netzwerk?
Glaubt man Zschäpes Erklärung, dann haben Mundlos und Böhnhardt allein gehandelt, ohne Unterstützung durch eine rechte Szene in Dortmund, Rostock, Kassel, Nürnberg oder München. So sieht das auch die Bundesanwaltschaft: Sie geht von einer abgeschotteten Dreier-Gruppe aus. Viele der Nebenkläger dagegen halten es für plausibler, dass Mundlos und Böhnhardt mit Hilfe von Freunden losgezogen sind. Was stimmt, hat der Prozess bisher nicht herausfinden können. Zschäpes Erklärung jedenfalls wurden durch die Bank als unglaubwürdig und lebensfremd bezeichnet, als letzte Ausflucht, um einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu entgehen. Als Zschäpe ihr Schweigen gebrochen hatte, begann auch Ralf Wohlleben zu sprechen. Er ergriff selbst das Wort und stellte sich als gewaltlosen Patrioten dar, dem es nur um den Erhalt des Vaterlandes gegangen sei. Mit der Mordwaffe, deren Beschaffung er laut Anklage für den NSU in Auftrag gegeben hatte, habe er nichts zu tun. Zum wiederholten Mal hatten Wohllebens Anwälte Anfang 2016 gefordert, ihn aus der Haft zu entlassen. Doch das Gericht scheint ihm nicht zu glauben, es erklärte, es halte Wohllebens Aussage für "teilweise unglaubhaft".
Das dritte Verhandlungsjahr: Das Urteil naht
In diesem Jahr nun könnte der Prozess zu Ende gehen: Das Gericht arbeitet derzeit die letzten der 15 Raubüberfälle ab. Doch immer wieder kommt die Verhandlung ins Stocken. Vor allem die Verteidigung von Ralf Wohlleben stellt viele Befangenheitsanträge gegen das Gericht – über sie zu entscheiden, kostet Zeit. Lauter wird die Kritik, die endlich ein Ende des Prozesses fordert.
Inhaltlich wäre das möglich, der Sachverhalt ist mittlerweile weitgehend geklärt: Als Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt 1998 abtauchten, weil Sprengstoff in ihrer Garage gefunden worden war, fanden sie Zuflucht bei Neonazis der militanten Blood-and-Honour-Bewegung in Chemnitz. Später zogen sie dann nach Zwickau und lebten von dem Geld, das Mundlos und Böhnhardt bei ihren Überfällen erbeuteten. Zschäpe selbst zeigte sich nach außen als freundliche Nachbarin, die ihren Männern den Haushalt führte. Immer wieder zogen die Männer los zu ihren Mordtaten. Das Trio lebte bis zum November 2011 unbehelligt in Zwickau, dann wurden Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall in Eisenach von der Polizei in ihrem Wohnmobil gestellt. Dorthin hatten sie sich mit ihren Fahrrädern geflüchtet. Sie schossen noch auf die Polizei, dann legten sie Feuer in dem Wohnmobil und erschossen sich. Als Zschäpe zuhause in Zwickau davon erfuhr, legte sie in der Wohnung Feuer, verschickte die DVDs mit dem Bekennervideo des NSU und flüchtete – wieder mit Hilfe von André E., dem Freund der Familie. Vier Tage später stellte sie sich. Seitdem sitzt sie in Haft. Das Urteil könnte im Herbst 2016 fallen.