Toralf Staud: Herr Professor Bickenbach, der bayerische Justizminister, Winfried Bausback, hat angekündigt, die Verbreitung von "Mein Kampf" Externer Link: unbedingt zu verhindern. Geht das überhaupt?
Christian Bickenbach: Zumindest bisher hatte der bayerische Justizminister tatsächlich die Möglichkeit dazu. Der Freistaat war nämlich im Besitz des Urheberrechts für das Buch. Dies ging zurück auf alliierte Entscheidungen nach 1945, damals wurden ihm einerseits das Vermögen Adolf Hitlers übertragen, andererseits alle Rechte des Franz-Eher-Verlages, des Propagandaverlages der NSDAP. Es liegt im Wesen des Urheberrechts, dass derjenige, dem die Rechte an einem Buch gehören, darüber bestimmen kann, was damit passiert: Er kann es selbst drucken lassen oder anderen die Rechte überlassen. Er kann aber auch Personen oder Unternehmen verklagen, wenn sie ein Buch unerlaubt ohne seine Genehmigung vervielfältigen oder verbreiten. Auf diese Weise konnte der Justizminister als Vertreter des Freistaats Bayern bisher auf ziemlich klarer Rechtslage gegen die Herstellung und Verbreitung von "Mein Kampf" einschreiten.
Warum nur bisher?
Das deutsche Urheberrecht kennt eine zeitliche Grenze: Nach 70 Jahren wird ein Werk – wie man es nennt – gemeinfrei. Das heißt, am Ende des Jahres, in dem der Tod des Urhebers 70 Jahre zurückliegt, erlöschen das Urheberrecht und alle damit verbundenen Verwertungsrechte. Und weil Adolf Hitler im Mai 1945 gestorben ist, darf "Mein Kampf" ab 1. Januar 2016 grundsätzlich von jedermann nachgedruckt werden. Jedenfalls steht das Urheberrecht als Verbotsinstrument dann nicht mehr zur Verfügung.
Aber man könnte doch sicherlich etwas dagegen unternehmen? Zum Beispiel hätte doch der Gesetzgeber das Urheberrecht ändern und die Schutzfrist verlängern können, sagen wir auf hundert Jahre.
Das hätte man natürlich überlegen können. Aber da wäre dann schon mit sehr großem Kaliber geschossen worden. Denn es stellt sich die Frage, ob eine tiefgreifende Änderung eines ganzen Gesetzes nicht unverhältnismäßig gewesen wäre, nur um die Verbreitung eines einzigen Buches zu verhindern. Es wäre wohl auch möglich gewesen, die Schutzfrist nur für "Mein Kampf" zu verlängern oder speziell für nationalsozialistische Propagandaliteratur. Aber da hätte man begründen müssen, warum diese Ungleichbehandlung einzelner Werke nötig sei. Dazu kommt, dass das Buch ja bereits in großer Zahl in Umlauf ist. Es wurde während der Zeit des Nationalsozialismus‘ in Millionenauflage gedruckt, Tausende von Exemplaren dürften bis heute in privaten Bücherregalen stehen. Da wäre es sicher übertrieben gewesen, tief in die bestehende Rechtslage einzugreifen.
Welche anderen Möglichkeiten hätte der Staat denn, wenn sich beispielsweise jemand in eine Fußgängerzone stellen und "Mein Kampf" kostenlos verteilen würde?
Da wäre zuallererst das Verwaltungsrecht zu prüfen, also ob die Behörden mit ordnungsrechtlichen oder polizeilichen Mitteln direkt einschreiten dürfen.
Also zum Beispiel einen Platzverweis aussprechen oder die Bücher beschlagnahmen dürfen?
Richtig. Die Voraussetzung für ein solches Einschreiten wäre, dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorliegt. Hier fragt ein Jurist, welche Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit gefährdet sein könnten. Zu diesen Schutzgütern werden etwa der Bestand des Staates und seiner Einrichtungen gezählt, aber die wird man durch die bloße Verteilung eines gemeinfreien Buches kaum gefährdet sehen können. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit wäre auch gegeben, wenn Individualrechtsgüter verletzt werden.
Also individuelle Rechte, wie es die Urheber- bzw. Verwertungsrechte an "Mein Kampf" bislang waren?
Genau, solange die Rechte des Freistaats an dem Buch verletzt werden, gibt es eine Grundlage für ein behördliches Eingreifen bei derartigen Verteilaktionen. Doch wenn dies wegfällt, bleibt eigentlich nur noch das Strafrecht. Eines der erwähnten Schutzgüter ist nämlich auch die Unverletzlichkeit der geschriebenen Rechtsordnung: Wenn also jemand das Strafgesetzbuch verletzt, darf beziehungsweise muss die Polizei eingreifen.
Moment, wenn sich Bürger durch die skizzierte Verteilaktion gestört fühlen und lautstark dagegen protestieren würden, Sitzblockaden veranstalten und so weiter – dann wäre doch eine Gefahr für den öffentlichen Frieden gegeben!? Wäre das nicht Anlass genug für die Polizei, die Verteilung zu unterbinden?
Nein, so einfach ist das nicht. Andernfalls könnte ja jeder, der nur genügend Unruhe verbreitet, Polizeieinsätze gegen andere Personen provozieren. Nur dass sich jemand durch jemand anderen gestört oder belästigt fühlt, reicht nicht. In einer freien Gesellschaft habe ich normalerweise keinen Anspruch darauf, nicht belästigt zu werden.
Auch ein Holocaust-Opfer nicht?
Da wird es in der Tat kritisch. Aber der Punkt ist nicht, ob jemand in seinen Gefühlen verletzt ist, so berechtigt und nachvollziehbar das auch sein mag. Sondern eine Person muss in ihren Rechten verletzt sein. Und ich sehe nicht wirklich, wie die Verteilung eines gemeinfreien Buches individuelle Rechte verletzen könnte. Einzig ein Angehöriger einer Gruppe, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurde, könnte in Betracht kommen. Aber ob tatsächlich eine Rechtsverletzung erfüllt ist, müsste für jeden Einzelfall gerichtlich geklärt werden.
Es müssten sich also jeweils aufs Neue Opfer des Nationalsozialismus finden, die gegen eine Verteilaktion klagen?
Genau. Doch auch alle anderen Bürger können etwas tun: demonstrieren. Ich kann mich neben den Verteiler stellen und ein Plakat hochhalten "Keine Verteilung von ‚Mein Kampf‘ in der Fußgängerzone!" Ich kann mit allen legalen Mitteln ausdrücken, dass ich das nicht will. Aber ich kann nicht so einfach von Behörden verlangen, aktiv zu werden. Da muss mehr vorliegen. Eben wirklich eine Verletzung meiner Rechte. Oder es muss, wie gesagt, eine Straftat vorliegen, also ein Verstoß gegen das Strafgesetzbuch.
Da fällt einem bei "Mein Kampf" natürlich sofort das Verbot ein, Propagandamittel verfassungswidriger Organisationen zu verbreiten!
Genau, Externer Link: Paragraph 86 des Strafgesetzbuches. Da kann man als Laie denken, der sei doch klar erfüllt …
… denn "Mein Kampf" war zweifellos eine der wichtigsten Propagandaschriften der NSDAP.
Allerdings ist zu beachten, dass der Begriff Propagandamittel sehr eng ausgelegt wird. Es gibt hierzu eine deutliche Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) von 1979. Es ging damals genau um "Mein Kampf" und ein Antiquariat, das dieses Buch zum Verkauf angeboten hatte. Der BGH entschied damals, dass ein Propagandamittel im Sinne des Paragraphen 86 StGB nur ein Gegenstand ist, der direkt gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik gerichtet ist. Nun hat aber Hitler sein Buch bekanntlich in den 1920er Jahren geschrieben, also lange vor Gründung der Bundesrepublik. Und deshalb, so der BGH, könne die Intention des Buches ja gar nicht Propaganda gegen die Bundesrepublik und das Grundgesetz sein.
Das wirkt doch sehr haarspalterisch.
Mich überzeugt die Argumentation auch nicht restlos, aber das ist die höchstrichterliche Rechtsprechung. Damit "Mein Kampf" unter den Paragraphen 86 fällt, müsste dem historischen Buch irgendetwas hinzugefügt sein – zum Beispiel ein Vorwort, eine Umschlaghülle oder andere Ergänzungen, die auf die heutige Demokratie zielen. Eine historische Ausgabe oder ein unveränderter Nachdruck sind mit diesem Paragraphen nicht greifbar.
Kann man solche höchstrichterlichen Urteile kippen? Könnte der BGH sich eventuell korrigieren?
Theoretisch könnte der BGH seine Rechtsprechung ändern, wenn es zu einem erneuten Prozess käme. Aber wie wahrscheinlich ist das? Man bräuchte einen vergleichbaren Fall, in dem es – entgegen der bisherigen Rechtsprechung – zu einer Verurteilung gekommen ist. Würde ein Staatsanwalt so etwas versuchen, also jemanden gegen ein Urteil des BGH auf die Anklagebank setzen – das macht man eigentlich nicht, das hätte schon ein Geschmäckle. Dann müsste dieser Fall auch noch bis zum BGH getrieben werden. Und es ist ja noch nicht einmal sicher, dass das Gericht sich tatsächlich korrigiert … Nein, wenn man mit der Rechtsprechung nicht einverstanden ist, sollte man eher versuchen, den Begriff des Propagandamittels klarer zu fassen.
Also den Paragraphen 86 zu ändern?
Ja, der Gesetzgeber könnte zum Beispiel explizit festlegen, dass ein Propagandamittel nicht mit der Intention eines Angriffs auf die heutige Demokratie geschrieben worden sein muss. Aber da berührt man den Grundsatz, dass es im Strafrecht ein sehr strenges Bestimmtheitsgebot gibt. Die Einbeziehung von Schriften, die vor 1949 geschrieben worden sind, also lange vor Gründung der Bundesrepublik und Erlass des Grundgesetzes, würde den Anwendungsbereich dieser Gesetzesvorschrift erheblich ausdehnen. Nicht nur Schriften z. B. aus der Zeit des Nationalsozialismus wären erfasst, sondern auch davor. Eine zeitliche und damit bestimmte Grenze würde nicht bestehen. Ich vermute, dass dies auch die Intention des BGH bei seiner genannten Entscheidung gewesen ist – also sehr, sehr zurückhaltend zu sein, irgendwelche Strafen für etwas zu verhängen, was irgendwie an die Zeit vor dem Grundgesetz anknüpft.
Nun gut, eine andere juristische Möglichkeit wäre vielleicht der Externer Link: Strafgesetz-Paragraph 86a, der das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen unter Strafe stellt. Wenn zum Beispiel auf dem Einband des Buches ein Hakenkreuz prangt …
… dann stellt sich trotzdem die Frage, ob allein deshalb die Verbreitung des Buches eine Straftat darstellt. Natürlich ist das Hakenkreuz ein Symbol im Sinne des Gesetzes. Allerdings enthält der Paragraph 86 in Absatz 3 eine sogenannte Sozialadäquanzklausel, auf die auch der Paragraph 86a verweist. Das bedeutet, dass die Verwendung eines solchen Symbols nicht bestraft wird, wenn sie Teil einer ansonsten sozialadäquaten Handlung ist, also einer ansonsten gesellschaftlich üblichen und akzeptierten Handlung. Um beim Antiquar aus dem obigen Beispiel zu bleiben: Wenn er dieses Exemplar von "Mein Kampf" ganz normal verkauft wie andere Bücher, dann kann man sagen, gut, dieser Verkauf dient nicht der Verherrlichung oder der Überhöhung des Nationalsozialismus‘. Er dient vielleicht sogar der Aufklärung, also dazu, dass sich ein Käufer kritisch mit dem Buch auseinandersetzen kann. In diesem Falle wäre das Hakenkreuz eher Beiwerk zu dem Bucheinband und dessen Verbreiten nicht strafbar.
Wenn jedoch jemand mit demselben Buch auf einer NPD- oder Pegida-Demonstration herumlaufen und es hochhalten würde …
… dann wäre das etwas ganz anderes. Dann müsste man zwar die grundgesetzliche Versammlungsfreiheit prüfen, aber, ja, das wäre dann wohl das bewusste Verwenden eines Symbols einer verfassungswidrigen Organisation und damit strafbar. Denn in diesem Beispiel ginge es gerade nicht um staatsbürgerliche Aufklärung oder ähnliches.
Spielen wir noch ein Beispiel durch: Was wäre, wenn ein einschlägiger Neonazi-Versand ab 1. Januar 2016 "Mein Kampf"-Nachdrucke in sein Programm aufnähme?
Ein Betreiber solcher Unternehmungen hat üblicherweise einen kundigen Anwalt – und der wird ihm vermutlich davon abgeraten haben, ein Hakenkreuz auf den Buchumschlag zu nehmen. Aber wenn nichts dergleichen aufgedruckt ist und auch nichts offensichtlich glorifiziert wird, dann kommt man mit dem Paragraphen 86a nicht weiter. Da würde man eher Paragraph 130 heranziehen …
… also den Straftatbestand der Externer Link: Volksverhetzung.
Dieser ist meines Erachtens bei "Mein Kampf" eindeutig erfüllt. Es war bekanntlich DAS Buch der NS-Ideologie. Der ganze Rassismus, der Antisemitismus, der Antiparlamentarismus, der Imperialismus, der im Nationalsozialismus steckt, steht in diesem Buch. Wenn wir ins Gesetz schauen, steht da ganz klar: "Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft."
Ist es Konsens unter Juristen, dass "Mein Kampf" volksverhetzend ist?
Unter Juristen gibt es so gut wie nie einen Konsens. Nicht zuletzt gibt es ja auch Juristen, die nationalsozialistischen Ideen anhängen ... Allerdings ist "Mein Kampf" teilweise in rechtswissenschaftlichen Kommentierungen zu Paragraph 130 ausdrücklich als Beispiel genannt, zumindest aber wird auf Schriften mit nationalsozialistischem, insbesondere antisemitischem, Inhalt verwiesen. "Mein Kampf" hat einen solchen Inhalt.
Wann genau ist der Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt? Bereits wenn ich "Mein Kampf" im Regal habe?
Nein, der reine Besitz ist nicht strafbar. Sie müssen das Buch herstellen, es verbreiten, z. B. in der erwähnten Fußgängerzone, der Öffentlichkeit zugänglich machen, es Jugendlichen anbieten oder überlassen und so weiter. Der Paragraph enthält da eine relativ lange Liste möglicher Tathandlungen.
Wenn also das oben genannte Neonazi-Versandhaus das Buch vertreibt, dann könnte ein Staatsanwalt einschreiten, richtig?
In der Tat, wenn die Bestell-Website öffentlich zugänglich ist und "Mein Kampf" wirklich verschickt wird, dann wird man wohl dagegen vorgehen können.
Ist es etwas anderes, wenn ein normaler Buchhändler das Buch verkauft? Wenn er zum Beispiel meint, die Öffentlichkeit müsse sich mit "Mein Kampf" beschäftigen, um den heutigen Rechtsextremismus wirksam bekämpfen zu können?
Man muss sich jeden Fall genau anschauen, denn auch für Paragraph 130 gilt teilweise die schon erwähnte Sozialadäquanzklausel. Darin sind Ausnahmen festgelegt, wenn jemand zum Beispiel "staatsbürgerliche Aufklärung" bezweckt oder "die Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen" – dann darf er das Buch oder Passagen durchaus verbreiten. Dasselbe gilt für Künstler, Wissenschaftler oder auch Journalisten. Es kommt immer sehr stark auf die subjektive Intention an, mit der man "Mein Kampf" verbreiten will. Wenn also im Rahmen eines aufklärerischen Theaterstücks oder in einem kritischen Zeitungsartikel über das Buch Zitate daraus wiedergegeben werden, dann ist das unproblematisch.
Aber wenn eine Neonazi-Gruppe auf die Idee kommen sollte, "Mein Kampf" öffentlich zu verlesen, dann hilft es ihr auch nicht, das als Theaterperformance zu deklarieren?
Genau. Wenn es meine Intention ist, über den Nationalsozialismus aufzuklären und keine positive oder verherrlichende Haltung zu erkennen ist, kann ich mich auf die Ausnahmeklausel berufen – andernfalls nicht. Auch Kunst hat Grenzen. Kunstfreiheit ist zwar ein sehr starkes Grundrecht, aber wenn ich die Kunst benutze, um Volksverhetzung zu betreiben, ist das strafbar.
Eine letztes fiktives Beispiel: Ein Geschichte-Leistungskurs am Gymnasium, der Lehrer verteilt einige Seiten kopierten Originaltext von "Mein Kampf". Erlaubt?
Ja, sofern er dies mit dem Ziel der staatsbürgerlichen Aufklärung tut. Wenn er also sagt, wir sehen uns mal diese Hitlertexte an und nehmen das Punkt für Punkt auseinander. Dies war ja auch in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer ein Einwand gegen die strikte Linie, alle Nachdrucke mit Verweis auf das Urheberrecht zu verhindern. Nebenher wurde damit, könnte man sagen, auch verhindert, dass man sich das Buch zum Zwecke der Aufklärung oder Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus kaufen kann.
Das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) legt Anfang 2016 eine
Eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe ist überhaupt kein Problem. Aber natürlich muss sie wirklich seriös gemacht sein, um unter die Wissenschaftsfreiheit zu fallen, sie muss ein nach Inhalt und Methode ernsthafter Versuch sein, um Erkenntnisse zu gewinnen. Und aus meiner Sicht ist dies bei dem Projekt des IfZ eindeutig der Fall. Dann haben weder Staatsanwälte noch Justizminister Grund oder rechtliche Mittel, dagegen vorzugehen. Anders läge der Fall sicherlich, wenn zum Beispiel ein notorischer Holocaust-Leugner eine kommentierte Ausgabe vorlegen würde, in der er in Fußnoten den Hitler-Text bejaht oder verherrlicht.
Sie haben bereits Grundrechte angesprochen, etwa die Kunst- oder die Wissenschaftsfreiheit. Könnte sich dieser Holocaust-Leugner oder auch ein Neonazi-Versandhaus nicht auf Meinungsfreiheit berufen?
Er oder sie könnte es sicherlich versuchen, wird aber kaum durchkommen damit. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes besagt klar, dass auch die Meinungsfreiheit Grenzen hat: Eine nationalsozialistische Überzeugung mag ja noch unter die Meinungsfreiheit fallen, aber ihr Äußern ist strafbar. Karlsruhe hat in der sogenannten Externer Link: Wunsiedel-Entscheidung von 2009 festgestellt, dass es das Grundgesetz nicht verletzt, wenn der Staat die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung des Nationalsozialismus‘ im Volksverhetzungsparagraphen unter Strafe stellt.
Was ist mit der verfassungsrechtlich garantierten Berufsfreiheit, könnte sich ein Neonazi-Versandhaus eventuell darauf berufen? Oder aufs Zensurverbot?
Nein, die Berufswahl- und die Berufsausübungsfreiheit stehen im Grundgesetz unter normalem Gesetzesvorbehalt, sie dürfen also durch Gesetz beschränkt werden. Es verletzt nicht die Berufsfreiheit eines Versandhändlers oder Antiquars, wenn er einzelne Bücher nicht verkaufen darf. Und wenn er sagt, er wolle aber ein Buchhändler speziell für NS-Literatur sein – nein, das ist kein eigenständiger Beruf, der vom Grundgesetz geschützt ist.
Auch das Zensurverbot in Artikel 5 sticht nicht, aber das wird häufig missverstanden. Dort heißt es zwar: "Eine Zensur findet nicht statt." Doch das muss man im historischen Kontext sehen. Der Begriff "Zensur" meint dort eine flächendeckende, staatliche Vorzensur, wie sie im 19. Jahrhundert üblich war. Damals mussten Zeitungen ihre Artikel flächendeckend vor der Veröffentlichung einem staatlichen Kommissar zur Freigabe vorlegen. So etwas wird vom Grundgesetz ausgeschlossen. Wenn heute der Vertrieb eines bestimmten Buches als Volksverhetzung bestraft wird, ist das etwas völlig anderes. Dasselbe gilt zum Beispiel, wenn eine gewaltverherrlichende CD von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften aus dem Verkehr gezogen wird. Da sind wir bei den ganz normalen Schranken der Meinungsfreiheit.
Was wird denn konkret passieren, wenn ab dem 1. Januar 2016 irgendwo eine unkommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" angeboten wird – im Internet oder in einem Buchladen oder bei einer Verteilaktion in einer Fußgängerzone oder vor einer Schule?
Dann wird sich bald erweisen, wie effektiv der Volksverhetzungsparagraph ist oder ob er eventuell Lücken aufweist. Es wird vermutlich ein Staatsanwalt aktiv werden und ein Strafverfahren einleiten. Er könnte Beschlagnahmen einleiten oder Hausdurchsuchungen und dann Anklage erheben.
Wenn ich als Bürger das Buch bei einem Neonazi-Versandhändler auf der Website entdecke, kann ich Anzeige erstatten?
Ja, das kann jeder. Aber Staatsanwälte können auch selbst aktiv werden, also von Amts wegen. Man wird dann sicherlich schauen müssen, welche Staatsanwaltschaft jeweils zuständig ist – in der Regel diejenige, in deren Zuständigkeitsbereich sich die Tathandlung abspielt oder abgespielt hat. Also zum Beispiel an welchem Ort ein Versandhaus seinen Sitz hat. Jedenfalls dürfte es irgendwann zu einem Prozess kommen, und ein Gericht wird ein Urteil sprechen, gegen das dann Berufung oder Revision eingelegt werden kann. Es ist gut möglich, dass das Thema irgendwann vor dem Bundesverfassungsgericht landet. Ich gehe davon aus, dass hier einschlägige Versandhäuser oder Personen versuchen werden, die Grenzen zu testen.
Und wenn es letztlich zum Freispruch kommt?
Dann wird die Gesellschaft das entweder aushalten müssen, oder es beginnt eine Debatte, ob das Strafrecht geändert werden soll. Wenn sich die Ansicht durchsetzt, dass es hier eine unerträgliche Strafbarkeitslücke gibt, dann könnte beispielsweise der Tatbestand der Volksverhetzung im § 130 explizit so definiert werden, dass bis dahin nicht erfasste Formen der Verbreitung von "Mein Kampf" darunter fallen. Falls man sich hierfür entscheidet, wäre es Sache des Bundes, denn für das Strafgesetzbuch und eventuelle Verschärfungen ist der Bund zuständig. Das Land Bayern kann es nicht im Alleingang ändern, sondern es müsste zum Beispiel eine Bundesratsinitiative starten. Vom juristischen Standpunkt spräche nichts grundsätzlich dagegen.
Biografischer Hinweis
Christian Bickenbach ist Professor für Verwaltungsrecht, insbesondere Regulierungs- und Infrastrukturrecht an der Universität Potsdam.