In den vergangenen Jahren wurde von Seite internationaler Organisationen (UNO, amnesty international u.a.) mehrfach eine Zunahme rassistischer Formen der Ausgrenzung und Diskriminierung in Deutschland registriert und eine aktivere Form der politischen Abwehr eingefordert. Solche Beobachtungen schaffen es fast immer als Meldung in die deutschen Zeitungen, manchmal werden sie mehr oder weniger brüsk zurückgewiesen, bisweilen rufen sie auch politische Versprechen hervor, mehr gegen Rassismus zu tun – doch eine breitere öffentliche Debatte zum Thema blieb bislang aus. Die Phänomene, die im internationalen Blick als Ausdrucksformen von Rassismus angesprochen werden – von den Pegida-Protesten über Fremdenangst und Ausländerhass bis zur Mordserie des NSU – werden hierzulande lieber einzeln diskutiert, als ostdeutsche Befindlichkeit oder als Flüchtlingsproblem oder als Neonazismus, höchst selten aber als Varianten eines gemeinsamen Problems namens Rassismus.
Darin drückt sich zunächst eine deutliche Weigerung aus, Rassismus generell als ein in der deutschen Gesellschaft dauerhaft präsentes Problem aufzufassen. Denn das widerspräche einem wesentlichen Teil des Selbstbildes der Bundesrepublik, die gerade aus der Befreiung von einem rassistischen System als dessen Gegenteil gegründet wurde. Je erfolgreicher die Aufarbeitung dieser Vorvergangenheit, desto weniger scheint man bereit, in der Wiederkehr ähnlicher Phänomene mehr zu sehen als pathologische Ausnahmen mit je eigenen, ganz besonderen Bedingungen und Umständen. Bisweilen wird daher die Feststellung ausländischer Beobachter, in der Bundesrepublik gebe es Rassismus, wie ein Sakrileg wahrgenommen.
Tatsächlich aber markiert der ausländische Blick Formen des Rassismus in Deutschland, wie sie auch in anderen Ländern so präsent wie problematisch sind. Gemeint sind damit sämtliche Formen einer Anfeindung von Gruppen, die sich durch bestimmte reale oder imaginierte Merkmale auszeichnen. Diese weite Definition des Rassismus ist im deutschen Sprachraum eher ungewöhnlich. So definiert die online-Enzyklopädie 'Wikipedia' den Rassismus gleich im ersten Satz als eine "Ideologie", welche "die 'Rasse' als grundsätzlichen bestimmenden Faktor menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften deutet."
In Deutschland versteht man unter "Rassismus" eher eine Theorie, im Ausland eher eine Praxis
Nun ist es sicher nicht von der Hand zu weisen, dass viele Formen rassistischer Anfeindung jene Vorstellung von der Allmacht der Rassenzugehörigkeit als eine Art Hintergrundüberzeugung in sich tragen. Doch tendiert man gerade in Deutschland zu einem gefährlichen Umkehrschluss: Wo diese theoretische Hintergrundüberzeugung fehlt, so eine geläufige Annahme, liege auch kein Rassismus vor. Eben deshalb kann über den NSU, der scheinbar willkürlich migrantische Kleinunternehmer erschossen hat, als 'rechtsradikale Terrorzelle' oder 'ausländerfeindliche Verbrecherbande' berichtet werden, ohne dass der Begriff Rassismus auch nur am Rande auftaucht. Dabei hat sich inzwischen herausgestellt, dass die Sensibilisierung der Ermittlungsbehörden gegenüber der Möglichkeit einer schlicht rassistischen Motivation der Täter sehr viel rascher zur Aufklärung der Mordserie hätte beitragen können. Und aus dem gleichen Grund wird ein Buch wie "Deutschland schafft sich ab" von Thilo Sarrazin in der Öffentlichkeit als 'provokativ', 'rechtslastig' oder 'nationalistisch', nicht aber als rassistisch bezeichnet. Denn weder der Begriff der Rasse noch jene naive Grundannahme, allein sie bestimme über den Charakter und das Handeln der Menschen, tauchen dort so auf.
Das ist in anderen Ländern und besonders im englischen Sprachraum anders. Auch hier versteht man im Allgemeinen zwar unter Rassismus eine Ideologie oder ein Konglomerat aus ideologischen Annahmen und Denkweisen. Doch als seine primäre Ausdrucksform, in der diese Annahmen überhaupt sichtbar werden, gilt vor allem das praktische, alltägliche Handeln: von abwertenden Sprechakten über strukturelle Diskriminierung und Ausgrenzung bis zur offenen Anfeindung und rassistischen Gewalt.
Das mag, gerade aufgrund der so erfolgreichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hierzulande, zunächst verwundern. Jedoch nur solange man den rassistischen Antisemitismus der Nazis mit Rassismus schlechthin gleichsetzt.
Wenn man in Deutschland also davon ausgeht, Rassismus sei vor allem eine theoretische Weltsicht, und zugleich angenommen wird, mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit auch die eigene Rassismus-Geschichte vollständig aufgearbeitet zu haben (und auf eben diesen Hintergrundkonsens stößt man immer wieder im Alltag, in Schulbüchern oder auch im Feuilleton), dann steckt in dieser Wahrnehmung ein Problem. Sie blendet alle anderen Formen des Rassismus in der deutschen Geschichte, vor und nach dem Nationalsozialismus, aus dem historischen Selbstbild aus; Formen, die 'uns' als europäisch-abendländische Nation ebenso betreffen wie alle anderen: vom Antijudaismus über den Kolonialrassismus bis zu heute populären Formen der 'Überfremdungs'-Angst.
Anderswo ist ethnische und kulturelle Vielfalt alltäglicher und normaler als hierzulande
Es sind eben diese vielfältigen und zugleich historisch weit zurückreichenden Formen des Rassismus, die in andern westlichen Ländern in der Diskussion auch um aktuelle Formen des Rassismus sehr viel präsenter sind als in Deutschland. Zum Teil auch deshalb, weil die vom Rassismus betroffenen Menschen in diesen Ländern sehr viel präsenter sind als in Deutschland. Es ist immer noch eine Tatsache, dass im Vergleich zu Paris oder Marseilles, Rom oder Neapel, London oder New York weder Berlin noch Köln oder Hamburg ein ähnliches Maß ethnischer und kultureller Alltagsvielfalt aufweisen. Auch das hat mit einer langen Vorgeschichte zu tun: Im Falle Großbritanniens und Frankreichs etwa stammen nach wie vor die meisten Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien: Beide Länder waren bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein Europas wichtigste Kolonialimperien.
In den USA wiederum spielt das historische Erbe der Sklaverei eine große Rolle sowie die Tatsache, dass die Nation im 19. Jahrhundert als eine Gesellschaft von Wirtschaftsflüchtlingen groß wurde. Ebenso sind Länder wie Spanien und Portugal oder auch deren ehemaliges Kolonialreich in Südamerika weiterhin von einer komplexen und vielfältigen kulturellen und ethnischen Pluralität geprägt. Wenn man hinaussieht nach Asien, Afrika oder in den Nahen Osten, ist die Welt, wenn auch politisch in Nationalstaaten gegliedert, gesellschaftlich durch Kolonialismus, Imperialismus und Globalisierung von einer massiven kulturellen, ethnischen und sozialen Diversität gekennzeichnet. In Deutschland aber ist dies noch lange nicht als eine soziale Tatsache anerkannt. Erst in allerjüngster Zeit zwingt uns die schiere Zahl von Flüchtlingen und Migranten, die derzeit nach Deutschland kommen, zu einem Umdenken.
Der Rassismus ist eine der ältesten Ideologien der Ordnung dieser Unordnung. Damit unterscheidet sich der Rassismus von vielen anderen Ideologien. Deren Funktion liegt meist darin, das Bestehende zu rechtfertigen und zu stabilisieren.
Der Unterschied besteht lediglich darin, dass es in den USA ausdifferenzierte Begründungen rassistischer Anfeindung gegenüber ganz bestimmten ethnischen Gruppen gibt, während sich Rassismus im heutigen Deutschland meist als eher unspezifischer Fremdenhass äußert. So ist es denjenigen, die hierzulande regelmäßig gegen die Einrichtung von Flüchtlingsheimen demonstrieren, relativ egal, ob diese Flüchtlinge aus Afrika, Syrien oder Bosnien stammen. In den USA dagegen gibt es eine seit Jahrhunderten tradierte rassistische Mythologie der Schwarzen, die in immer neuen Varianten erzählt, was genau diese gefährlich macht. Auch in Großbritannien, etwa gegenüber Indern oder Pakistani, oder in Frankreich gegenüber den Algeriern gibt es solche hergebrachten und zum Teil sehr ausdifferenzierten rassistischen Stereotypologien.
In Deutschland gab es das auch einmal – bis 1945 – in der deutschen Tradition des Antisemitismus. In bestimmten Kreisen mag es diese auch immer noch geben, ebenso wie sich inzwischen stereotype Bilder von Türken, Muslimen, 'Zigeunern' oder Afrikanern ausbilden. Vorherrschender und populärer aber ist hierzulande nicht ein gegen bestimmte Gruppen gerichteter Rassismus, sondern eine allgemeine Überfremdungsangst, die sich als Bedrohung des Eigenen mehr artikuliert als durch Agitation gegen bestimmte Gruppen.
Rassismus gab es in der deutschen Geschichte auch vor und nach dem Holocaust
Die andere Seite dieses diffusen Rassismus ist jene strukturelle Blindheit gegenüber den anderen, nicht unmittelbar mit dem Nationalsozialismus zusammenhängenden Formen von Rassismus in der deutschen Geschichte. So gehörte Deutschland für immerhin drei Jahrzehnte (von 1884 bis 1914) zu den drei wichtigsten Kolonialmächten der Welt mit Besitztümern in West-, Südwest- und Ostafrika, in Asien und im Pazifik. Literatur und Wissenschaft hatten zudem schon seit dem 18. Jahrhundert zumindest theoretisch ein kolonialpolitisch tätiges Deutschland entworfen. Und es waren nicht zuletzt deutsche Naturphilosophen und Rassenanthropologen, von Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder bis zu Ludwig Woltmann und Alfred Ploetz, die zur szientistischen Unterfütterung des europäischen und allgemein westlichen Rassismus beigetragen haben.
Auch nach 1945 fügte sich die sogenannte Dritte-Welt-Politik Deutschlands relativ nahtlos in den imperialen Gestus der anderen europäischen Mächte ein, die erst in den 1960er Jahren dem nationalen Unabhängigkeitsbestreben der Kolonisierten widerstrebend nachgaben.
Zugleich aber übersieht man einen wichtigen Aspekt: Dass Maßnahmen und Regeln einer political correctness aus Kontexten insbesondere der US-amerikanischen Gesellschaft stammen, die durch ein vielfach höheres Maß an multikultureller Vielfalt gekennzeichnet sind als die bundesrepublikanische. Oft gehen sie dort auf langjährige Proteste von Bürgerbewegungen zurück, die sich gegen den nach wie vor existenten und auch für deutsche Beobachter unübersehbaren strukturellen Rassismus der amerikanischen Gesellschaft zur Wehr setzten. Zugleich aber, und auch das unterscheidet diesen Kontext massiv vom deutschen, würde in den USA niemand auf die Idee kommen, das Wort 'Rasse' aus irgendwelchen Texten oder Dokumenten streichen zu wollen. Im Gegenteil, einer der Hauptslogans schwarzer Emanzipation in den USA lautet: 'race matters' (zu deutsch: "Rasse zählt"), womit Differenz betont und die Ignoranz der weißen Noch-Mehrheitsbevölkerung gegenüber dem Rassenproblem angeprangert wird.
Es entsteht ein neuer "Rassismus ohne Rassen" – gegen den es auch neue Rezepte geben muss
So wichtig es scheint, die Differenzen zwischen national verschiedenen Formen des Rassismus ebenso wie zwischen den national verschiedenen Formen seiner Wahrnehmung zur Kenntnis zu nehmen – derzeit spricht vieles für eine allmähliche Angleichung der Rassismusbegriffe wie auch der internationalen Formen des Rassismus. So gibt es zum einen eine Europapolitik, die gerade in Sachen Gleichstellung, sozialer Gerechtigkeit und Antidiskriminierungspolitik immer wieder von Brüssel aus gesamteuropäische Verfahrensweisen und Reglements erlässt. So begrüßenswert das an sich ist, so leidet diese Politik, wie fast jede europäische Gesamtpolitik, am strukturellen Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU. Weshalb nicht wenige dieser Regeln früher oder später vor den nationalen Gerichtshöfen landen oder ihre Umsetzung von vorneherein den Mitgliedstaaten selbst überlassen bleibt.
Zum zweiten ist eine gewisse gesamteuropäische Angleichung rechtsradikaler und allgemein rassistischer Parteien und Bewegungen zu erkennen. Verschleiert von einer nationalistisch-antieuropäischen Rhetorik schmelzen die erkennbaren ideologischen Differenzen zwischen den sogenannten rechtspopulistischen Parteien in Frankreich, Holland, Skandinavien, Deutschland, Österreich oder auch in der Schweiz oder in Osteuropa dahin. Wer genauer hinschaut, sieht nicht nur immer mehr ideologische Ähnlichkeiten, sondern auch immer mehr konkrete Vernetzungen.
Wie an der Grenze zwischen den USA und Mexiko stehen inzwischen auch an der Südgrenze Europas, nämlich im nördlichen Afrika, befestigte und bewaffnete Grenzanlagen, um die Flüchtlinge noch auf dem Nachbarkontinent von Europa fernzuhalten. Zugleich hat die Zahl im Mittelmeer ertrunkener Flüchtlinge in diesem Jahr einen neuen, noch vor kurzem undenkbaren Höchststand erreicht – und die EU reagiert auf diese 'menschliche Katastrophe' mit einem Ausbau des Grenzschutzes, mit militärischen Lösungsvorschlägen sowie einer bizarren Debatte über die 'gerechte Verteilung' der Flüchtlinge, die es dennoch schaffen, unter den europäischen Mitgliedstaaten. Und ausgerechnet vor diesem Hintergrund wird das 'Ernstnehmen' einheimischer Ängste vor Überfremdung in Zeiten zunehmender Auflösung politischer Milieus zu einem immer probateren Mittel, Wähler vom rechten bis ins linke Lager zu mobilisieren, in Deutschland ebenso wie in vielen anderen europäischen Ländern. All diese Tendenzen zeugen von der allmählichen Herausbildung einer neuen Variante des Rassismus. Er taucht nur noch selten in Form offener Hetze gegen bestimmte Gruppen oder in Form explizit biologistisch begründeter Anfeindung auf. Stattdessen werden die Angst vor dem Fremden und die Notwendigkeit, das Eigene vor Überfremdung zu schützen, selbst zu Prinzipien einer natürlich-normalen und 'gesunden' Selbsterhaltung erklärt. Der Rassismus, so ließe sich sagen, zieht sich von den konkret Ausgegrenzten zurück und besinnt sich auf das innere Prinzip der Selbsterhaltung durch Ausschluss des Anderen, ohne es mehr nötig zu haben, Vorurteile über dieses Andere zu erfinden. Oder anders formuliert: Der Rassismus heute ist ein Rassismus ohne Rassen. Darin aber steckt keine Normalisierung, sondern eine Radikalisierung: denn zum einen kann im Prinzip jeder Opfer dieses rasselosen Rassismus werden, und zum anderen verschärft er massiv die kollektive Blindheit gegenüber dem konkreten und eben auch durch konkrete Herkunft bestimmten Lebensschicksal jedes einzelnen 'Fremden' und jedes einzelnen Flüchtlings.
Die fatale Wirkung dieses Neorassismus, der keiner Vorurteile und keiner Pseudo-Biologie mehr bedarf, stattdessen in immer neuen Varianten das kulturelle, soziale oder politische Selbsterhaltungsrecht als Recht zur Ausgrenzung umdeutet, haben einige französische Sozialwissenschaftler schon in den 1990er Jahren analysiert und vorausgesehen.
Umso mehr bedarf es einer internationalen Diskussion zum Thema Rassismus, in der die national unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen genutzt werden könnten, um seine Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit zu verstehen und ihm vielleicht sogar etwas entgegensetzen zu können. Angesichts dieser Entwicklungen wäre es wichtig, den Rassismus nicht zuletzt in Europa und besonders in Deutschland als ein reales, gesellschaftspolitisches Thema zu behandeln, ihn gerade nicht auf Fragen der 'politisch korrekten' Sprache zu reduzieren, sondern als einen Teil jener sehr großen und sehr wichtigen Frage zu betrachten, was für ein Europa wir für die Zukunft wollen: pluralistisch, multikulturell und human oder (supra-)nationalistisch, homogen und sich abschottend. In diesen gesellschaftspolitischen Rahmen gehört das Thema Rassismus – und nicht ins Feuilleton.
Zumindest das lässt sich von Amerika dann doch lernen. Die USA sind das westliche Land, das wohl nach wie vor in seinem Innern am meisten vom Rassismus geprägt ist. Vielleicht scheint uns das aber auch nur so, weil in Amerika als Rassismus auch öffentlich angesprochen wird, was Rassismus ist. Davon ist Europa noch weit entfernt. In diesem Sinne wäre es vielleicht keine schlechte Idee, künftige Diskussionen zum Thema mit jener amerikanischen Einsicht zu beginnen, an der früher oder später weder Deutschland noch Europa vorbei kommen werden: Race matters.