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Kritische Anmerkungen zur Verwendung des Extremismuskonzepts in den Sozialwissenschaften | Rechtsextremismus | bpb.de

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Kritische Anmerkungen zur Verwendung des Extremismuskonzepts in den Sozialwissenschaften

Prof. Dr. Richard Stöss

/ 6 Minuten zu lesen

Für die Sozialwissenschaften ist die Extremismustheorie unbrauchbar, glaubt Richard Stöss. Denn sie bezeichne Extremismus als Gegenteil der Demokratie und unterschlage dabei, dass extremistisches Gedankengut auch in der Mitte einer demokratischen Gesellschaft existieren kann.

Prof. Dr. Richard Stöss

Problemstellung

Dem von den Verfassungsschutzbehörden verwendeten Extremismusbegriff liegt das Konzept der wehrhaften oder streitbaren Demokratie zugrunde: Den Gegnern der Demokratie von rechts und links soll frühzeitig jede Möglichkeit genommen werden, unter Ausnutzung der demokratischen Rechte und Freiheiten die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik zu beseitigen. Dieses Konzept wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der Weimarer Republik, des nationalsozialistischen Terrorregimes und der Expansionsbestrebungen des Sowjetkommunismus entwickelt. Da die demokratische Kultur in der entstehenden Bundesrepublik noch höchst unterentwickelt war, galt damals ein effizientes Überwachungs- und Abwehrsystem gegen die vielfältigen Bedrohungen des demokratischen Rechtsstaates als unabdingbar, selbst um den Preis, dass dadurch Freiheitsrechte eingeschränkt werden.

Dass sich eine Demokratie vor Bestrebungen schützt, die auf ihre Beseitigung abzielen, versteht sich von selbst. Derartige Bestrebungen werden in der Verwaltungspraxis pauschal als extremistisch bezeichnet, weil sie sich – unabhängig davon, welcher Ideologie sie folgen – gegen den Kernbestand unserer Verfassung, konkret gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes, richten. Der amtliche Extremismusbegriff zielt allerdings nicht darauf ab, die Gesellschaft abzubilden oder Rechtsextremismus oder Linksextremismus wissenschaftlich zu interpretieren. Damit stellt sich die Frage, welchen Sinn es hat, das Extremismuskonzept für die Sozialwissenschaften zu übernehmen. Welcher Nutzen, welcher Erkenntnisgewinn ist damit verbunden?

Extremismus ist ein fragwürdiger Sammelbegriff

Extremismus gilt als Sammelbegriff für diverse Phänomene: Genannt werden vor allem Linksextremismus und Rechtsextremismus, im weiteren dann auch religiöser Fundamentalismus, Terrorismus und autoritäre bzw. totalitäre Herrschaftsformen. Dabei handelt es sich um völlig unterschiedliche Sachverhalte, die nur über eine einzige Gemeinsamkeit verfügen, nämlich dass sie sich gegen den demokratischen Rechtsstaat richten. Der Sammelbegriff umfasst mithin Objekte, die mehr voneinander trennt, als sie miteinander verbindet

Extremismus ist ein relativer, vieldeutiger und wertender Begriff: Die Bezeichnung "extrem" (bzw. "extremistisch") ist zugleich inhaltsleer und vieldeutig, sie ist offen für Interpretationen und kann folglich auch missbraucht werden. Daher ist sie für wissenschaftliche Analysen ungeeignet und im Übrigen auch entbehrlich. Im Amtsdeutsch gilt "extremistisch" als Eigenschaftswort für Extremismus. Umgangssprachlich findet aber auch "extrem" Verwendung. Folgt man dem Duden, dann stellt "extremistisch" eine Form der Steigerung von "extrem" dar: "Extremistisch" bezeichne den Endpunkt auf einer gedachten Skala, "extrem" einen Punkt irgendwo kurz davor. Das Hauptwort "Extremismus" vernachlässigt diese Unterscheidung. Als Synonyme für "extrem" nennt der Duden unter anderem "aus dem Rahmen fallend", "übersteigert" oder "außergewöhnlich". Stets schwingen Werturteile mit: Extremismus gilt als unnormal, oft sogar als kompromisslos und polarisierend. Als normal erscheint die Mitte, weil ihr eine ausgleichende oder gemäßigte Wirkung zugeschrieben wird.

Wertungen können auch die Charakterisierung als linksextrem oder rechtsextrem enthalten: Bei den einen ist Links positiv und Rechts negativ besetzt während bei anderen Rechts als positiv und Links als negativ gilt. Wünschenswert sind eindeutige und wertfreie Bezeichnungen, die die Sozialwissenschaften auch bereithalten. Für Rechtsextremismus kann völkischer Nationalismus stehen, extrem linke Phänomene sind zum Beispiel Kommunismus, Marxismus-Leninismus, Stalinismus oder Anarchismus. Und auch religiöser Fundamentalismus kann inhaltlich präzisiert werden als islamischer, christlicher usw. Fundamentalismus.

Das Extremismuskonzept beruht auf einer problematischen Grundlage

Das Extremismuskonzept enthält zwei zweifelhafte Annahmen. Erstens: Extremismus und Demokratie bildeten eine dichotome Beziehung; ein Objekt sei entweder der Demokratie oder dem Extremismus zuzuordnen. Zweitens: Zwischen Extremismus und Demokratie bestehe eine antithetische Beziehung, Extremismus sei das inhaltliche Gegenteil von Demokratie, also Antidemokratie.

Die Alternative "Extremismus – Demokratie" ist allerdings unterkomplex und wird der Realität nicht gerecht. Nicht Schwarz-Weiß-Malerei sondern Zwischentöne führen zu soliden Erkenntnissen! Untersuchungsobjekte weisen nämlich zumeist eine vielschichtige Struktur und komplexe Merkmalskombinationen auf. So gibt es nicht nur Befürworter und Gegner der Demokratie, sondern Personen, die mehr oder weniger demokratisch bzw. mehr oder weniger (rechts- bzw. links-) extremistisch orientiert sind. Das Gegenteil von demokratisch ist auch nicht antidemokratisch. Personen, die nicht demokratisch eingestellt sind, sind nicht notwendigerweise Gegner der Demokratie. Für die Realanalyse wird eine abgestufte Begrifflichkeit benötigt, wie etwa wie folgende Skala: stark demokratisch - schwach demokratisch – undemokratisch – schwach antidemokratisch – stark antidemokratisch.

Das Extremismuskonzept ist eindimensional

Im Extremismuskonzept bilden Rechts- und Linksextremismus die entgegengesetzten Endpunkte eines Kontinuums, dessen Zentrum die demokratische Mitte bildet. Damit besteht die Gefahr, dass Links- und Rechtsextremismus trotz der fundamentalen Unterschiede inhaltlich gleichgestellt werden (was oft, aber keineswegs immer geschieht). Insbesondere mit Blick auf den Rechtsextremismus wird bemängelt, dass er damit zu einem Außenseiterphänomen erklärt und mithin bagatellisiert wird. Tatsächlich handele es sich um ein Phänomen, das in der Mitte der Gesellschaft gedeihe. Überhaupt gäbe es in allen politischen Lagern demokratische und antidemokratische Tendenzen. Dies gelte auch für die Mitte. So hat beispielsweise der US-amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset den Faschismus als "Extremismus der Mitte" bezeichnet. Das Rechts-Links-Schema erlaubt also keine Aussagen über die Verteilung von demokratischen bzw. antidemokratischen Potenzialen in einer Gesellschaft.

Zudem bestehen in der Politikwissenschaft seit langem starke Zweifel daran, ob sich die politische Realität wie im Extremismuskonzept auf einer einzigen Achse (Rechts – Mitte – Links) abbilden lässt. Das zeigt sich schon am Islamismus, der als extremistisch gilt, sich aber der Einordnung in das Rechts-Links-Schema entzieht. Bei dieser Achse handelt es sich um ein bipolares Konstrukt, das den Rechts-Links-Konflikt als maßgeblich für die Konfliktstruktur unserer Gesellschaft ansieht. In der neueren sozialwissenschaftlichen Forschung wird hingegen die Auffassung vertreten, dass für die realitätsgerechte Abbildung des politischen Raumes moderner Gesellschaften mindestens zwei Konfliktdimensionen (in Gestalt eines Achsenkreuzes) notwendig sind. So schlug der italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori ein Modell vor, das zusätzlich zu der von ihm als ökonomisch-sozial bezeichneten Links-Rechts-Achse eine politisch-konstitutionelle Dimension vorsieht, deren Endpunkte Demokratie und Autoritarismus bilden. Anstelle der kruden Gegenüberstellung von Demokratie und Extremismus kann damit beispielsweise zwischen einem demokratischen und einem autoritären Sozialismus unterschieden werden. Die Methoden und Ziele der sozialistischen Linken können antidemokratisch sein, sind es aber nicht notwendigerweise. Daher wäre es ungerechtfertigt, der extremen Linken pauschal das Etikett antidemokratisch anzuheften. Auf die extreme Rechte trifft dies allemal zu, zumal es auch ihrem eigenen Selbstverständnis entspricht: Völkischer Nationalismus ist per se antidemokratisch.

Die Extremismusforschung verfolgt ein beschränktes Erkenntnisinteresse

Das Erkenntnisinteresse der Extremismusforschung besteht im Kern darin, ob sich ein Untersuchungsobjekt (z.B. Parteien) gegen den demokratischen Rechtsstaat richtet, ob es dem Extremismus zuzuordnen ist oder nicht. Die Sozialwissenschaften können sich jedoch nicht darauf beschränken, Rechtsextremismus, Linksextremismus etc. ausschließlich als Bedrohung der Demokratie zu analysieren. Das sozialwissenschaftliche Erkenntnisinteresse ist notwendigerweise wesentlich breiter: Es erstreckt sich vor allem auch auf die historischen Wurzeln, auf Ursachen, Ausmaß und Gefährdungsgrad von als extremistisch geltenden Phänomenen. Dies leisten allerdings bereits die verschiedenen Bereiche der Sozialwissenschaften: zum Beispiel die Einstellungsforschung, die Parteien-, Verbände- und Wahlforschung, die Anarchismus-, Kommunismus-, Terrorismus- und Diktaturforschung.

Der Extremismus ist gar nicht Gegenstand der Extremismusforschung

Die Extremismus-Literatur behandelt in der Regel einzelne Phänomene (Gruppierungen, Parteien, Verbände, Medien, Biographien usw.) aus den verschiedenen Bereichen des Extremismus (Rechtsextremismus, Linksextremismus usw.). Der Extremismus als solcher, also die Schnittmenge aller Extremismen, ist in den seltensten Fällen Gegenstand der empirischen Forschung. Das dürfte auch an der Beschaffenheit des Extremismuskonzepts liegen (Extremismus und Demokratie bilden eine dichotome und antithetische Beziehung). Nehmen wir als Beispiel die gemeinsamen Merkmale aller als extremistisch identifizierten Parteien: Dabei würde es sich zunächst einmal um die Gegnerschaft zu elementaren Prinzipien der Demokratie handeln. Dies sind nach Auffassung der Extremismusforschung vor allem der Schutz der Freiheitssphäre des Bürgers, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Parteienwettbewerb und freie Wahlen, Parlamentarismus und das Recht auf Opposition. Diese Merkmale sind allerdings definitionsgemäß vorgegeben und müssen daher nicht erst ermittelt werden. Dass unsere Beispielparteien - also extrem rechte, extrem linke und religiös-fundamentalistische, in verschiedenen Wettbewerbssituationen befindliche Parteien von unterschiedlicher Größe, Binnenstruktur und Machtstellung - über weitere gemeinsame Merkmale verfügen, ist äußerst unwahrscheinlich. Ein aussichtsreiches Forschungsfeld tut sich hier jedenfalls nicht auf.

Fazit

Das Extremismuskonzept mag für die Praxis der Verfassungsschutzbehörden hinreichend präzise und handhabbar sein, für sozialwissenschaftliche Analysen ist es ohne Nutzen. Es führt nicht zu neuen Erkenntnissen, es verhindert sogar differenzierte Einsichten in die komplizierte Welt gesellschaftlich-politischer Sachverhalte. Denn der Extremismusbegriff beruht auf zweifelhaften Annahmen, zwängt völlig unterschiedliche Untersuchungsobjekte in eine Schublade, betreibt Schwarz-Weiß-Malerei und wird auch durch seine Eindimensionalität der komplexen Wirklichkeit nicht gerecht. Daher zählt das Extremismuskonzept auch nicht zum Standard sozialwissenschaftlicher Forschung.

Geb. 1944, studierte Politische Wissenschaft und ist seit 2004 außerplanmäßiger Professor an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Parteiensystem der Bundesrepublik, Deutschland, Rechtsextremismus, Politische Einstellungen, Wahlverhalten, Konfliktstruktur der deutschen Gesellschaft.