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Antiziganistischer Rassismus – ein osteuropäisches Problem? | Rechtsextremismus | bpb.de

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Antiziganistischer Rassismus – ein osteuropäisches Problem?

Diljana Lambreva

/ 10 Minuten zu lesen

Bulgarien, Ungarn, Rumänien – seit Jahren mehren sich die Berichte über Angriffe auf Sinti und Roma in osteuropäischen Ländern. Antiziganistischer Rassismus scheint dort auf dem Vormarsch zu sein, rechtsextreme Gruppen haben großen Zulauf. Doch spätestens, seit sich die EU-Arbeitsmärkte Anfang 2014 auch für Rumänen und Bulgaren öffneten, zeigt sich, dass dieses Phänomen keineswegs auf Osteuropa beschränkt ist.

Anti-Roma-Proteste in der nordtschechischen Stadt Varnsdorf. (© picture-alliance/dpa)

Am 3. November 2013 hält ein Bus am Kulturpalast mitten im Zentrum von Sofia. 15 Skinheads zwischen 16 und 25 Jahren steigen aus und schauen sich nach dunkelhäutigen Opfern um. Sie finden sie. Ein Roma mit seinem Kind ist zufällig in der Nähe. Schon geht der Angriff los, die Skinheads schlagen brutal mit Steinen auf die Roma ein. Die meisten der Passanten schauen nur zu, doch Mütter mit Kindern können die Gewalt schließlich stoppen. Nach eineinhalb Stunden trifft endlich die Polizei ein.

Einige Tage später, am 9. November 2013, genau zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht in Deutschland und Österreich, wird die Nationalistische Partei Bulgariens (NPB) ins Leben gerufen. Der Zusammenschluss kleinerer, fragmentarischer Vereinigungen von Skinheads, Radikalen, "Blood&Honour"-Vertretern, Klerikalen und Fußball-Hooligans ist nun das vierte Mitglied der bulgarischen Rechtsaußen. Erklärtes Ziel der NPB ist, die Existenz des bulgarischen Volkes, das angeblich durch Roma und Flüchtlinge bedroht ist, zu schützen und seine Reproduktion zu fördern. Man wolle "den Terror der Zigeuner mit eiserner Faust zerschmettern", erklärte der Vorsitzende Simeon Kastadinov der Zeitung "24 Stunden". An den pogromartigen Übergriffen im September 2011 in Katuniza bei Plowdiw in Südbulgarien waren viele NPB-Gründer aktiv beteiligt.

Dagegen zeigen sich die traditionellen bulgarischen Nationalisten von Ataka (was auf Deutsch "Angriff" bedeutet), bereits zum dritten Mal im Parlament vertreten und diesmal als Mehrheitsbeschaffer für die Regierung entscheidend, seit ein paar Jahren Jahren etwas moderater: Sie fordern "nur" die Auflösung der Roma-"Ghettos". Doch das ist nur die Oberfläche. Vor einem Jahr zahlte "Ataka" einem Polizisten, der aus Selbstverteidigung einen Roma getötet hatte, 5.000 Euro - die "Spende" war ein Teil der Kampagne "Orthodoxe Solidarität".

Vor allem in Ungarn ist Antiziganismus hoffähig geworden

Insgesamt aber bleiben die Akteure der bulgarischen Rechtsaußen untereinander zerstritten und zersplittert. Interner Link: Ganz anders sieht es in Ungarn aus. Um die Heimat von den Roma zu "befreien", entstand in den vergangenen Jahren in Ungarn eine komplette politische und wirtschaftliche Maschinerie, erzählt der ungarische Journalist Balazs Cseko. Während rechtsextremistische Parteien bei den vergangenen Wahlen in Polen und der Slowakei aus dem Parlament verdrängt wurden, erzielte die größte rechtsextreme Partei Ungarns, Jobbik, bei den Wahlen 2010 und 2014 mit fast 17 Prozent bzw. gut 20 Prozent der Stimmen zwei Riesenerfolge. Jobbik lehnt nicht nur die EU und den Westen ab, sondern bemüht sich auch um alternative politische Bündnisse: Mit dem Iran und den arabischen Ländern hat Jobbik bereits aktive Beziehungen aufgebaut. Auch rhetorisch verhält sich die ungarische rechtsradikale Partei ganz anders als ihre bulgarischen Schwestern: Sie bedient sich eines klar neofaschistischen Stils.

In der dunkelbraunen Szene Ungarns gibt es allerdings noch radikalere Akteure als Jobbik, beispielsweise die "The Out-Laws’ Army", "the Sixty-four Counties", das "Youth Movement" und "The Hungarian National Front", die alle untereinander verbunden sind. An der Spitze der Rechtsaußenbewegung, auch in Sachen Gewalt gegen die Roma-Minderheit, stehen "New Hungarian Guard" und "Pax Hungarica". Mindestens sieben Roma wurden in den letzten fünf Jahren Opfer von gezielten Mordanschlägen. Schikanen und Einschüchterungen sind an der Tagesordnung. Das mussten Romakinder erleben, als sich am 5. September 2013 in Konyár eine Gruppe von Fußball-Hooligans vor einer Schule versammelte. Was dann geschah, darüber gibt es unterschiedliche Aussagen. Die jungen Männer erklärten der Polizei, sie hätten draußen vor dem Gebäude einfach nur da gestanden, geraucht und gesungen. Die Hooligans hätten Schüler angegriffen, sie voller Hass angeschrien und sie angepinkelt, sagten die Romakinder. Das Europäische Zentrum für Rechte der Roma (ERRC) besteht auf einem erneuten Ermittlungsverfahren; die Sicherheitsorgane hätten den Rechtsextremisten Deckung gegeben, lautet der Verdacht des ERRC.

Wer sind die osteuropäischen Neonazis?

Der Stil eines offensiven Ultranationalismus der neuen faschistischen oder rechtsextremen Parteien in Osteuropa erfreut sich momentan einer größeren Popularität als bei vergleichbaren Parteien im Westen. Die Führungskader sind meist selbstbewusste, draufgängerische Dreißigjährige aus der Mittelschicht, die den Totalitarismus nicht bewusst erlebt und dem herrschenden System den Kampf erklärt haben; in Serbien und Kroatien sind es oft Kriegsverstörte und Ustascha-Erben. Unter den Mitläufern dominieren Teenager, die in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen und von schlechten Bildungs- und Erziehungsmodellen geprägt sind.

Ideologie sowie Verhaltens- und Outfit-Kodex sind aus dem Westen importiert. Und doch glauben Ralf Melzer und Sebastian Serafin, dass der gemeinsame Kern der Programme der rechtsradikalen Parteien in Ost-Mitteleuropa sich gerade aus einer Ablehnung des Westens bzw. einer Westorientierung speist. Die Serbische Radikale Partei (SRS) sehnt sich nach einem Großserbien, die Großrumänien-Partei (PRM) strebt nach der Fusion von Rumänien und Moldawien, und die ungarische Jobbik will Ungarn in den Grenzen vor dem Ersten Weltkrieg wiederherstellen. Ähnliche Attitüden, meinen Melzer und Serafin, zeigten sich auch in der Europaablehnung der extrem rechten Parteien in Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei, obwohl diese Länder EU-Mitglieder sind. Die ungarische Jobbik fordert gar den EU-Austritt. Als Hardliner ist auch die serbische SRS zu sehen, die eine EU-Mitgliedschaft Serbiens rundweg ablehnt.

Rückbesinnung auf historisch umstrittene "Vaterfiguren"

Das Ideal einer starken, homogenen Nation gehe aus einem tatsächlich oder vermeintlich erlittenen historischen Unrecht hervor, meinen Gregor Mayer und Bernhard Odehnal. Die Bulgaren beklagen unter anderem den Vertrag von Neuilly-sur-Seine, durch den sie Westthrakien, das Gebiet um Zaribrod und Süddobrudscha verloren. Die Serben mussten wegen des Zerfalls Jugoslawiens die serbisch besiedelten Gebiete in Kroatien und Bosnien aufgeben. Für die Ungarn bedeutet der nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg unterschriebene Friedensvertrag von Trianon den Verlust von Siebenbürgen, "Ober- und Unterungarn" und der Karpatoukraine – und einen verletzten Nationalstolz. Unter anderem das sind die Gründe, warum in allen osteuropäischen Ländern vor allem Staatsoberhäupter und Heerführer als Kultfiguren hervorragen, die der territorialen Integrität ihrer Vaterländer vorbehaltlos gedient haben.

So zieht seit 2003 jeden Februar unter Trommeln und Fackeln ein Trauerzug zu Ehren von General Hristo Lukov durch Sofia. Auch ein Verbot durch die Stadtverwaltung konnte ihn bisher nicht stoppen. General Lukov war Gründer der Nationalen Legionen, einer Organisation nach dem Vorbild der Hitler-Jugend. Von Nazideutschland erhoffte sich Lukov, die nach dem Vertrag von Neuilly-sur-Seine verlorenen bulgarischen Gebiete zurückzubekommen. Auch die slowakischen Nationalisten ehren ihren ehemaligen Regierungschef, den katholischen Prister Jozef Tiso, der 1939 sein für unabhängig erklärtes Land unter "den Schutz des Deutschen Reiches" stellte und 60.000 jüdische Bürger in den Tod schicken ließ. Die ungarischen Neonazis beziehen sich gern auf den mit Hitler verbündeten ungarischen "Reichsverweser" Miklos Horthy.

Die Aufmärsche der Rechtsextremen in traditionellen, faschistischen Uniformen oder im einfachen, makabren Neonazi-Outfit sollen Angst schüren, Größe aufzeigen und somit die oft geringen Mitgliedszahlen aufbauschen. Gerne marschieren die Rechten dort, wo es zuvor Fälle von Roma-Kriminalität gegeben hat. Der Normalbürger muss geschützt werden, dem Staat ist nicht zu trauen – das wollen die Rechtsextremen ausdrücken.

Angriffe auf Roma wie zum Beispiel Ende August 2013 in Tschechien, verstehen sie als eine Art vorbeugenden Selbstschutz. Allein in der nordöstlichen Stadt Ostrava wurden nach Polizeiangaben rund 60 Menschen in Gewahrsam genommen, als sie versuchten, in ein von Roma bewohntes Viertel vorzudringen. Das ERRC berichtete auch über Brandanschläge auf Unterkünfte von Roma-Familien.

Mit ihren Aufmärschen feuern die Neonazis die vorhandenen Spannungen zusätzlich an. Als die bulgarische Garde sich im November 2013 mit Bändern in Nationalfarben an den Ärmeln "um die Sicherheit der Bürger" sorgte, schlossen sich die Roma in eigenen Organisationen zusammen. Die Staatsanwaltschaft schaltete sich ein. Was aus diesen Bürgergarden wird, lässt sich kaum einschätzen. Einmal entstandene Strukturen wieder aufzulösen, dürfte jedenfalls schwer werden.

Institutioneller Rassismus

Die Aggression gegen Roma geht in vielen mittel- und osteuropäischen Staaten allerdings nicht nur von neonazistischer und rechtsextremer Seite aus. In der gesamten Gesellschaft ist Antiziganismus weit verbreitet. Und viel subtiler. Beispielsweise berichten rumänische Roma-Aktivisten, dass in ihrem Land die Erinnerung an den Holocaust zwar wie ein Wall gegen direkte Gewalt wirke. Doch antiziganistische Ressentiments sind an der Tagesordnung. Je mehr Strukturmängel wie eine niedrige Beschäftigungsquote, hohe Steuern und der Reformstau die Alltagssorgen der Bevölkerung verstärken, desto mehr prägt sich die Sehnsucht der Mehrheitsbevölkerung nach rechtspopulistischen Autoritäten aus. In der slowakischen Stadt Banska Bystrica (die Arbeitslosigkeit liegt hier bei 20 Prozent) konnte Bürgermeister Marian Kotleba punkten, als er ein Stück Land kaufte, auf dem sich ein Roma-Lager befindet, das er auflösen will – und zwar mit Gewalt. Das kommt gut an, weil in Gegenden, in denen Roma-Minderheiten und Mehrheitsbevölkerung in enger Nachbarschaft wohnen, kleine Diebstähle und Provokationen keine Seltenheit sind. Für die Nicht-Roma sind die Roma eine Sicherheitsfrage, nicht eine Frage der Menschen- oder Sozialrechte, erklärt der slowakische Journalist Martin Ehl von der Zeitung Hospodářské noviny dieses Phänomen.

Antiziganismus wird auch von ganz oben verbreitet, von politischen und gesellschaftlichen Autoritäten. Die Roma würden Arbeit meiden und von Diebstählen leben – wegen mehrfacher abfälliger Aussagen wie dieser wurde der rumänische Präsident Traian Băsescu im Februar 2014 vom Nationalen Anti-Diskriminierungsrat mit einer Geldstrafe von 130 Euro belegt. Der ehemalige bulgarische Premier Bojko Borissov bezeichnete vor fünf Jahren in einer Rede "die Zigeuner" als Menschen schlechter Qualität. Und der Bürgermeister von Temeswar, Nicolae Robu, hat die Roma wiederholt als Mafia bezeichnet. Konsequenzen? Bleiben aus. Nach den pogromartigen Übergriffen im September 2011 in Katuniza wurden zwar einhundert der Angreifer verhaftet. Doch keiner von ihnen ist bislang dafür verurteilt worden. Warum, so fragt sich nicht nur Rumjan Russinov von der bulgarischen Redaktion der Deutschen Welle, geht der Staat nicht gegen den verbreiteten Antziganismus vor? "Die Antwort lautet: Die Leute, die Posten in den staatlichen Institutionen besetzen, sind Träger von Ressentiments gegen Roma. Das heißt, wir geraten in einen Teufelskreis. In der Gesellschaft existiert ein starker Antiziganismus, und es gibt enorme Probleme mit den Roma, aus denen sich auch zum Teil dieser Antiziganismus speist. Dieses Einstellungsmuster ist zugleich aber eine gut verkaufte Ware – sowohl für die Politik, als auch für die Medien. In den vergangenen Jahren haben die bulgarischen Politiker für die Stimmen der Roma gekämpft. Jetzt ist der Wahlkampf nach dem Maß der Romagegner geschnitten."

Antiziganismus ist nicht auf Osteuropa beschränkt

Warum ist das aber eigentlich so? In seinem Buch "Europa erfindet die Zigeuner" geht Klaus-Michael Bogdal mit der Suche nach einem Grund bis in das 15. Jahrhundert zurück, in eine Zeit, zu der sich viele ominöse "Ägypter", für die man die Roma damals hielt, in Europa niederließen. Man betrachtete die Roma als heimatlos, sie standen außerhalb der Ständeordnung und galten daher auch als "Schmarotzer". Das Stereotyp vom Rom als Kriminellem ist im Umlauf, seit Europa sich an die Roma erinnern kann. Zwischen Ost- und Westeuropa besteht in dieser Hinsicht kein Unterschied – die Roma wurden von jeher überall bestenfalls geduldet.

Seit Bulgarien und Rumänien 2007 der EU beigetreten sind und seit 2010 die Bürger des Westbalkans Visa-Freiheit in der EU genießen, flüchtet ein Teil der Roma aus dem Südosten nach West- und Nordeuropa. Offenbar massiv zugenommen hat ihr Zuzug mit der Öffnung der EU-Arbeitsmärkte für Rumänen und Bulgaren im Januar 2014. Mehr Sicherheit vor Rassismus und bessere, menschlichere Lebensbedingungen in den Zielländern sind meist die Gründe für ihre Migration.

Die Institutionen der EU und westeuropäischer Staaten reagierten auf die Einwanderung der Roma mit der Rücknahme wichtiger Errungenschaften. So darf die Visafreiheit für bestimmte Länder in der EU ausgesetzt werden, wenn Bürger eines Staates massenhaft unbegründete Asylanträge stellen. Diese Entscheidung des EU-Parlaments hatte zur Folge, dass zwischen 2011 und 2013 an der mazedonischen Grenze 74 Ausreisen von Roma verhindert wurden. In Südschweden sammelte die Polizei Daten von mehr als 4.000 Roma – weil sie Roma sind. In Frankreich kam es zu Massendeportationen von Roma in ihre Heimatländer, was einer klaren Entrechtung dieser Volksgruppe mitten in Europa gleichkommt. Der französische Front National hatte gegen die Roma Stimmung gemacht – mit Erfolg. Unter dem Druck fremdenfeindlicher und EU-skeptischer Parteien werden in der EU wichtige Entwicklungen des europäischen Integrationsprozesses zurückgedreht. Mit der Roma-Frage in Europa zeigen sich derzeit vor allem zwei Dinge: Wie sehr ihre Menschenrechte in West- wie Ost-Europa systematisch verletzt werden. Und: Wie sehr sich durch die Inanspruchnahme des Rechts auf Mobilität in ganz Europa antiziganistischer Rassismus offenbart. Denn dieses Bürgerrecht, in den EU-Verträgen verankert, so wird von vielen Seiten verlangt, soll nicht (in vollem Maß) auch für Roma gelten.

Auch in Deutschland löste der Zuzug von Roma massive Reaktionen aus. In rechtsextremen Internetforen werden "Sonderbehandlungen" für Roma gefordert; in den Duisburger Stadtteilen Hochfeld und Bergheim formierten sich Proteste mit teils rassistischem und wohlstandschauvinistischem Hintergrund gegen die Zuwanderer. Doch auch nicht-rechtsextreme "Normalbürger" und sogar politische Entscheidungsträger haben Ängste – oder schüren sie. "Armutseinwanderung" hieß das politische Unwort des Jahres 2013 in Deutschland – es ist geprägt von Ressentiments gegen Arme, besonders häufig gegen Roma. Armut macht Angst, im Osten wie im Westen. Wer will schon neben bettelarmen Menschen leben, die das Unvermögen der Staaten, mit sozialen Herausforderungen fertig zu werden, so klar vor Augen führen?

Diljana Lambreva arbeitet als Journalistin in Sofia. Sie schreibt vor allem über das politische System in Bulgarien und arbeitet u.a. für die Auslandsredaktion der bulgarischen Tageszeitung Klassa, die Online-Plattform euro|topics, den österreichischen Standard und die Berliner Zeitung.