QuellentextTranskript: "Ich kenne meine Feinde"
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"Ich kenne meine Feinde" Unter Migrantinnen und Migranten verbreitete der NSU Angst und Schrecken. Auch ohne ein einziges Bekennerschreiben.
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Zwischen 2000 und 2006 ermordete die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) neun Kleingewerbetreibende. Das Motiv: Rassismus. Bei zwei Bombenanschlägen in Köln 2000 und 2004 wurden etwa zwei Dutzend Menschen verletzt.
Hakki Keskin
Einblender: 1995-2005 Gründungsvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland
"Das Ziel der Terroristen, der Neonazis, war es ja, ein Deutschland ohne Ausländer zu haben. Das ist ja ihr Hauptslogan: 'Wir wollen Deutschland ausländerfrei machen', und das könnte man machen, indem man diese Leute eben durch solche Morde beängstigt, beunruhigt – insbesondere, wenn die Täter nicht bekannt sind."
Kutlu Yurtseven
Einblender: Bewohner der Kölner Keupstraße
"Aufgrund nur der Tatsache, dass man nicht Ursprungsdeutscher ist, wird man zum Opfer und gerät ins Visier. Und daran kann man nichts ändern, und das heißt: Ich bin potentielles Opfer in der Zukunft. Und darauf zielt ja Terrorismus aus: Ungewissheit, Angst, Ohnmacht und nichts dran ändern zu können an dieser Situation. Und darum ist es auch Terrorismus, keine nur rechten Anschläge. Es ist rechter Terrorismus, weil das ist Terrorismus, so funktioniert Terrorismus."
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9. Juni 2004, Köln-Mühlheim: Bombenanschlag in der vor allem von Migrantinnen und Migranten bewohnten Keupstraße Der NSU lässt eine Gasflasche detonieren, die mit fünf Kilogramm Schwarzpulver und zehn Zentimeter langen Nägeln gefüllt ist. 22 Menschen werden teils lebensgefährlich verletzt.
Kutlu Yurtseven
"Was will man mit so einem Anschlag bewirken? Man will ja Angst innerhalb der Community schaffen und sagen: 'Es kann euch immer wieder passieren, also verschwindet lieber hier'. Und aus meiner Sicht war das der Plan des NSU: Man will mit Terror Angst schüren, Unsicherheit. Und das haben die deswegen gut hinbekommen, weil innerhalb der Community – sowohl innerhalb der rechten Szene als auch hier jetzt zum Beispiel in der Keupstraße – war ganz schnell klar, wer es eigentlich sein könnte. Ich meine, es wurden Lieder gesungen über diese Anschläge, über diese Serie von Anschlägen und Morden. Keiner hat hingehört. Hier wurde drüber geredet, keiner hat hingehört. Was macht das bei den Opfern? Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung und total ausgeliefert zu sein. Und das war die gesamte Situation wirklich in den ersten drei, vier, fünf Jahren. Also wenn man in die Keupstraße gegangen ist – Ich meine, ich war ja auch jeden zweiten Tag da, und wenn ich mit meiner Tochter, auch ein Jahr nach diesem Anschlag da durch gegangen bin, hatte man dieses mulmige Gefühl: Also es kann wieder passieren. Und das haben sie am meisten geschafft, diese Angst innerhalb der Community und unter den Menschen zu verbreiten. Dazu kommt noch mal die Angst, dass du nachher als Schuldiger dastehst. Also es isz ein ganz perfides Ding, was da passiert ist."
Suzan Gülfirat
Einblender: Journalistin
"Ich habe den Text über die Ereignisse in der Kölner Keupstraße natürlich auch in der Hürriyet gelesen, die ausführlich darüber berichtet hat, und damals schon hatte ich den Verdacht: Da stimmt was nicht. Also das Thema hat mich vom ersten Mord an beschäftigt."
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Die Berliner Journalistin Suzan Gülfirat veröffentlicht 2006 in der Tageszeitung „taz“ einen Artikel über die Mordserie des NSUI. Dieser thematisiert – als einer von ganz wenigen – schon damals einen möglichen rassistischen Hintergrund.
Suzan Gülfirat
„Es ging nur darum, darauf hinzuweisen, weil ich einfach auch eine Generation bin, die die Ereignisse in Solingen und Mölln miterlebt hat, das war ganz schrecklich für alle Türken in Deutschland damals. Und deswegen habe ich eben diese Sensibilität auch, dass etwas passiert ist, das unbedingt aufgeschrieben werden muss, dass es auch rein theoretisch einen rassistischen Hintergrund haben kann.“
Einblendung Straßenschild
Halitplatz Halit Yozgat, 1985-2006 Kasseler Opfer einer rechtsterroristischen Mordserie
Mehmet Demircan
Einblender: Anmelder der Demonstration "Kein 10. Opfer!"
"April 2006, es hat uns wirklich wehgetan, nicht nur mir, sogar den ganzen Leuten, die in Kassel leben, vielleicht sogar in ganz Deutschland hat es wehgetan. Danach ist Kassel so tot gewesen eigentlich."
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6. April 2006, Kassel: Der neunte Mord In seinem Internetcafé in der Holländischen Straße 82 wird der 21-jährige Halit Yozgat mit zwei Kopfschüssen ermordet. Wie bei den vorherigen Morden konzentrieren sich die Ermittlungen der Polizei auf angebliche familiäre oder mafiöse Motive.
Mehmet Demircan
"Also wir können nicht mehr lachen, wir können nicht mehr spazieren gehen und so weiter. Wir haben fast zuhause gedacht eigentlich, vielleicht durch die Angst oder was, weiß ich nicht: Warum ist so was passiert? Wer ist der Nächste? Solche Gefühle haben wir immer noch gehabt. Solche Fragen haben wir uns noch mal gefragt: Wer ist der Nächste?
Und was ich damals nicht gut gefunden habe, und heute finde ich es immer noch nicht gut: Die Presse, zum Beispiel die BILD-Zeitung, hat gesagt: 'Döner-Mörder'. Was für Leute sind wir denn eigentlich? Warum sind wir hierhergekommen eigentlich? Wir haben eine Wohnberechtigung hier, wir zahlen Steuern und so weiter … Döner-Mörder, also das ist doch niederdrückend eigentlich von der Presse."
Hakki Keskin
"Das ist verantwortungslos gegenüber nahezu drei Millionen Menschen aus der Türkei, die in diesem Lande als Teil dieser Gesellschaft in diesem Lande leben."
Kutlu Yurtseven
"Also mir kam das so vor: Ja, von der türkischen Community oder kurdischen Community kann man erwarten, die haben ein Problem, also legen sie 'ne Bombe. Im Endeffekt steht's da, dass eigentlich die Opfer verhöhnt wurden, sowohl die Toten als auch die Familienmitglieder."
Mehmet Demircan
"Das hat wirklich wehgetan, und damals haben wir einen Schweigemarsch gemacht in Kassel vom Holländischen Platz zum Rathaus, und es hat wirklich gut geholfen oder gut getan."
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Anfang Mai 2006 demonstrieren in Kassel mehr als 2.000 Menschen, vor allem Migrantinnen und Migranten. Sie weisen auf ein mögliches rassistisches Motiv hin.
Transparente auf der Demonstration
"Kein 10. Opfer" "Wie viele müssen noch sterben, damit die Täter gefasst werden?"
Vertreter der Stadt Kassel (währen der Demo)
"Leider kann niemand bei der Polizei sagen, was der Hintergrund für diese abscheulichen Mordtaten in Deutschland ist. Ich weiß, dass bei Ihnen eine große Verunsicherung stattfindet, weil es eine ganze Reihe von Gerüchten gibt, die ausländerfeindliche Hintergründe vermuten lassen, für die aber keinerlei Beleg da ist."
Übersetzung der Rede von Ismail Yozgat, dem Vater von Halit Yozgat
"Der oder die Täter sind immer noch auf freiem Fuß. Wie viele Hinrichtungen müssen noch vollzogen werden, bis die Täter gefasst werden? Warum wird erst nach neun Morden mit Hochdruck ermittelt? Sehr geehrtes Innenministerium, öffnen Sie Ihre Augen, hören Sie die Trauer der Angehörigen, versuchen Sie sich in unsere Lage zu versetzen, versuchen Sie ein wenig nachzuvollziehen, was der Verlust des eigenen Kindes in der Blüte seines Lebens für mich und meine Familie bedeutet."
Mehmet Demircan
"Nach der Demo habe ich bei mehreren aus der Presse angesprochen, beim Hessischen Rundfunk habe ich angesprochen: 'Ich möchte nicht laut denken, aber wie gesagt, hinter der Sache waren die Nazi-Schweine.' Ich habe gesagt: 'Das ist doch ganz einfach, ich kenne meine Feinde eigentlich', sage ich es mal so.
Und das ist doch jetzt wahr geworden eigentlich, was ich damals gesprochen habe, jetzt habe ich recht, wir haben jetzt festgestellt, dass sie das wirklich sind."
Hakki Keskin
"Wir haben natürlich immer wieder diskutiert, dass die Täter mit großer Wahrscheinlichkeit – hundertprozentig sicher konnten wir nicht sein –, aber mit großer Wahrscheinlichkeit aus diesen Neonazis kommen müssten, kommen könnten."
Suzan Gülfirat
"Mich überrascht das, dass das jemanden überrascht, dass ich gedacht habe, die Täter können aus den rechten Kreisen stammen
Einblendung Zeitungsschlagzeile: Neun Morde kein Motiv: Wer steckt hinter den Schüssen auf türkische Kleinhändler
Ich habe bei der Recherche überlegt, ob ich die Polizei überhaupt anrufen soll. Ja, ich hätte egrne noch mehr zum rechtsradikalen Hintergrund gefragt, aber das hat den Ermittler sehr angestrengt, und deswegen merkte ich schon, dass er auch keinen Rat weiß, und wir haben das Gespräch dann so beendet."
Kutlu Yurtseven
"Und wenn anderthalb Stunden nach einem Anschlag SEK-Sondereinsatzkommandos in Häuser reinmarschieren von den Bewohnern der Keupstraße, die Wohnungen verwüsten, Familien traumatisieren, ja, wenn ein direkt Betroffener, weil sein Laden genau gegenüber von dem Ort, wo es detoniert ist, von drei Zivilbeamten interviewt wird und der Polizei sagt: 'Das waren Nazis', und der Größte von denen sich zum ihm runterbeugt und so macht (legt den Zeigefinger vor den Mund ) und sagt: 'Das will ich nie wieder von dir hören' ...
Die Opfer werden schon direkt in eine Rolle gedrängt: 'Du hältst deinen Mund – wir bestimmen, wie die Geschichte weitergeht.'"
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Frage des Abgeordneten Hakki Keskin (Linkspartei): Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass der oder die Täter gezielt türkische oder türkisch aussehende Opfer auswählen, und was folgt daraus? Antwort: Zu Ermittlungsverfahren der Landesjustizverwaltungen nimmt die Bundesregierung nicht Stellung. Bundestags-Drucksache 16/5057"
Hakki Keskin
Einblender: 2005-2009 Bundestagsabgeordneter der Linkspartei/PDS
"Ich habe im April 2007 diese kleine Anfrage (hält Dokument mit der Anfrage hoch) gestellt, woran es liegt, dass neun Personen getötet worden sind. Und die Antworten waren mehr als, ich möchte sagen lächerlich und ärgerlich. Wenn sozusagen die Verantwortlichkeit von sich weitergegeben wird und so getan wird, als ob das mit der Bundesregierung nichts zu tun hat – das war für mich als Bundestagsabgeordneter höchst erstaunlich und ärgerlich."
Kutlu Yurtseven
"Und in so 'nem Fall, in dem noch so viel unklar ist, dass immer noch so 'ne Ruhe und so 'ne Stille herrscht, ist wirklich schockierend. Und was ich mir wünsche ist, dass wir irgendwie annähernd erfahren, was wirklich passiert ist, und dass endlich mal die Opfer wirklich – und damit meine ich jetzt nicht die Toten, sondern die Familienangehörigen – ihre Genugtuung bekommen und endlich mal zur Ruhe kommen, für die ist es am schlimmsten gerade. Und ich hoffe, dass irgendwann die Aktionen so stark werden, dass wir zu einem annähernden Resultat kommen, das diesen Menschen irgendwie hilft, über das, was geschehen ist, hinwegzukommen.
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Ein Film von #R99 und Toralf Staud in Zusammenarbeit mit FLMH. Externer Link: www.flmh.de für die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Rechteinhaberin) - www.bpb.de
Aufnahmen der Demonstration: Sefta Defterli