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Ohne Führer und Bekennerschreiben | Rechtsextremismus | bpb.de

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Ohne Führer und Bekennerschreiben

Toralf Staud Johannes Radke

/ 13 Minuten zu lesen

Die Öffentlichkeit war überrascht, als im November 2011 der "Nationalsozialistische Untergrund" aufflog. Wieso eigentlich? In der bundesdeutschen Geschichte gab es bis zu diesem Zeitpunkt bereits reihenweise rechtsextreme Terrorgruppen. Doch sie werden allzu oft übersehen – wohl deshalb, weil sie anders agieren und organisiert sind als Linksterroristen.

Der Schweizer Neonazi Sebastien N. (l) nimmt am 01.05.2008 im Hamburger Stadtteil Barmbeck an einer 1. Mai-Demonstration der NPD teil. (© picture-alliance, dpa/ino)

Bei sechs Neonazis klingelte am Morgen des 17. Juli 2013 die Polizei. In Hamburg, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, aber auch in den Niederlanden und der Schweiz waren die Ermittler zeitgleich ausgeschwärmt. Das "Werwolf-Kommando" - so nannten die Neonazis sich selbst - um den 25-jährigen Schweizer Sebastien N. habe eine geheime Terrorgruppe gegründet, Bombenanschläge geplant und bereits Kontakte zu Waffenlieferanten aufgebaut, so der Vorwurf.

Festgenommen wurde bei der Razzia niemand, die Sicherheitsbehörden waren bereits in einem sehr frühen Stadium eingeschritten. Um keinen Preis, so schien es, wollten sie die Terrorgefahr von rechts unterschätzen, nie wieder ein Debakel wie mit dem Interner Link: Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) riskieren. Dessen Auffliegen im November 2011 hatte die Behörden (wie auch die Öffentlichkeit) komplett überrascht – obwohl es seit dem Zweiten Weltkrieg im In- und Ausland zahlreiche militante und terroristische Gruppen am rechten Rand gegeben hat. Doch litten Verfassungsschützer in Bund und Ländern, so formulierte es der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag, über viele Jahre unter "mangelnder Analysefähigkeit", die rechtsterroristische Gefahr hätten sie deshalb vollkommen "falsch und grob verharmlosend" eingeschätzt.

Es ist aber nicht allein ein Versäumnis der Sicherheitsbehörden: Auch in der breiten Öffentlichkeit war Rechtsterrorismus bis zum Auffliegen des NSU kaum präsent. Wenn früher in Deutschland von Terrorismus gesprochen wurde, ob in Medien oder in politikwissenschaftlichen Definitionen, dann ging es meist um Linksextreme, vor allem um die Rote Armee Fraktion (RAF). Deren Vorgehensweise und deren Strukturen – seitenlange Bekennerpamphlete, feste Kommandostrukturen, teils offene Unterstützer­strukturen – prägten das Bild vom Terrorismus. Dessen rechte Spielart, die grundsätzlich anders aussah und -sieht, geriet dabei offenbar aus dem Blick.

Seit den 1940er Jahren: Immer wieder "Werwolf"-Einheiten

Der Name der im Juli 2013 aufgeflogenen Gruppe um Sebastien N. bezieht sich auf einen Mythos der bereits 70 Jahre alt, aber bis heute in der Neonazi-Szene überaus lebendig ist. In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs hatte SS-Reichsführer Heinrich Himmler die Organisation Werwolf ins Leben gerufen. In Kleingruppen organisiert, sollten deren Kämpfer hinter den Frontlinien in bereits befreiten Teilen Hitlerdeutschlands Sabotage- und Terrorakte verüben. Zwar scheiterte dieser Guerillakrieg kläglich, doch die Legende lebte fort.

Nach 1945 gab es immer wieder Grüppchen, die sich in Werwolf-Tradition sahen: In den 1970er Jahren flog die "Wehrsportgruppe Werwolf" im Umfeld des Neonazi-Anführers Michael Kühnen auf. 1992 wurde in Brandenburg eine Truppe namens "Werwolf Jagdeinheit Senftenberg" ausgehoben. Sie hatte sich nicht nur mit Maschinengewehren und Handgranaten ausgestattet, sondern im Dezember 1991 bei dem Versuch, ein Auto zu stehlen, dessen 29-jährigen Besitzer Timo Kählke erschossen.

Bis heute kursiert unter Neonazis das Buch "Werwolf – Winke für Jagdeinheiten", in dem der ehemalige SS-Hauptsturmführer Arthur Erhardt nach dem Zweiten Weltkrieg "grundlegende Regeln für den Partisanenkrieg" formuliert hatte. Auf 68 Seiten handelt das Bändchen unter anderem vom "Wesen des Kleinkriegs" und dessen "Erfolgsaussichten und Grenzen", in den Kapiteln "Ausbildung" und "Taktik" wird der Leser über die "Wahl der Zerstör- und Kampfziele" ebenso belehrt wie über "Nahkampf" und "Straßenkampf". Zeitweise war das Buch auch beim NPD-eigenen Deutsche-Stimme-Versand im Angebot.

1950er und 1960er Jahre: Militante Antikommunisten und NPD-Gewalttäter

In der Wissenschaft gibt es keine allgemein akzeptierte Definition von Terrorismus. Der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber versteht darunter "Formen von politisch motivierter Gewaltanwendung, die von nicht-staatlichen Gruppen gegen eine politische Ordnung in systematisch geplanter Form mit dem Ziel psychischen Einwirkens auf die Bevölkerung durchgeführt werden". Rechtsextreme Terroristen werden dabei von nationalistischen, völkischen, rassistischen oder ähnlichen Ideologien angetrieben.

Der Mediziner und Schriftsteller Paul Lüth (stehend) im März 1953 bei einer internen Tagung des BDJ in Frankfurt. Anfang der 1950er Jahre war er Vorsitzender des Bundes Deutscher Jugend, den Vorsitz legte er 1952 nieder, nachdem seine Mitgliedschaft in der KPD von 1945-1947 bekannt geworden war. An der Gründung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach Ende des Zweiten Weltkriegs sowie an der Veröffentlichung der Werke von Gottfried Benn war er wesentlich beteiligt. (© picture-alliance/dpa)

Terrorgruppen in diesem Sinne entstanden in Deutschland erst ab Ende der 1960er Jahre, doch Vorläufer gab es schon in den ersten Nachkriegsjahren. In den 1950ern etwa erlaubte es der verbreitete Antikommunismus Altnazis und Veteranen der Waffen-SS, unter dem Deckmantel des rechtsgerichteten Bundes Deutscher Jugend (BDJ) eine paramilitärische Kampftruppe aufzubauen. Finanziert wurde dieser "Technische Dienst" (TD) des BDJ vom US-Geheimdienst CIA. Bei einem Einmarsch der Russen sollten die Partisanen in "kleinen unabhängigen Einheiten" Widerstand leisten. Rechtsradikale galten dabei den Amerikanern als besonders zuverlässig. Sie durften Waffendepots anlegen, auf US-Übungsplätzen schießen, spurenloses Töten, Vernehmungs- und Foltermethoden trainieren und galten als deutscher Arm der Nato-Geheimarmee Gladio/Stay Behind, die während des Kalten Krieges in ganz Westeuropa bestand und mit rechtsextremen Terrorakten in mehreren Ländern, vor allem in Italien, in Verbindung gebracht wird. 1952 flog der TD auf, alle Festgenommenen aber wurden nach kurzer Zeit freigelassen.

Die "politisch motivierte Gewaltanwendung" von rechts begann in den späten 1960er Jahren. Bis dahin waren viele Alt- und Neonazis noch davon ausgegangen, bald in ein Parlament nach dem anderen einzuziehen und so die junge Bundesrepublik auf legalem Wege unterminieren zu können. Die Erfolgswelle der NPD ab 1965 schien sie zu bestätigen. Doch spätestens mit deren Scheitern bei der Bundestagswahl 1969 galt der parlamentarische Weg als aussichtslos. Radikale Neonazis griffen daraufhin zu den Waffen. 1970 wurde ein Mitglied des NPD-Ordnerdienstes festgenommen, weil es gemeinsam mit Parteikameraden eine "Europäische Befreiungsfront" gegründet hatte. Die Gruppe hatte unter anderem Morde an Politikern und Journalisten geplant, die ihr zu weit links standen. Ein Jahr später, 1971, flog die "Wehrsportgruppe Hengst" auf. Ihr Anführer, Bernd Hengst, hatte im NPD-Ordnerdienst eine bewaffnete Truppe um sich geschart, die drei Jahre zuvor einen Anschlag auf ein DKP-Büro verübt hatte und Angriffe auf Munitionsdepots und die Bonner SPD-Zentrale plante.

1970er Jahre: Die ersten festen Strukturen entstehen

Einige der Fundstücke, die auf dem Gelände um das Wohnhaus des Rechtsextremisten Heinz Lembke in Oechtringen im Landkreis Uelzen und in angrenzenden Wäldern Ende Oktober und Anfang November 1981 gefunden wurden. (© picture-alliance/dpa)

Während der linke Terrorismus von RAF und Bewegung 2. Juni alle Aufmerksamkeit auf sich zog, entstanden auch am rechten Rand langlebige Terrororganisationen. 1978 und 1979 fand die Polizei bei 33 Razzien große Mengen von Waffen. Im Prozess gegen die oben erwähnte "Wehrsportgruppe Werwolf" wurden 1979 erstmals vier Rechtsextreme als Terroristen verurteilt. Sie hatten unter anderem Banken und ein Nato-Übungslager überfallen.

1981 stolperten Waldarbeiter in der Lüneburger Heide über vergrabene Kisten mit Munition und Sprengstoff. Die Polizei machte als Verantwortlichen den Forstaufseher und Rechtsterroristen Heinz Lembke aus. Drei Jahre zuvor hatte der gemeinsam mit Peter Naumann, einem studierten Chemiker und langjährigen Funktionär der NPD-Jugendorganisation JN, eine Bombe am Denkmal in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom gezündet. Das Denkmal erinnert an ein Massaker, bei dem die SS 1944 335 Zivilisten umbrachte. 1979 sprengte Naumann dann zusammen mit anderen Komplizen zwei TV-Sendeanlagen, um die Ausstrahlung der US-Fernsehserie "Holocaust" zu behindern. Nach seiner Festnahme führte Heinz Lembke die Polizei zu einem gewaltigen Waffenarsenal, das aus 33 unterirdischen Depots bestand. Die genaue Herkunft der Waffen wurde nie geklärt, Lembke wurde kurz vor einer von ihm angekündigten Aussage tot in seiner Zelle gefunden. Naumann wiederum konnte erst nach langen Ermittlungen für einige seiner Taten verurteilt werden, 1988 erhielt er wegen drei Sprengstoffanschlägen, Verabredung zum Mord und Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren.

Der Neonazi Karl-Heinz Hoffmann im Juni 1975. (© picture-alliance/dpa)

Die bekannteste Terrorgruppe der 1970er Jahre war die "Wehrsportgruppe Hoffmann" (WSGH), 1973 gegründet vom damals 35-jährigen Karl-Heinz Hoffmann. Regelmäßig veranstaltete die Gruppe paramilitärische Übungen, für die internationale Presse posierte man gern mit scharfen Waffen, Stahlhelmen und Uniformen vor alten Wehrmachtsfahrzeugen in den bayerischen Wäldern. Die bayerische Landesregierung ließ die WSGH lange gewähren. Der damalige Innenminister Gerold Tandler (CSU) begründete seine Weigerung, die Gruppe zu verbieten, mit den Worten: Wenn ein Verein sich an die Vorschriften wie das "Waffengesetz, das Naturschutzgesetz, die Straßenverkehrsordnung usw. halte, könne die Abhaltung von 'Wehrsportübungen' nicht unterbunden werden".

Im Januar 1980 schließlich schritt Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) ein und verbot die WSGH. Hoffmann setzte sich danach in den Libanon ab und gründete in einem Palästinenserlager die "Wehrsportgruppe Ausland". Zurück in Deutschland, wurde er 1984 zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt – er hatte im Libanon Gefolgsleute brutal gefoltert. Unter Rechtsextremen wird Hoffmann bis heute verehrt, Szeneversandhäuser vertreiben T-Shirts mit seinem Porträt, die NPD-Jugendorganisation JN lädt ihn immer noch zu Vortragsabenden ein.

1980er Jahre: Blutiger Höhepunkt des Rechtsterrorismus

Anfang der 1980er entlud sich dann eine wahre Gewaltwelle, allein 1980 forderte der Rechtsterrorismus in Deutschland mindestens 20 Menschenleben. Aber anders als bei der linksextremen RAF gab es keine zentralen Strukturen, die rechten Terroristen agierten in Kleingruppen oder als Einzeltäter. Auch fehlte es, bis auf Ausnahmen, an ausgefeilten ideologischen Papieren. "Fanale des Schreckens und nicht politische Konzepte sind die Handschrift des Rechtsterrorismus", resümierte Bernhard Rabert 1995 in einer Studie.

Mehrere der Terroristen, die in den 1980er Jahren Anschläge verübten, kamen aus den Reihen der "halbverrückten Spinner" (wie Gerold Tandler die Wehrsportgruppe Hoffmann auch nach dem Verbot noch nannte). Schon im Mai 1976 hatte ein 19-jähriger Anhänger Hoffmanns einen Sprengstoffanschlag auf den Münchner US-Soldatensender AFN versucht. Auch der blutigste rechtsextreme Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik, das Oktoberfestattentat am 22. September 1980, wird einem ehemaligen Mitglied der Hoffmann-Truppe zugeschrieben, dem 21-jährigen Geologiestudenten Gundolf Köhler. Köhlers Bombe riss 13 Menschen in den Tod, mehr als 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Bis heute bleibt umstritten, ob Köhler wirklich als isolierter Einzeltäter gehandelt hat.

Das mit Kränzen geschmückte Grab des Rechtsextremisten Frank Schubert am 12.01.1981. Die Beileidsbekundungen zeugen vom rechtsextremen Umfeld des Mörders.

(© picture-alliance/dpa)

Im Dezember 1980 wurden in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke erschossen. Wenige Tage später, am Heiligabend 1980, versuchte Frank Schubert, Mitglied der neonazistischen "Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands/Partei der Arbeit" (VSDB/PdA), Waffen über die Schweizer Grenze zu schmuggeln. Bei seiner Entdeckung schoss er sofort, zwei Beamte des Schweizer Grenzschutzes starben, Schubert beging Selbstmord. Gegründet worden war der VSDB-Vorläufer PdA 1971 von Friedhelm Busse, einem glühenden Nazi, der sich als 15-Jähriger noch kurz vor Kriegsende freiwillig für die Waffen-SS gemeldet hatte und später bei so ziemlich jeder rechtsextremen Organisation mitmachte, die es in der frühen Bundesrepublik gab. Busse stilisierte Schubert, der als seine rechte Hand galt, später zum "Blutzeugen der Bewegung". Ein Jahr nach Schubert starben zwei weitere Gefolgsleute Busses, als Polizisten am 20. Oktober 1981 sein "Kommando Omega" auf dem Weg zu einem Banküberfall stoppten und es zu einer Schießerei kam.

Ebenfalls ab 1980 wurden die sogenannten "Deutschen Aktionsgruppen" des Altnazis und Rechtsanwalts Manfred Roeder aktiv. Nachdem er jahrelang mit einem rechtsextremen Verein namens "Deutsche Bürgerinitiative" aktiv war, scharte er eine militante Zelle fanatischer Aktivisten um sich. "Nach acht Jahren war der legale Weg erschöpft", sagte Roeder rückblickend. "Entweder mussten wir aufgeben oder in den Untergrund gehen. Aufgeben kam nicht in Frage [...] Der Kampf muss jetzt auf einer anderen Ebene mit noch größerer Entschlossenheit fortgeführt werden, denn wir werden niemals tatenlos zusehen, wenn Deutschland zerstört wird." Es folgten Bomben- und Brandanschläge, in Hamburg starben dabei 1980 zwei junge vietnamesische Flüchtlinge. Roeder wurde wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung zu 13 Jahren Haft verurteilt, kam wegen guter Führung aber bereits nach acht Jahren frei. Sein Aktionismus im tiefbraunen Milieu ging weiter, 1996 verübt er einen Farbanschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Erfurt. Beim Prozess gegen Roeder fanden sich unter den angereisten Unterstützern auch die späteren NSU-Terroristen Böhnhardt und Mundlos.

1982 raubte eine klandestine Neonazizelle fünf Banken aus und erbeutete dabei 630.000 DM. Die "Hepp/Kexel-Gruppe" nannte sich nach ihren Anführern Walther Kexel und Odfried Hepp, einem ehemaligen Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann. Beide planten gemeinsam mit dem Bombenleger Peter Naumann, Rudolf Heß aus dem alliierten Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau zu befreien. Nach einem Streit wurde der Plan aber aufgegeben. Stattdessen veröffentlichte die Hepp/Kexel-Gruppe ein Papier mit dem Titel "Abschied vom Hitlerismus", in dem sie zum "antiimperialistischen Befreiungskampf" gegen die USA und Israel aufrief. Drei Autobombenanschläge auf US-amerikanische Militärangehörige in Frankfurt, Butzbach und Darmstadt verübte die Gruppe in der Folge. Ihre Aktivitäten galten – bis zum Auffliegen des NSU - als Höhepunkt des deutschen Rechtsterrorismus, da die Täter auffallend professionell, geplant und konspirativ vorgingen.

1990er Jahre: Der Terrorismus verblasst hinter Straßenterror

Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung begann Anfang der 1990er Jahre eine beispiellose rechtsextreme Gewaltwelle. In Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und vielen anderen Orten kam es zu pogromartigen Ausschreitungen, oft gegen Asylbewerberheime. Meist handelte es sich bei diesen Taten um spontane Angriffe, etwa von betrunkenen Skinhead-Trupps. Dieser blanke Straßenterror rückte den Terrorismus von rechts aus dem Blickfeld, doch gärte er im Stillen weiter vor sich hin.

1997 fand die Polizei bei Berliner Neonazis eine Rohrbombe, mit der sie einen Anschlag auf einen jungen PDS-Politiker in Treptow verüben wollten. Im Mai und Juni 2000 wurden bei militanten Rechtsextremen in Berlin und Südbrandenburg eine zündfähige Rohrbombe und ein Gewehr mit Zielfernrohr und Schalldämpfer gefunden. Ebenfalls in Brandenburg verübte eine selbsternannte "Nationale Bewegung" in den Jahren 2000 und 2001 eine Serie von mindestens 16 Straftaten: Mehrere türkische Imbisswagen wurden angezündet, der jüdische Friedhof und ein Wohnheim für jüdische Zuwanderer in Potsdam angegriffen. Täter wurden nie ermittelt.

Der Neonazi Martin Wiese wird am 24. November 2004 in einen Gerichtssaal in München geführt. Wegen der Planung eines Bombenanschlags auf die Grundsteinlegung des Jüdischen Gemeindezentrums München und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ("Kameradschaft Süd") wurde er zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. (© picture-alliance/AP)

Etliche Sprengstoffanschläge jener Jahre sind bis heute ungeklärt: Gleich zweimal war 1998 das Grab des langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, in Berlin-Charlottenburg das Ziel. Im März 1999 wurde in Saarbrücken ein Anschlag auf die Wanderausstellung zu Verbrechen der Wehrmacht verübt. Im März 2002 warfen Unbekannte erneut eine Bombe auf den jüdischen Friedhof in Berlin-Charlottenburg. Im November 2003 machte ein geplanter Anschlag in München Schlagzeilen: Der damals 27-jährige Martin Wiese hatte mit einigen Komplizen aus der neonazistischen "Kameradschaft Süd" die Grundsteinlegung der neuen Synagoge angreifen wollen.

2000er Jahre: "Totalversagen des Staates" in Sachen NSU

Interner Link: Zu jenem Zeitpunkt hatte der Nationalsozialistische Untergrund bereits vier seiner zehn Morde begangen, bis zu seinem Auffliegen 2011 brachte er insgesamt zehn Menschen um und verletzte Dutzende bei Sprengstoffanschlägen und Banküberfällen. Die Sicherheitsbehörden kamen dem NSU 13 Jahre lang nicht auf die Spur. Der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag, der das Debakel 2012 und 2013 akribisch aufarbeitete, sprach rückblickend von einem "Totalversagen des Staates". Eine der wichtigsten Ursachen: Die Ermittler hatten die Besonderheiten des Rechtsterrorismus' ignoriert. So suchten sie, weil es keine Bekennerschreiben gab, nur flüchtig nach rassistischen Tätern und konzentrierten sich stattdessen auf angebliche mafiöse Verbindungen der Opfer. Auch rückblickend rechtfertigten die Sicherheitsbehörden dies: "Die Umstände der Mordserie sind völlig untypisch für Terroristen", betonte auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), denn ein "Protzen und Prahlen mit den Taten" sei "sonst in der rechtsextremen Szene üblich".

Das ist falsch: Sich nicht zu bekennen, war und ist unter Rechtsterroristen eine verbreitete Strategie. Als italienische Neofaschisten 1980 beim Anschlag auf den Bahnhof von Bologna 85 Menschen töteten, gab es ebenso wenig ein Bekennerschreiben wie in Deutschland bei Taten von Mitgliedern der Wehrsportgruppe Hoffmann, etwa dem Oktoberfestattentat oder dem Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke. "Combat 18", der vor allem in Großbritannien und Skandinavien in den 1990er Jahren aktive, gewalttätige Arm des Nazimusik-Netzwerkes Blood&Honour riet ausdrücklich zu Klandestinität. In einem B&H-"Feldhandbuch" wird unter anderem John Ausonius lobend erwähnt, ein Schwede, der 1991 und 1992 in Stockholm und Uppsala willkürlich insgesamt elf nicht-weiße Menschen niederschoss, teilweise mit einem Scharfschützengewehr mit Laserpointer, weshalb ihn Medien "Laser Man" tauften. Ausonius verschickte keinerlei Bekennerbriefe, was die Angst unter Einwanderern nur noch verstärkte. Derart klandestine Taten ausländischer Rechtsterroristen seien bisweilen wie eine "Blaupause" für den NSU gewesen, so der Bundestagsuntersuchungsausschuss – doch hätten Verfassungsschutz und Polizei über Jahre versäumt, diese zutreffend zu analysieren.

Auch eine zweite Besonderheit des Rechtsterrorismus, bekannt seit den 1970er Jahren, ignorierten die Sicherheitsbehörden: das häufige Agieren als Einzeltäter oder Kleingruppen. Als "leaderless resistance" - zu deutsch: "führerloser Widerstand" wird diese Strategie in der Szene propagiert. Natürlich kannten auch die Behörden solche Konzepte, zogen daraus aber nicht die richtigen Schlussfolgerungen – sie seien "auf dem rechten Auge betriebsblind" gewesen, so der NSU-Untersuchungsausschuss. Sein Abschlussbericht zeichnet auf Dutzenden Seiten nach, wie hohe und höchste Sicherheitsbeamte falsche Vorstellungen vom Rechtsterrorismus pflegten. Immer wieder war damals von einer "braunen RAF" die Rede, man suchte nach größeren Strukturen und Unterstützerszenen – die aber eben für Rechtsaußen eher untypisch sind. "Auf allen Ebenen", so das vernichtende Fazit der Parlamentarier, hätten "Vorurteile und eingefahrene Denkmuster … das Erkennen neonazistischer terroristischer Bedrohungen" behindert.

In der deutschen Neonazi-Szene aber hinterließen die Vorbilder und Konzepte aus dem Ausland unverkennbare Spuren, auch in den rechtsextremistischen Kameradschaften in Thüringen, aus denen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe stammten. Bands der Combat 18-Dachorganisation Blood&Honour tourten damals durch Ostdeutschland (erst 2000 wurde das Netzwerk hierzulande verboten), einen Gutteil seiner späteren Unterstützer lernte das NSU-Trio am Rande solcher Konzerte kennen. Im September 1995 fand die Polizei bei Uwe Böhnhardt ein Luftgewehr, auf das wie bei John Ausonius ein Laserpointer montiert war. 1998 förderte eine Razzia bei den dreien stapelweise einschlägige Literatur zutage: Nazihefte, in denen Combat 18 gehuldigt wurde, ein Exemplar des deutschen B&H-Rundbriefs, darin ein Aufruf zu "leaderless resistance" samt einem ausführlichen Zitat des US-Neonazis Louis Beam, der ein Konzept des "Führerlosen Widerstandes" 1992 veröffentlicht hatte: "Die Patrioten von heute müssen sich auf den größten aller Kriege, den Rassenkrieg, vorbereiten, und dafür muss man geheime Strukturen schaffen und bereit sein, sein Leben zu opfern." Nach diesen Worten handelte der NSU.

Toralf Staud war von 1998 bis 2005 Politikredakteur der ZEIT, heute schreibt er als freier Autor unter anderem über Rechtsextremismus. Zwei seiner Bücher erschienen auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Er war 2010 und 2013 an den Recherchen von ZEIT und Tagesspiegel zu Todesopfern rechter Gewalt beteiligt. Zuletzt veröffentlichte er bei Kiepenheuer&Witsch: Neue Nazis. Jenseits der NPD – Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror von rechts.

ist freier Journalist mit dem Themenschwerpunkt Rechtsextremismus und Jugendkultur. Er betreut für ZEIT-Online seit Juli 2009 den Störungsmelder. Gemeinsam mit Toralf Staud hat er das ZEIT-Portal "Netz gegen Nazis" gestartet und an dem "Buch gegen Nazis" mitgeschrieben.