Sie kleiden sich gern ganz in Schwarz. Sie tragen Kapuzenpullover, Baseball-Mützen und Sonnenbrillen. Auf ihren Demonstrationen bilden sie "Schwarze Blöcke", und ihre Fahnen sind denen der linken Antifa nachempfunden. Die Überraschung war groß, als die sogenannten "Autonomen Nationalisten" (AN) Mitte der 2000er Jahre erstmals in der Öffentlichkeit auftauchten: Neonazis, die wie Linke aussehen. Die bewusst die Symbolik und Ästhetik der politischen Gegner vereinnahmten und damit spielten.
Was vor einem Jahrzehnt als bizarre Provokation durch eine Handvoll Aktivisten begann, ist heute fester Bestandteil des deutschen Rechtsextremismus. Mittlerweile gibt es kaum noch einen Neonazi-Aufmarsch, bei dem nicht auch Autonome Nationalisten mitlaufen. Unter jugendlichen Neonazis sind sie inzwischen die vermutlich stärkste Gruppierung, die klischeehaften Skinheads dagegen gibt es kaum noch. Die AN zeigen am deutlichsten, wie sehr sich der Rechtsextremismus im letzten Jahrzehnt gewandelt hat – und mit ihm auch die Möglichkeiten, neue Anhänger zu rekrutieren.
"Ob du Hip-Hopper, Rapper oder sonst irgendwas [bist], ob du Glatze oder lange Haare hast: Völlig egal! – Hauptsache du bist gegen das herrschende System!", heißt es einladend in einem "Handbuch der Autonomen Nationalisten", das seit 2008 in der Szene kursiert. Die AN haben erkannt: Die strengen Dogmen anderer rechtsextremer Gruppen, seien es martialische Skinheads oder gescheitelte Braunhemden, sprechen heute noch weniger Jugendliche an als früher. Das hippe und sportliche Auftreten der AN hingegen schon. Statt öder Schulungsabende oder "Latschdemos" der NPD bieten sie einen Abenteuerspielplatz. Sie propagieren den "Do-it-yourself-Aktivisten", der relativ eigenständig oder nur mit wenigen direkten Mitstreitern entscheidet, was er wann tut. Freihändig klauen diese neuen Nazis, was sie der linken Szene neiden: Mode und Ästhetik, politische Aktionsformen und coole Sprüche.
Ein besonderes Kennzeichen der Autonomen Nationalisten ist ihre Aggressivität: Sie bekämpfen politische Gegner gezielt mit Gewalt. Auf Demonstrationen versuchen sie, durch einen militanten Habitus Stärke zu zeigen gegenüber dem ihnen verhassten Staat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht davon aus, dass die AN deutschlandweit inzwischen rund tausend Anhänger zählen, das entspräche knapp einem Fünftel des gesamten gewaltbereiten Neonazi-Spektrums. Während die NPD zumindest nach außen versucht, ihre Verehrung des historischen Nationalsozialismus’ zu verschleiern, bekennen sich die Autonomen Nationalisten offensiv zur NS-Ideologie. Sie fordern einen "Nationalen Sozialismus" und sehen sich als Nachfolger von Hitlers SA-Schlägertrupps. Das bemüht bürgerliche Auftreten der NPD gilt den AN als Zeichen von Schwäche.
Die äußere Modernisierung ändert nichts an der rückwärtsgewandten Ideologie
Die Geschichte der Autonomen Nationalisten begann in Berlin. Dort gründete sich im Jahr 2000 die "Kameradschaft Tor" (KS Tor), die anfangs eine ganz normale Neonazi-Kameradschaft war. Doch die rund 15 Mitglieder des inneren Kerns wohnten fast alle im Stadtteil Lichtenberg, der an den seit 1989 von der Hausbesetzerbewegung geprägten Bezirk Friedrichshain grenzt. Die Lebenswelt der Neonazi-Kameradschaft unterschied sich völlig von der einer traditionellen Kameradschaft in einem Brandenburger Dorf: Ihre Jugend in Berlin-Lichtenberg war urban geprägt. Sie mussten nur zwei Stationen mit der U-Bahn fahren, um die Erfolge von Linksalternativen - Hausprojekte, florierende Kneipen und vieles mehr - tagtäglich vor Augen geführt zu bekommen.
Die eigene Szene hingegen empfanden sie als öde, Kleidungsstil und Musik als unzeitgemäß. Die selbstbewussten Jung-Neonazis aber, von denen kaum einer älter als 20 war, wollten auch cool sein. Inhaltlich vertrat die Gruppe einen regelrechten nationalsozialistischen Führerkult, aber nach außen begann sie sich stilistisch zu modernisieren. Die Jungnazis fingen an, sportliche Kleidung zu tragen, Turnschuhe, Cargohosen und Kapuzenpullover. Sie merkten schnell, dass man so in der Masse der Großstadt untertauchen konnte und auf andere Jugendliche nicht abschreckend wirkte. So wie die kahlgeschorenen Sauf-Neonazis aus der Rechtsrockszene.
Zu einem von der NPD angemeldeten Aufmarsch am 1. Mai 2004 in Berlin riefen die Autonomen Nationalisten erstmals offiziell dazu auf, einen "NS Black Block" zu bilden: Nach Vorbild der Linken sollte es "Blockaden, Besetzungen, Verweigerungen" geben. "Es ist an der Zeit, dass wir […] damit beginnen, uns neu zu organisieren", hieß es in einem Aufruf in einem rechtsextremen Internetforum: "Der gewaltfreie, friedliche Kampf hat fast 60 Jahre stattgefunden, und wir haben nichts erreicht. Es ist unverantwortlich, wenn heute noch Kameraden davon reden, absolut und situationsunabhängig gewaltfrei zu bleiben." Es folgten immer häufigere und militantere Auftritte bei rechtsextremen Aufzügen. Polizisten, Gegendemonstranten und Journalisten wurden plötzlich Ziel von Flaschenwürfen, Feuerwerkskörpern und anderen Angriffen. Solche Krawallszenen waren bei den auf Ordnung und Disziplin getrimmten Demonstrationen der NPD undenkbar.
Gleichzeitig trieben die ersten ANler das Spiel mit linker Symbolik weiter. Was als Rebellion gegen die älteren Kameradschafter und als Provokation ohne langfristiges Konzept begann, wurde zum Selbstläufer. Plötzlich tauchten Neonazis mit einem verfremdeten Logo der Antifa auf: Das runde Symbol mit einer roten und einer schwarzen Fahne war identisch, lediglich die Worte "Antifaschistische Aktion" waren durch "Nationale Sozialisten" ersetzt. Fortan wurden ganze Poster-Designs, Transparente und Schriftzüge linker Gruppen bis ins Detail kopiert, Sprüche persifliert oder gleich unverändert übernommen. Selbst vor Anglizismen scheute man sich nicht, etwa beim Slogan "…tler was alright ’33" oder "Fight the system, fuck the law". All dies war bis dahin unter Rechtsextremisten tabu gewesen. Bei Aufmärschen tönten nun aus den Lautsprechern statt dumpfem Rechtsrock populäre Lieder von Bands wie "Die Ärzte". Dass diese erklärte Nazigegner sind, wurde einfach ignoriert. Anders als von Beobachtern oft unterstellt, ging die freizügige Übernahme linker Symbolik und Musik mit keinerlei Aufweichung rechtsextremer Ideologie einher – und sie war alles andere als eine Sympathie-Bekundung. Ganz im Gegenteil sahen die Autonomen Nationalisten den gewaltsamen Kampf gegen politische Widersacher von Anfang an als eine ihrer Hauptaufgaben.
Auch rechtsextreme Jugendliche wollen cool aussehen
Am stärksten hat von der rechten Stilrevolution vermutlich die Kleidungsmarke Thor Steinar aus Brandenburg profitiert. Der Wandel und das Wachstum der Szene haben einen ganz neuen Markt eröffnet: Jahrzehntelang boten rechtsextreme Versandhäuser praktisch nur billig produzierte T-Shirts mit schlecht gezeichneten, einfarbigen Motiven an, oder Produkte "normaler” Sportartikelmarken, die im Laufe der Jahre von Neonazis vereinnahmt wurden, etwa Lonsdale oder Fred Perry. Doch auch junge Rechtsextreme wünschen sich schicke Kleidung. Thor Steinar liefert sie. Während offiziell stets betont wird, die Marke sei unpolitisch, sprechen mehrere Konkurrenten die Neonazis inzwischen ganz offen an. Ansgar Aryan aus Thüringen beispielsweise verbindet modernes Surfer-Design mit historischem Nationalsozialismus. Eine ganze Kollektion, die passenderweise "Weapons" heißt, ist mit Schusswaffen der Wehrmacht bedruckt. Ein anderes Motiv zeigt einen Wehrmachtspanzer mit dem Spruch "Nach Frankreich fahren wir nur auf Ketten". Die Marke tritt als Sponsor von Neonazi-Veranstaltungen und -bands auf und schaltet Anzeigen auf einschlägigen Szenewebseiten.
Autonome Nationalisten: So sehen sie aus Glatze und Springerstiefel? Fehlanzeige! Die sogenannten Autonomen Nationalisten (AN) geben sich hip und modern. Anders als früher rechte Skinheads sind sie nur noch an wenigen Symbolen und Kleidungsstücken eindeutig zu erkennen. Viele ihrer Styles haben sie aus anderen Jugendkulturen übernommen und so zurechtgebogen, dass sie zu ihrer rechtsextremen Ideologie passen. Diese interaktive Grafik zeigt einige der eindeutigen und uneindeutigen Codes der Szene.
Auch musikalisch haben die Autonomen Nationalisten für eine kleine Revolution innerhalb der Szene gesorgt. Gab es früher nur die Wahl zwischen Rumpel-Rechtsrock-Bands und neonazistischen Liedermachern, versuchen die AN mit viel Energie, neue Musikstile für sich zu vereinnahmen. Plötzlich gibt es rechtsextreme Hip-Hop-Bands, die "Nationalen Sprechgesang” machen, und "National Socialist Hardcore” als Alternative zum "Hardcore" aus den USA, der vom Punk geprägt ist. Zudem tummeln sich die AN ganz selbstverständlich im Internet, produzieren professionelle Webseiten und YouTube-Videos.
Die Autonomen Nationalisten fordern von ihren Anhängern nur bedingt vermeintlich deutsche Tugenden wie Disziplin oder Ordnung. Für Pubertierende auf Identitätssuche sind sie deshalb attraktiver als andere rechtsextreme Gruppen. "Die AN waren wie ein Befreiungsschlag für mich", erzählt ein früherer Aktivist. "Vorher gab es in der Naziszene Vorgaben, was Musik, Kleidung, Essen betraf. Danach musstest du dich richten. Und diesen Zwang fanden viele Leute in der Szene scheiße. [Als AN] konnte man freier sein. Du konntest hören was du willst, du konntest Döner essen gehen, du konntest alternative Klamotten tragen. Die Leute machten das ja auch gern. Die haben das nicht nur gemacht, damit sie jemanden ansprechen konnten, sondern weil ihnen das auch selbst gefallen hat.” So ist es kein Wunder, dass es inzwischen fast flächendeckend Gruppen gibt, die sich entweder im Namen oder im Äußeren der Szene der Autonomen Nationalisten zugehörig fühlen.
Inhaltlich bieten die Autonomen Nationalisten wenig Neues. "Eine eigene Weltanschauung o.Ä. ist mit AN nicht gemeint", betont ein in der Szene kursierender Text, es handele sich lediglich um "eine Agitationsform". Auch der Sozialwissenschaftler Jan Schedler von der Ruhr-Universität Bochum sagt: "Die Autonomen Nationalisten haben keineswegs eine eigene Ideologie, die von der des übrigen Spektrums abweicht." Altbekannte rechtsextreme Denkmuster werden von den AN übernommen und nur teilweise anders verpackt. Und ironischerweise sind die so modern auftretenden AN in ihrer Weltanschauung erheblich rückwärtsgewandter als andere Rechtsextreme. Die altbackene NS-Ideologie wird einfach poppig übertüncht. Geradezu ostentativ beziehen sich die AN auf den historischen Nationalsozialismus, der vielgenutzte Begriff "Nationaler Sozialismus" dient lediglich als juristisch unangreifbare Chiffre.
Kaum ein Teil der extremen Rechten ist so aggressiv wie die Autonomen Nationalisten
Besonders gefährlich macht die Autonomen Nationalisten ihre hohe Gewaltbereitschaft. Obwohl viele AN nur fünf oder sechs Jahre in der Szene bleiben, machen sie eine rasante Radikalisierung durch. Im Gegensatz zu den betrunkenen Skinheads der 1990er Jahre, gehen die AN meist geplant und zielgerichtet vor. Politische Gegner werden professionell ausgespäht und angegriffen. Die Taten reichen von Sachbeschädigungen über schwere Körperverletzung bis hin zur Vorbereitung von Sprengstoff-Anschlägen. Am 1. Mai 2010 brachten beispielsweise zwei Autonome Nationalisten aus Aachen selbstgebaute und mit Glasscherben umwickelte Sprengkörper zu einem Aufmarsch nach Berlin. Nur durch Zufall flogen sie auf und konnten Monate später festgenommen werden.
Wie rasant die Radikalisierung einer kleinen Clique Autonomer Nationalisten ablaufen kann, lässt sich gut am Beispiel Radevormwald in Nordrhein-Westfalen beobachten: Von der Gründung 2011 über erste Propaganda-Aktionen und kontinuierliche Gewalttaten bis zum vollen Waffendepot brauchte dort eine Gruppe namens "Freundeskreis Rade” lediglich 14 Monate. Viele Mitglieder waren zuvor bei der Jugendorganisation der relativ gemäßigten Rechtspopulisten von pro NRW aktiv. Doch da wurde es den Jugendlichen offenbar bald langweilig. Unter neuem Label begannen sie schließlich, mit Gewalt gegen alternative Jugendliche und Migranten vorzugehen. Bald betrieben sie eine Internetseite und einen Twitter-Account. Gewalttaten in der ganzen Region gingen auf ihr Konto. Sogar Polizisten wurden angegriffen.
Als der Staatsschutz schließlich im April 2012 zur Razzia anrückte, stieß er auf ein komplettes Waffenarsenal: Eine scharfe Schusswaffe, diverse Messer, Schwerter, Schlagringe und -stöcke, dazu kistenweise Neonazipropaganda. Es war ein Fund, der selbst erfahrene Beamte wie den Kölner Polizeipräsidenten von einer zuvor "unbekannten Dimension" sprechen ließ. Der Freundeskreis Rade wurde als kriminelle Vereinigung verboten. Dabei waren die Mitglieder gerade einmal 15 bis 25 Jahre alt, der Großteil von ihnen minderjährig.
"Gruppen, die sich so radikalisieren, haben irgendwann kein Gewalttabu mehr", sagt der Soziologe Rainer Erb vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Er warnt davor, dass sich aus dem AN-Milieu "Aktionskerne" bilden, die sich immer weiter abschotten und radikalisieren. Wie das läuft, hat man am Beispiel der NSU-Zelle gesehen. "Man stilisiert sich dann als politischer Soldat gegen das feindliche System. Die fühlen sich wie im Krieg", so Erb, der die AN-Szene seit Jahren im Blick hat. "Und im Krieg sind alle Mittel erlaubt und moralisch gerechtfertigt."
Dabei haben die meist sehr jungen Aktivisten keine langfristige Strategie. Der parlamentarische Weg, der für Mäßigung sorgen könnte, interessiert sie nicht. Ihnen geht es um kurzfristige Erlebnisse. Diese aggressive "Hyperaktivität" macht die AN unberechenbar. Mit den Terroristen des NSU gibt es nun auch Rollenvorbilder, denen man nacheifern kann. Die Gefahr, die von den Autonomen Nationalisten ausgeht, ist inzwischen auch den Sicherheitsbehörden bewusst, die in Sachen NSU jahrzehntelang versagt haben. In einer 20-seitigen, vertraulichen Lageeinschätzung "nur für den Dienstgebrauch" des Bundeskriminalamts wird neuerdings explizit vor "selbstradikalisierten Einzeltätern" und der "Bildung terroristischer Kleingruppen" gewarnt. Das nüchterne Fazit der Beamten: "Mit Tötungsdelikten ist zu rechnen."![endif]-->!--[if>