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Als am 26. Februar 2016 die fünfzehnjährige Safia S. einem Bundespolizisten in Hannover ein Messer in den Hals rammte, zeigten sich die Öffentlichkeit aber auch die Ermittlungsbehörden schockiert. Ein Kind, das als terroristischer Attentäter in Erscheinung tritt, das war im Kontext des dschihadistischen Terrorismus in Deutschland ein Novum. Rasch stellte sich heraus, dass es nicht bei diesem einen Fall bleiben sollte. Wenige Wochen später verübte eine jugendliche Attentätergruppe in Essen einen Sprengstoffanschlag auf einen Sikh-Tempel, bei dem mehrere Menschen verletzt wurden. Weitere Anschlagsversuche gab es im November und Dezember 2016 in Ludwigshafen. Dort hatte ein zwölfjähriger Junge zwei selbstgefertigte Sprengsätze auf dem Weihnachtsmarkt deponiert. Glücklicherweise erwiesen sich beide Bomben als nicht zündfähig.
Die zuständigen Behörden – insbesondere die kommunale Jugendhilfe – zeigten sich überrascht und mancherorts regelrecht ratlos. Was sollte man in solchen Fällen unternehmen, und wie sollte man neue Fälle verhindern? Diese Fragen stehen am Ausgangspunkt des präventiven Handelns. Fundierte und Erfolg versprechende Antworten sind nur möglich, wenn die Hintergründe der Geschehnisse umfassend geklärt werden können.
Die wissenschaftliche Debatte über Faktoren der Radikalisierung
Doch das stellt ein Problem dar. Denn die aktuelle jugendkulturelle Ausprägung des gewaltbefürwortenden Salafismus ist immer noch ein relativ neues Phänomen, das erst mit den vermehrten Ausreisen in die syrischen Bürgerkriegsgebiete ab dem Jahr 2012 zunehmend Beachtung fand.
Zunächst kann konstatiert werden, dass die internationale Forschung das Phänomen Radikalisierung als einen zumeist linear verlaufenden Prozess beschreibt, in dem das Individuum sich sukzessiv in seinem Denken und seinen Einstellungen verändert und der final zu Gewalt und Terrorismus führen kann. Unstrittig ist hierbei, dass verschiedene Faktoren Einfluss nehmen können. Aufgeführt werden in der derzeitigen wissenschaftlichen Diskussion unter anderem Diskriminierungserfahrungen, Krisenerfahrungen, typische Aspekte der Entwicklung in der Jugendphase, objektive Konfliktlagen, Religion und Gruppenprozesse (Ceylan/Kiefer 2017, S. 5ff). In der Radikalisierungsforschung geht man daher von multifaktoriell beeinflussten Prozessen aus, die nicht in einem einheitlichen Schema abgebildet werden können. Zumindest diese Position kann als ein Konsens in der wissenschaftlichen Debatte angesehen werden.
Kontroversen gibt es jedoch zur Bedeutung beziehungsweise Wirksamkeit der einzelnen Faktoren. So wird zum Beispiel darüber diskutiert, ob Diskriminierungserfahrungen und prekäre Lebensverhältnisse maßgeblich eine Radikalisierung begünstigen. Verwiesen wird hier insbesondere auf Frankreich und Belgien. Dort könne bei der Mehrzahl der terroristischen Gewalttäter dieser Sachverhalt konstatiert werden (Ceylan/Kiefer 2017, S.7).
Welche Rolle spielt die Religion?
Eine besondere Debatte im Kontext von Radikalisierungsfaktoren betrifft die Bedeutung der Religion und Religiosität im Radikalisierungsgeschehen. Sie wird sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Politik und Wissenschaft geführt. Ein besonderes mediales Interesse gilt dabei der Kontroverse zwischen den französischen Forschern Gilles Kepel und Olivier Roy. Der an der Eliteuniversität Sciences Po lehrende Gilles Kepel vertritt die These, der Islam habe sich seit geraumer Zeit radikalisiert. Die Anschläge, die in Frankreich und Belgien zu massiven gesellschaftlichen Reaktionen wie auch Nachahmungstaten geführt haben, hätten Ihren Ursprung in radikalen muslimischen Milieus, so Kepel. Entsprechend hätten wir es aktuell mit einer Radikalisierung des Islams zu tun.
Auf der anderen Seite steht der gleichfalls international renommierte Politikwissenschaftler Olivier Roy. Er vertritt in seiner 2016 erschienen Studie "Le djihad et la mort" die These einer Islamisierung der Radikalität. Als Beleg verweist Roy auf die Lebensführung der Attentäterinnen und Attentäter in Frankreich und Belgien. Diese sei insbesondere gekennzeichnet von Drogenkonsum und Delinquenz. Den Islam habe man erst sehr spät entdeckt und sich in einer kruden und einfältigen Form angeeignet, die nichts oder nur wenig mit dem traditionellen Islam gemein habe. Das heißt, dass die Religion in erster Linie genutzt werde, um dem eigenen delinquenten beziehungsweise radikalen Handeln eine gewisse Legitimation zu verleihen. Roy schließt damit an seine Überlegungen aus dem Buch "La sainte ignorance. Les temps de la religion sans culture" an, das bereits im Jahr 2008 erschien. Darin beschreibt er eine neue Form des mitunter gewaltsamen Fundamentalismus, der Religion in einer dekulturierten und dekontextualisierten Form als eine Art Mutation inszeniert.
Debatte im deutschsprachigen Raum
Mit ähnlichen Positionen wird die Debatte seit geraumer Zeit auch im deutschsprachigen Raum geführt. Sowohl für eine "Islamisierung der Radikalität" als auch eine "Radikalisierung des Islam" können Belege angeführt werden. So spricht für die Sichtweise Kepels – der Radikalisierung des Islams – die von Ednan Aslan vorgelegte Studie "Islamistische Radikalisierung. Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieus" (Aslan 2017). Die Studie, der 29 narrativ-biografische Interviews zu Grunde liegen, kommt zu dem Ergebnis, dass Religion zu den "wichtigsten Faktoren" in Radikalisierungsprozessen gerechnet werden müsse (Aslan 2017, S. 272). Dies zeige sich unter anderem darin, "dass sich die interviewten Personen in ihrem Radikalisierungsprozess aktiv mit Inhalten, Normen und Wertvorstellungen der islamischen Lehre auseinandersetzten" (Aslan 2017, S. 18). Ob diese Ergebnisse auf die gesamte militante salafistische Szene übertragen werden können, ist indessen fraglich, denn die Gruppe der Interviewten ist sehr speziell: Es handelt sich mehrheitlich um Straftäter mit tschetschenischem Migrationshintergrund.
WhatsApp-Chat-Studie: Dschihadisten ohne Koran
Für Roys These – der Islamisierung der Radikalität – spricht eine Studie des "Forschungsnetzwerks Radikalisierung und Prävention", an dem Forscherinnen und Forscher der Universitäten Bielefeld und Osnabrück beteiligt sind. Die Studie "Lasset uns in scha´a Allah ein Plan machen" analysiert ein 5.757 Postings umfassendes WhatsApp-Protokoll einer dschihadistischen Jugendgruppe, die 2016 einen Anschlag ausführte (Kiefer et al. 2017). In der Studie wird der Nachweis geführt, dass die Jugendlichen nur über wenige Islamkenntnisse verfügen.
Die Belege hierfür sind zahlreich. So offenbart einer der jugendlichen Verschwörer im Verlauf des Chats, dass er über keinen Koran verfügt und dass es an der Zeit sei, ein Exemplar zu besorgen (Kiefer et al. 2017, S. 30). Unkenntnis in der Gruppe herrscht offenkundig auch im Hinblick auf das rituelle Gebet. Hier hielt man es für notwendig, sich nach der geeigneten Bekleidung ("Islamische Kleidung") zu erkundigen (Kiefer et al., S. 29). Zum Repertoire der Islamvorstellungen gehören ferner Vorstellungen von Dschinn-Glauben
Mitunter krude und bar jeglicher Korankenntnisse wird schließlich die Frage der Selbstermächtigung zur Gewalt diskutiert. Dabei geht es um die Frage, ob man Deutschland als Kriegsgebiet betrachten könne oder nicht. Die Diskussionsbeiträge erschöpfen sich in Mutmaßungen und der Wiedergabe von Kolportagen aus sozialen Netzwerken. Angeführt werden unter anderem Meinungen eines Predigers und ein Koranzitat (Sure 9:1), das fehlgelesen und falsch kontextualisiert in die "Debatte" eingebracht wird. Insgesamt bedienen sich die Gruppenmitglieder sehr selektiv in den Schriften und Traditionen der islamischen Religion. Sie konstruieren sich einen eigenen "Islam", der als krude und einfältig bezeichnet werden kann.
Studien belegen die Vielfalt der salafistischen Szene
Wie nun soll man den Faktor Religion in Radikalisierungsprozessen bewerten? Auf den ersten Blick stehen die angeführten Studien im Widerspruch. Betrachtet man jedoch die Biografien junger radikalisierter Menschen, zeigt sich rasch, dass sie jeweils unterschiedliche Geschichten zu erzählen haben. Es gibt eben kein universell gültiges Modell von Radikalisierung. In der heterogenen salafistischen Szene finden wir Menschen mit guter Bildung und intaktem Elternhaus neben Menschen, die in der Schule nie Erfolg hatten und die ihren Vater nie zu Gesicht bekommen haben. Die einen realisieren in der dschihadistischen Bewegung eine Kaderkariere, während die anderen eher zu den Befehlsempfängern zählen. Radikalisierung ist ein hochkomplexer Prozess, in dem eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle spielen können. Die Religion ist immer nur ein Faktor, der je nach Ausgangssituation mal mehr und mal weniger zum Tragen kommen kann.
"Lasset uns in sha'a Allah ein Plan machen" ist am 1. Juni 2017 bei Springer VS erschienen und umfasst 396 Seiten. Es kann zum Preis von 29,99 Euro Externer Link: bestellt werden.
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