Von Rechts- und Linksextremismus ist erst seit wenigen Jahrzehnten die Rede. Die Begrifflichkeit gibt es erst seit etwa dreißig Jahren, zuvor waren Rechts- und Linksradikalismus gängige Münzen im politischen Sprachgebrauch. Die gegenwärtigen politischen Formationen links- und rechtsaußen haben zweifellos viele Wurzeln in der Frühgeschichte der Bundesrepublik. Dennoch bleibt ihre Entwicklungsgeschichte unvollständig, wenn wir nicht einen umfassenderen historischen Bezugsrahmen zugrundelegen. Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts gibt es erste Ausprägungen der rechten und linken Varianten des politischen Extremismus. Er ist so gesehen eine historisch sehr junge Entwicklung, gerade einmal hundertfünfzig Jahre alt. Keine seiner Spielarten entwickelt sich eigenständig, sie alle sind Abspaltungen von prägenden politischen Ideen ihrer Zeit. Ihre Entstehung ist verknüpft mit inneren Auseinandersetzungen in den dominierenden politischen Richtungen nach der Aufklärung und der Französischen Revolution und der allmählichen Herausbildung demokratischer Verfassungsstaaten: Konservatismus, Sozialismus und Liberalismus.
Karl Dietrich Bracher hat in seiner 1982 erschienenen Studie "Zeit der Ideologien", in der die politischen Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts behandelt werden, diese Konstellation als "Nebeneinander und Gegeneinander der gleichsam klassischen, bis heute wirksamen Ideenkreise" beschrieben: "Liberalismus und Demokratiegedanke, Sozialismus und Marxismus, Konservatismus und nationalistischer Etatismus" (Bracher 1982). Gerhard Göhler hat die Konkurrenz dieser Hauptströmungen prägnant zusammengefasst: "Geht es dem Liberalismus um die freie Entfaltung des Individuums gegenüber aller politischen und gesellschaftlichen Bevormundung, dem Sozialismus um die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit in einer selbstbestimmten Gemeinschaft, so dem Konservatismus um die Bewahrung des Bewahrenswerten in einem vorgegebenen Ordnungsgefüge" (Göhler 2002: 19).
Diese bis heute so mächtigen politischen Grundideen konkurrieren miteinander, aber sie bringen auch Auseinandersetzungen innerhalb ihrer selbst hervor. Extremismen sind Abspaltungen aus diesen großen Ideengebäuden. Rechtsextremismus radikalisiert vor allem einige Elemente des konservativen Denkens, umgekehrt ist revolutionärer Kommunismus ohne die sozialdemokratische Kernströmung Ende des 19. Jahrhunderts nicht denkbar. Noch einmal Bracher: "Die Übersteigerung der politischen Ideenkonflikte resultiert in Radikalisierung und Selbstzerstörung. Die Formen und Wirkungen dieser Radikalisierung sind: Nationalismus und Rassismus, Anarchismus und Klassenkampfidee, Technokratismus und Violentismus, Gewaltkult" (Bracher 1982: 26).
Das 19. Jahrhundert war geprägt von gewaltigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen. Die Idee der Demokratie und der Republik folgte den Forderungen der Aufklärung nach Freiheit und den politischen Vorbildern der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Französischen Revolution von 1789 und hatte insbesondere die Intellektuellen infiziert. Parlamentarische Demokratie, demokratische Institutionen, Rechtsstaat und bürgerliche Freiheiten bedeuteten einen Angriff auf die feudalen Herrschaftsstrukturen, auf Thron und Altar, auf die ständische Gesellschaft, auf feudale Privilegien und, in den Augen der Konservativen, auf die natürliche Ordnung der Dinge. Der Konservatismus des 19. Jahrhunderts ist eine Abwehrbewegung, eine Reaktion auf die Forderungen nach Demokratie, die am deutlichsten in liberalen Strömungen geäußert wurden. Der erste soziale Träger war vor allem der Adel, der seine Privilegien bedroht sah von den liberalen Ideen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandern mehr und mehr bürgerliche Schichten ins Lager des Konservatismus.
Sie sehen sich bedroht von der stärker werdenden Arbeiterbewegung, aber auch das Kleinbürgertum fühlt und denkt konservativ. Während der Weimarer Republik hat der Konservatismus eine fatale und tragische Rolle gespielt: Er akzeptierte die neue republikanische und demokratische Ordnung nicht, reihte sich ein in die Gegner der Demokratie und spielte dem Nationalsozialismus in die Hände. Mehr noch. Es gab politische Bündnisse zwischen den Deutschnationalen und den Nationalsozialisten wie in der ersten Koalitionsregierung Hitler. Ideologisch konnten sich die Nationalsozialisten beim Lager der konservativen Revolution bedienen, jenen Intellektuellen um Ernst Jünger, Carl Schmitt, Moeller van den Bruck, Oswald Spengler und anderen, die den Konservatismus nun völkisch, nationalistisch und etatistisch neu begründen wollten. Zwar gab es konservativen Widerstand im Dritten Reich, doch das Lager des Konservatismus hatte sich nach 1918 selbst weitgehend zerstört. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Konservatismus das Festhalten an der vor-republikanischen alten Ordnung und die Skepsis gegenüber liberalen Freiheitsrechten und säkularer Gesellschaft aufgegeben und sich zu einer gestaltenden Kraft der demokratischen Ordnung entwickelt.
Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts hatte als historisch erste der drei politischen Hauptströmungen seine Wurzeln schon im 18. Jahrhundert. Die Theorien von John Locke über Freiheit und Eigentum, Adam Smith über den freien Markt und Immanuel Kant über die Autonomie des Individuums und die Kraft der individuellen Vernunft beeinflussten die Französische Revolution und kamen in der Parole Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum Ausdruck. Bis heute sind die Kernelemente des liberalen Denkens gleichgeblieben: Menschen- und Bürgerrechte, Privateigentum, eine Wirtschaftsordnung mit wenig staatlichen Eingriffen und das Vertrauen in die Kraft der individuellen Vernunft und Entscheidungsfreiheit. Der politische Liberalismus, weiterentwickelt von Alexis de Tocqueville, John Stuart Mill und anderen, ruhte auf drei Pfeilern: auf der Theorie der Freiheit des Individuums, auf einer liberalen Staatstheorie und auf der Idee einer liberalen Ökonomie.
Gemäß der Kantischen Idee der Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit sollte die Vernunft das entscheidende Medium zur Entfaltung des Individuums sein, nicht mehr vorgegebene Religionen und Traditionen. Die unveräußerlichen Menschenrechte sollten sicherstellen, dass Menschen sich frei von Zwängen in eigener Verantwortung entfalten können. Die Untertanen-Mentalität im Verhältnis von Bürgern und Staat sollte der Vergangenheit angehören. Die liberale Staatstheorie wollte die Befugnisse des Staates, des "Leviathan" (Hobbes), begrenzen auf das unumgänglich Notwendige und die Eingriffe in bürgerliche Freiheiten durch das Gesetz regeln in der Konzeption des demokratischen Verfassungsstaates. Die liberale Ökonomie schließlich gründete auf einer Laisser-faire-Konzeption wie sie etwa Adam Smith entwickelt hatte und die davon ausging, dass die größtmögliche unternehmerische Freiheit des Einzelnen zugleich auch das Wohl der gesamten Volkswirtschaft begründen würde.
Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts ist eine Antwort auf die demokratischen Großereignisse der auf den Federalist Papers gegründeten amerikanischen Unabhängigkeit, auf die Französische Revolution und die liberalen Impulse der Aufklärung.
Er versteht sich als fortschrittliche Modernisierungsbewegung, auf der Höhe der Zeit und die Dinge vorantreibend. Die ökonomische Entwicklung im 19. Jahrhundert spielt ihm dabei in die Hände: Die kapitalistische Industriegesellschaft kann sich kaum in den Fesseln einer ständischen Gesellschaft entfalten, unternehmerische Freiheit ist ihre Vorbedingung. Der Industriekapitalismus basiert auf Mobilität, etwa der Wanderung von Arbeitern vom Land in die Städte, auf Innovation, Technik, später auch Rationalisierung, und, grundsätzlich, auf dem Prinzip der Gewinnmaximierung als Triebfeder kapitalistischen Handelns. All dies bedeutet die Entfesselung und Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen, die dieser Entwicklung im Wege stehen. Die Kehrseite ist das Aufbrechen der sozialen Frage: die Entstehung einer ausgebeuteten, sozial entrechteten Klasse von Industriearbeitern und die Frage, wie sie ihre Interessen in den gesellschaftlichen Prozess einbringen kann. Mehr noch: Es stellt sich die Frage der sozialen Integration in einer industriell geprägten Klassengesellschaft, die auseinander zu fallen droht.
Sozialismus und Konservatismus sind, einschließlich ihrer extremistischen Ableger, Antworten auf die Entwicklung der kapitalistischen Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts, auf die Theorie des Liberalismus und die beginnende Desintegration der Gesellschaft. Sie fallen natürlich sehr unterschiedlich aus. Der Konservatismus versucht zu retten, was zu retten ist, und setzt auf göttlich inspirierte, angeblich natürliche Ordnungen der Dinge, auf ständische Gliederung der Gesellschaft bzw. Gemeinschaft, auf die Kraft des Staates und der Religion und die bewährten Institutionen. Konservatives Denken im 19. Jahrhundert ist eine Mischung aus dem Festhalten am Althergebrachten, an Traditionen, und dem Versuch, an bewährten Institutionen und ständischer, klerikal geprägter Gesellschaft festzuhalten. Der Sozialismus des 19. Jahrhunderts hingegen – in all seinen Schattierungen, der marxistischen, anarchistischen und reformsozialistischen, sieht sich seiner-seits als Bannerträger des Fortschritts, als soziale Bewegung, die alle Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnisse abschaffen und das Reich der Freiheit und Gleichheit schaffen will. Entsprechend gegensätzlich sind die Lösungsmodelle. Der Konservatismus setzt auf die alte Ordnung und ist allenfalls zu behutsamen Reformen bereit, der Sozialismus propagiert im Laufe seiner Entwicklung im 19. Jahrhundert mehr und mehr die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft.
Literatur
Bracher, Karl Dietrich: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1982.
Göhler, Gerhard: Konservatismus im 19. Jahrhundert - eine Einführung. In: Bernd Heidenreich (Hrsg.): Politische Theorien des 19. jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus. Berlin 2002. S. 19-32.
Aus: Hans-Gerd Jaschke: Politischer Extremismus, Wiesbaden 2006, VS Verlag für Sozialwissenschaften. Der Band aus der Reihe "Elemente der Politik", hrsg. v. Hans-Georg Ehrhart, Bernhard Frevel, Klaus Schubert und Suzanne S. Schüttemeyer ist als Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen und kann hier bestellt werden.