Einleitung
Achtung Neonazi – Nazis raus aus der Anonymität". Diese Aufforderung stand auf einem Flyer, den die Antifa-Gruppe einer Kleinstadt im Norden Deutschlands Anfang 2011 in der Öffentlichkeit verteilte und auch im Internet veröffentlichte. Der offensiven Überschrift folgten der vollständige Name, die Privatadresse, die Handy- und Festnetznummer eines mutmaßlichen Rechtsextremisten aus der Gegend und einige aufklärende Hinweise auf das "moderne Image", das sich "Neonazis" mittlerweile geben. Außerdem zeigte der Flyer Fotos des Angezeigten und Informationen zu einschlägigen Veranstaltungen, die er besucht haben soll.
Für keinen der Passanten dürfte es ein Problem dargestellt haben, sich von der politischen Gesinnung des angeprangerten Jugendlichen ein Bild zu machen. Stieß er sich daran, konnte er den "Neonazi" aufgrund des Flyers aufsuchen. Solch ein Vorgang ist kein Einzelfall. Nur erlangen derartige linksautonome Aktionen, die sich im "analogen Leben" abspielen, nur selten Bekanntheit über die Szene und die direkte Umwelt eines geouteten (vermeintlichen) Rechtsextremisten hinaus. Zu zweifelhafter Prominenz kam das Portal nazi-leaks.net. Bis Ende 2011 konnte sich dort, wer wollte, über tatsächliche und vermeintliche "Neonazis" informieren und selbst Daten einreichen, "eine Art Wikileaks für Antifaschisten"
Definition und Praxis
Worum handelt es sich hierbei? Um persönliche Fehden? Politische Rachefeldzüge? Der von der Antifa verteilte Flyer sowie "nazi-leaks.net" sind Ausdruck eines Phänomens, das sich seit einigen Jahren vermehrter Beliebtheit im politischen Linksextremismus, gerade bei Autonomen erfreut: "Nazi-Outing". Dabei publizieren Sympathisanten und Mitglieder der Antifa private Informationen über einen oder mehrere tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten: Namen, Adressen, Telefonnummern, besuchte Veranstaltungen, schulische Bildung, Fotos, Berufsstand, Arbeitgeber, Partner, Accountdaten zu sozialen Netzwerken, Parteiaffinität usw. Die Geouteten sind zum Teil Jugendliche. Die Kommunikationskanäle reichen vom persönlichen Flyerverteilen und Plakatekleben über "Home-Visits" (Nachbarn werden via Megafon, Transparent und Flugzettel über die politische Gesinnung des/der Rechtsextremisten informiert) und "Besuche" in Vorlesungen bis hin zu einschlägigen Internetseiten (nazi-leaks.net). Angesprochen sind unbeteiligte Dritte, die von der politischen Gesinnung eines ihrer Mitbürger erfahren sollen; tatsächlich aber werden Outings größtenteils in einschlägigen Internetforen, wie "linksunten.indymedia.org", "de.indymedia.org", den Seiten der örtlichen Antifa ebenso in linksautonomen Zeitschriften wie der "Interim" mit Genugtuung erörtert. Weil "Nazi-Outings" meist Mitglieder der in Städten organisierten Antifa durchführen, finden die Aktionen in erster Linie dort statt: in Hamburg, Bremen und Köln zum Beispiel.
"Outing" hat seinen Ursprung in der Schwulen- und Lesbenbewegung der 1980er/1990er Jahre und ist der Szenebegriff für die Benennung prominenter Homosexueller (z. B. Alfred Biolek, Boy George, Hape Kerkeling) durch Dritte, um ihnen ein Bekenntnis zu ihrer sexuellen Orientierung zu entlocken. Damit sollte die gesellschaftliche Akzeptanz von und der offene Umgang mit gleichgeschlechtlicher Liebe erzwungen werden.
In die Öffentlichkeit getragen wird nicht die sexuelle, sondern die politische Orientierung.
Opfer sind nicht Menschen des übergeordneten öffentlichen Interesses ("Prominente"), sondern in aller Regel Privatpersonen.
Auf die Förderung gesellschaftlicher Akzeptanz von Rechtsextremismus zielt keiner der linksextremistischen Outer – mögen ihre Beweggründe noch so uneinheitlich sein.
An beiden Outing-Formen ist wiederum der massive Eingriff in die Freiheitsrechte des Geouteten problematisch, denn er weiß von den Aktionen zuvor nichts.
Die noch recht junge politische Erscheinung blieb vom Fokus der Wissenschaft bislang verschont, wurde allenfalls vereinzelt in der Politik und in den Medien erörtert
Ziele und Funktionen
Der Antifaschismus steckt schon im Namen der Antifaschistischen Aktion (Antifa)
Diese Motivzuschreibungen beruhen wohlgemerkt auf Eigenangaben der Linksextremisten gegenüber der Öffentlichkeit, beispielsweise in Pressemeldungen. Dass dies die einzigen Ziele sind, muss bezweifelt werden, obwohl sie Ausdruck des Missionierungsbewusstseins linksautonomer Kreise sind. Welche Motive außerdem hinter "Nazi-Outings" stehen, eröffnet sich durch andere Botschaften, die sich auf Flyern und auf Internetseiten finden. In einem Artikel, der Irrtümer bei der Identifikation von "Nazis" erörtert, behaupten die Autoren, Ziel sei es, mit Outings die "Aktivitäten, Strukturen und Vernetzung […] transparent" zu machen. Nur wenige Zeilen später ergänzen sie allerdings, sie beabsichtigten außerdem, Rechtsextremisten "aus der Anonymität zu reißen, ihnen das Leben in ihrem Umfeld zu erschweren"
Beide Handlungsmotive ergeben sich aus dem Feindbild "Faschismus": "Nazis" sind für Autonome keine politischen Gegner, die überzeugt oder mit denen Kompromisse gefunden werden können; sie gelten als Feinde, mit denen gewaltfreie politische Interaktionen schon der "gesunde Menschenverstand" verbietet. Aus der menschenverachtenden Ideologie der Rechtsextremen leiten Autonome die Legitimation ab, "Nazis" fundamentale Menschenrechte abzusprechen. So streiten Linksautonome den Rechtsextremen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ("Neonazis haben kein Recht auf verpixelte Bilder!"
sich gegen den Mainstream abzugrenzen (Identifikationsfunktion),
durch Bedrohungsszenarien das Zusammengehörigkeitsgefühl zu steigern (Integrationsfunktion),
die komplexe politische Lage schnell zu strukturieren (Komplexitätsreduktionsfunktion) und – dies wird beim "Nazi-Outing" besonders deutlich – ihre kommunikative Macht und so ihren gesellschaftlichen Einfluss auszubauen (Propaganda- und Rekrutierungsfunktion).
Der "Antifaschismus" von Linksextremisten nimmt also – ebenso wie ihr "Antikapitalismus", ihr "Antirepressionismus" oder ihr "Antiamerikanismus" – eine stabilisierende Funktion für die Szene ein, ist ein instrumentalisiertes Feindbild.
Probleme und Wirkungen des "Nazi-Outings"
Wer eigenmächtig, zum Teil anonym und ohne rechtliche Bindung Informationen über Dritte ohne deren Einverständnis preisgibt, provoziert Probleme. Die wichtigsten:
Das Problem des Irrtums: In der autonomen Szene werden vor allem zwei Schwächen des "Nazi-Outings" diskutiert, darunter die Fehleranfälligkeit des Verfahrens: Weil jeder Informationswillige Daten melden kann und gewisse Sorgfaltspflichten nicht ernstnimmt, werden Menschen öffentlich bloßgestellt, die sich dem Rechtsextremismus weder zugehörig fühlen noch zugehörig fühlen müssen. Ein solcher Vorfall wird meist als peinlicher Lapsus behandelt: "Jetzt ist es passiert, ausgerechnet 'uns'"
, heißt es, als die Akteure sich in einer Adresse irren und jemanden öffentlich bloßstellen, der mit Rechtsextremismus nichts zu tun hat. Obwohl sich die Verantwortlichen eigenen Angaben zufolge bei den Betroffenen entschuldigt haben, kann von Einsicht keine Rede sein: "Der Fehler war recht schnell entdeckt und liegt weniger in unserer Arbeit, als mehr in der Kommunikation untereinander." Wer aber ist an der Kommunikation beteiligt, wenn nicht die Autonomen selbst? Derartige "Fehler" sind kein Einzelfall, sondern im Verfahren angelegt. Das moralische Problem: Die Szene befürchtet außerdem, mit den eigenen Maßstäben in Konflikt zu geraten. Sie diskutiert, "ob das zur Schau stellen von 'Nazis' mit hierarchietreuen Methoden in Form von Lästern und Diffamieren eigentlich sogar wieder das Negative an der Gesellschaft hervorbringt die wir doch eigentlich ablehnen und ebenso bekämpfen sollten."
Abgesehen von diesem szeneinternen Dilemma steuern Autonome mit "Nazi-Outings" auf ein weiteres moralisches Problem zu, denn sie versuchen mit massiven Eingriffen in die Freiheitsrechte anderer (die eigene) politische Freiheit durchzusetzen. Daher müssen sie sich den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen; ein Vorwurf, der die Szene aufgrund ihres hypermoralischen Gebärdens ins Mark treffen würde. Dieser Vorwurf lässt sich aus ihrer Sicht allerdings vermeiden, indem sie Rechtsextremisten Grund- und Menschenrechte mit der Begründung absprechen, Faschismus sei ein Verbrechen und keine Meinung. Beides schließt sich jedoch nicht aus. Damit taucht das nächste Problem auf. Das rechtliche Problem: Auch wer denkt, Menschenrechte würden – mit welcher Begründung auch immer – nicht für alle gleichermaßen gelten, ist in seinem Handeln an die Regeln des demokratischen Verfassungsstaates gebunden (positives Recht). Nicht zuletzt genießt er selbst diese Rechte unabhängig von seinem Politik- und Gesellschaftsverständnis. Außerdem: Selbst wenn "Nazi-Outings" ein probates Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremismus wären, ist damit eine Grenze überschritten, die die Verfassungsväter und ‑mütter aus gutem Grund zum Schutz des Einzelnen gezogen haben – ganz gleich, wie verabscheuungswürdig dessen Ideologie sein mag (überpositives Recht). Der Zweck heiligt in einem demokratischen Verfassungsstaat eben niemals die Mittel. "Antifaschist_Innen", die nicht bereit sind, diese Prinzipien anzuerkennen, dürfen sich nicht wundern, zum Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes oder Angeklagte in einem Strafrechtsprozess zu werden. Wohin Selbstjustiz im Namen der vermeintlich guten Sache führen kann, verdeutlichen – wenngleich auf einem anderen qualitativen Niveau – die Morde der RAF.
Das demokratietheoretische Problem: Selbst wenn Autonome den "Schlaf der Gerechten" genießen, weil sie sich im moralischen Recht wähnen, kann ihr Verhalten den Rechtsextremismus stärken: Im Gegensatz zu vielen Aussteigerprogrammen geht es ihnen nicht um die Bekämpfung des Rechtsextremismus als Ideologie und um die Rückgewinnung von Rechtsextremisten ins demokratische Lager, sondern um den möglichst hohen Schaden für den Einzelnen.
Damit riskieren sie dreierlei: Wer einzelne Mitglieder einer verschworenen "Nazi"‑Clique öffentlich bloßzustellen versucht, bewegt die anderen Gruppenmitglieder nicht zu Beifall, sondern trägt in der Regel zur Verfestigung der sozialen Strukturen (in rechtsautonomen Kreisen, in nationalistischen Parteien und Kameradschaften) und der menschenverachtenden Ideologie in den Köpfen bei, weil er das Feindbild "Zecke" nährt und so den Gruppenzusammenhalt stärkt. "Schlachten" und "Feinde" schweißen eben nicht nur am linken Rand zusammen.
Daneben mindert ein solches Outing vermutlich die Chancen auf einen Ausstieg des Geouteten aus dem Rechtsextremismus: Dass jemand dem rechten Rand den Rücken zukehrt und sich der demokratischen Mitte nach solch einer Aktion zuwendet, erscheint angesichts der öffentlichen Demütigung, die ihm widerfuhr, unwahrscheinlich. Dass er sich in die Rolle des heroischen Außenseiters im Mainstream ("Fels in der Brandung") einfindet und sich seiner vertrauten Gruppe zuwendet, die ihm Orientierung, Sicherheit und Selbstwertgefühl spendet, mag realistischer sein.
Schließlich provozieren "Nazi-Outings" Akte der Rache. Der Angriff auf "Nazi-leaks.net" von rechten Hackern verdeutlicht die Verhärtung der Fronten im Netz. Zur Deeskalation der Gewalt im "analogen Leben" tragen Outings ebenfalls nicht bei. Wer als selbsternannter Aufklärer einzelne Rechtsextremisten vor seiner Umwelt bloßzustellen versucht, mag sein Ziel erreichen – allerdings zum Preis verstärkter ideologischer Durchdringung am rechten Rand und (vermutlich) steigender Konfrontationsgewalt.
Abschließende Bewertung
Mit Aussagen wie "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen" kann man seine Empörung gegen Rechtsextremismus öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck bringen – hilfreich in seiner Bekämpfung sind sie nicht. Wer "Nazi-Outings" durchführt oder befürwortet, weil sie ihm kurzfristig Genugtuung über die Diffamierung des bloßgestellten "Nazis" verschaffen, verkennt die Probleme und Gefahren: Er sollte sich fragen, wie er reagierte, wenn eine Gruppe "Autonomer Antifaschist_Innen" vor seiner Wohnung oder seinem Arbeitsplatz skandierte, er sei ein "Faschist" oder "Nazi" – weil sie sich in der Adresse geirrt haben oder missliebige politische Positionen dem Faschismus zurechnen.
Die Linksextremisten, die "Nazi-Outings" durchführen, müssen sich dem Vorwurf der Beliebigkeit stellen, denn häufig mangelt es an Belegen für Rechtsextremismus, die Grenze zur Verleumdung wird zum Teil überschritten. Daneben messen sie mit zweierlei Maß: mehr Freiheit für autonome Zentren: ja; persönliche und rechtlich verbriefte Freiheitsrechte für andere: nein. Wer mit der politischen Gesinnung argumentiert, landet schnell bei Rechtfertigungsreden, die der Staatsicherheit in der DDR und dem "Archipel Gulag" in der Sowjetunion Geltung verschafften.
Außerdem scheint "Nazi-Outing" ungeeignet, Rechtsextremismus in der Gesellschaft zu bekämpfen. Wahrscheinlich ziehen sich die Geouteten in ihre Peergroup zurück, die rechtsextremen Gruppierungen rücken – bestärkt in ihrer negativen Erfahrung mit den "Antifaschist_Innen" – näher zusammen und sehen sich in ihrer menschenverachtenden Ideologie bestätigt. Ein Nachlassen der Konfrontationsgewalt zwischen Links und Rechts: unwahrscheinlich. Die Inkaufnahme der Gewalteskalation und einer gruppensozialen wie ideologischen Verfestigung des Rechtsextremismus zugunsten eines selbstgerechten Triumphs über den einen oder anderen bloßgestellten "Nazi" handelt Autonomen den Vorwurf ein, sie seien "gar nicht daran interessiert, dass die andere Variante des Extremismus, die sie bekämpfen, gänzlich von der Bildfläche verschwindet."
Doch selbst wenn "Nazi-Outings" Ausstiege aus dem Rechtsextremismus beförderten: Der Zweck heiligt die Mittel nicht. Der Schutz des Individuums ist – ungeachtet der politischen Orientierung – eine historisch erkämpfte Errungenschaft des demokratischen Verfassungsstaats. "Nazi-Outings" sind Ausdruck eines ideologisch motivierten Hasses und Instrument zur Stabilisierung der linksextremistischen Szene, kein Element der wehrhaften Demokratie.