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Dschihadismus

Univ.-Prof. Dr. Rüdiger Lohlker Rüdiger Lohlker

/ 6 Minuten zu lesen

Mit dem Begriff Dschihadismus ist nichts so verbunden wie al Qaida. Im Gegensatz zu national gebundenen Gruppen wie Hamas oder Hisbollah agiert das Netzwerk transnational. Und verfolgt eine globale Agenda.

Aiman al-Zawahiri und Osama bin Laden. (© AP)

Seit dem 11. September 2001 ist unter dem Label al-Qaida die Präsenz eines Netzwerkes und einer Subkultur des gewaltsamen Dschihad global ins Bewusstsein gerückt. Mit dem Tod Osama bin Ladens im Mai 2011 wurde der Eindruck aktualisiert. Wegen ihrer Fixierung auf den gewaltsamen Dschihad können wir diese Strömung als dschihadistisch bezeichnen, was auch Teil ihrer Eigenbezeichnung ist.

Im Gegensatz zu national gebundenen Bewegungen wie der Hamas, der Hisbollah, in Kaschmir oder indonesischen Organisationen, die ebenfalls eine Dschihad-Rhetorik pflegen, ist al-Qaida ein transnationales Phänomen, das sich durch eine globale Agenda auszeichnet. Dies gilt trotz lokaler und regionaler Schwerpunkte der "Franchiseunternehmen" des Labels al-Qaida (z. B. Afghanistan/Pakistan, Jemen, Somalia, Maghreb).

Entstanden ist das Netzwerk und die daraus entstandenen Subkulturen im Umfeld des Kampfes gegen die Rote Armee im Afghanistan der 1980er Jahre. Freiwillige aus arabischen Staaten und anderen Teilen der muslimischen Welt lösten die Grenzen ihrer Herkunftsländer und jeweiligen nationalen Organisationen auf und verschmolzen in einer transnationalen Orientierung. In diesem Verschmelzungsprozess, der auf praktischer Ebene in Ausbildungslagern, aber auch in Pakistan u.a. in Peschawar stattfand, wurden islamische Traditionen neu zusammengesetzt, um als theologische Rechtfertigung für den gewaltsamen Dschihad zu dienen.

Nach dieser anfänglichen afghanischen Phase und parallel dazu globalisierte sich al-Qaida mit einer Orientierung gegen arabische Regime und deren westliche Unterstützung, als deren wesentlicher Repräsentant in der Region Israel identifiziert wurde. Nach 9/11 und dem anbrechenden "War on Terror” war al-Qaida und die dschihadistische Subkultur gezwungen, sich neu zu orientieren. Eine Regionalisierung fand statt, die sich in der Bildung regionaler al-Qaida-Sublabel niederschlug (in Irak, in Saudi-Arabien, im Maghreb). Die arabische Dominanz in den dschihadistischen Subkulturen begann sich aufzulösen, was sich bereits 2002 im Anschlag in Bali zeigte, der von der indonesischen Jemaah Islamiyah organisiert wurde.

Al-Qaida selber orientierte sich auf den Aufbau eines strategischen Hinterlandes in Pakistan, nachdem das Islamischen Emirat Afghanistan zerschlagen war und die Herrschaft der Taliban geendet hatte.. In Pakistan entstanden im Laufe mehrere Jahre eine eigene dschihadistische Landschaft von Basen und Bewegungen geschaffen. Der pakistanischen Armee und den pakistanischen Geheimdiensten fiel es zunehmend schwerer, diese zu kontrollieren.. Auch im Jemen und in Somalia entstanden neue Schwerpunkte für den globalen Dschihad. Andere Regionen wie der Kaukasus mit seiner spezifischen Mischung aus Dschihadismus, regionaler Gewalttradition und Kriminalität, sind in diesem Kontext eher zweitrangig. Man kann diese Entwicklung als realisierte Globalisierung des Dschihadismus beschreiben, die sich zumindest partiell von der arabischen Dominanz befreit. Deshalb hat der Tod Osama bin Ladens in diesem Zusammenhang keine überragende Bedeutung mehr.

Die Wege, die zu einer Radikalisierung in Gewalt hinein führen, sind so unterschiedlich wie die Biografien der Dschihadisten Einfache Erklärungen wie Diskriminierung oder Unterprivilegierung greifen sicher nicht. Biografien von Dschihadisten zeigen ein komplexes Zusammenwirken von persönlichen Krisen, dschihadistischen Netzwerken und propagierten Ideen. In den letzten Jahren sind immer wieder Fälle bekannt geworden, in denen die Propaganda via Internet eine Rolle gespielt hat; Computer-Dschihadisten haben sich immer häufiger in reale Kämpfer gewandelt. In dschihadistischen Radikalisierungsprozessen sind ein panikartiges Gefühl der Bedrohung durch Nicht-Muslime und das Gefühl, Muslim zu sein, oft wichtiger als die Kenntnis islamischer religiöser Vorstellungen. Die dschihadistische Subkultur ist hauptsächlich männlich geprägt, Frauen haben eher eine unterstützende Funktion.

Geografische Schwerpunkte

Der geografische Schwerpunkt des Dschihadismus liegt noch immer in Afghanistan und Pakistan. Al-Qaida gelang es, wichtige pakistanische dschihadistische Strömungen und immer wieder Teile des Nordwestens Pakistans unter ihren Einfluss und ihre Kontrolle zu bringen. Dabei scheinen auch usbekische Kämpfer eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Organisatorisch findet dies in den Tahrik-e Taliban Pakistan seinen Ausdruck. Aber auch andere dschihadistische Organisationen wie die frühere Lashkar-e Taiba orientieren sich zunehmend international.

Nach ihrer Niederlage in Saudi-Arabien 2004/05 hat sich die "Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel” (AQAP) 2009 im Jemen neu konstituiert und im Laufe der diesjährigen Revolten auch einige territoriale Erfolge erzielen können wie die Kontrolle von Häfen oder einen Angriff auf Aden. Zugleich propagiert sie eine internationale Strategie, die als Abnutzungsstrategie gegen die USA konzipiert wurde. Die US-Streitkräfte sollen durch ständige Beanspruchung so belastet werden, dass sie auf die vervielfältigte Bedrohung nicht mehr reagieren können. Zugleich sollen die Kosten für das Militärbudget die USA in eine Krise stürzen. Inspirator dieser strategischen Neuorientierung dürfte der US-stämmige Ideologe Anwar al-Awlaki sein.

Die "Al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQIM) hat über längere Zeit durch Entführungen, kleinere Anschläge z.B. in Mauretanien, Mali oder größere in Marokko 2003 oder in Algerien auf sich aufmerksam gemacht. Im Bürgerkrieg in Libyen kommen immer wieder Berichte über dschihadistische Kämpfer und den Transport von Waffen zu AQIM auf. Die Jemaah Islamiyah ist weiterhin auf niedrigerem Level aktiv; auch in den Südphilippinen finden weiter Aktionen statt. Der Konflikt in Südthailand wird häufig als von Dschihadisten beeinflusst gedeutet, was bezweifelt werden kann.

Seit den 1990er Jahren wurde von Vertretern einer weißen Suprematie in den USA, einer rechtsextremen Strömung, die die Oberherrschaft der 'weißen Rasse' verficht, das Konzept eines "lone wolf”-Aktivismus propagiert, die Durchführung von Operationen durch Einzelpersonen ohne Gruppenzugehörigkeit. Solche Operationen wurden von Personen unterschiedlicher Ausrichtung durchgeführt. In den letzten Jahren kam es auch zu mehreren dschihadistischen Anschlägen dieser Art (Frankfurt a.M. 2011, Stockholm 2010, Fort Hood 2009). Allerdings zeigen Untersuchungen nach der Tat, dass die Attentäter in einschlägige Netzwerke eingebunden waren.

Hausgemachter Terrorismus in Europa

Mit den Anschlägen von Madrid vom 11. März 2004 und London am 7. Juli 2005 ist in europäischen Gesellschaften das Bewusstsein gewachsen, dass auch in Europa eine reale Gefährdung durch dschihadistische Anschläge gegeben ist. Trotz der geringen Zahl solcher Anschläge wächst diese Gefährdung, die aber nicht überschätzt werden sollte. Auch Einzeltäter sind aktiv geworden (s.o.).

"Hausgemachter Terrorismus" bezeichnet eine Form des Terrorismus, die nicht mehr hauptsächlich von einreisenden (9/11) oder immigrierten (Madrid 2004) Personen getragen wird. Vielmehr sind im Lande geborene Personen immer mehr in den Vordergrund getreten (London 2005). Dies zeigt sich auch bei verhinderten Anschlägen wie dem der Sauerland-Gruppe (2007) in Deutschland.

Eine neuere Entwicklung ist die zunehmende reale Globalisierung des Dschihadismus auch in Europa und in Nordamerika. Dschihadistische Gruppen haben eine mehr und mehr ethnisch diverse Zusammensetzung, die sich in Europa in einer größeren Rolle türkischstämmiger Dschihadisten zeigt. Die Rolle arabischer Dschihadisten ist kleiner geworden, dadurch sinkt auch das Niveau der Arabischkenntnisse, was wiederum eine linguistische Differenzierung der Propaganda auch via Internet mit sich bringt.

Einzelne Dschihadisten oder kleinere Gruppen reisen immer wieder in die Schwerpunktregionen des Dschihadismus, um dort eine Ausbildung zu erhalten oder an Operationen teilzunehmen, z. B. gegen die Bundeswehr in Afghanistan. Die Radikalisierung zur Gewalt findet teilweise in einem hohen Tempo statt und wird auch immer wieder über das Internet eingeleitet.

Anti-Terror-Strategie

Es sind verschiedene Wege beschritten worden, um dschihadistischen Terrorismus zu bekämpfen. Von muslimischer Seite hat es zahlreiche Erklärungen gegen Terrorismus gegeben. Einzelne Staaten wie Saudi-Arabien oder Singapur haben Programme aufgelegt, die eine religiöse Kritik an dschihadistischen Vorstellungen mit sozialer Eingliederung und Fürsorge für das familiäre Umfeld verbinden. Andere Projekte gibt es in Indonesien, im Jemen wurde eine Dialog-Initiative beendet.

Eine Publikation aus den USA nennt einige Punkte, die für die Eindämmung dschihadistischer Bedrohungen nützlich sind: Vertrauen und Engagement der muslimischen Gemeinschaften, Tipps von Verwandten und Bekannten sich radikalisierender Personen, aufmerksame Bürger und Bürgerinnen und eine konzentrierte Informationsgewinnung durch die Sicherheitsbehörden. Da Radikalisierung in die Gewalt hinein jeweils individuell stattfindet, bildet die Informationen durch Menschen eine wichtige Rolle. Dazu kommt eine unaufgeregte öffentliche Behandlung des Themas und die Entwicklung von Gegenstrategien, die auch das Internet einschließen.

Für die Radikalisierung in Gewalt hinein spielen leicht feststellbare double standards der westlichen Welt gegenüber eine große Rolle: Unterstützung von autoritären Regimes oder Skandale wie Abu Ghraib, das Lager in Guantánamo u.a. In diese Hinsicht sind die jüngsten Revolutionen in der arabischen Welt bei all ihren Problemen die effektivste antiterroristische Maßnahme seit Jahren gewesen. Bezeichnend ist, dass von dschihadistischer Seite zu Tunesien und Ägypten erst mit reichlicher Verspätung Stellungnahmen publiziert wurden; Libyen wurde dagegen ausführlicher und schneller kommentiert. Eine wirkliche Demokratisierung wäre wohl ein wichtiger Schritt. Dass das dschihadistische Problem nicht auf al-Qaida beschränkt ist, zeigen positive Einschätzungen von al-Qaida durch den Attentäter von Oslo und Utøya 2011.

Literatur

Jenkins (2010), Brian Michael, Would-Be Warriors: Incidents of Jihadist Terrorist Radicalization in the United States since September 11, 2001 (über http://www.rand.org/)

Lohlker (2009), Rüdiger, Dschihadismus. Materialien, Wien: facultas/wuv

Lohlker (2011), Rüdiger (Hg.), Studying Jihadism, Göttingen: Vienna University Press (i.Dr.)

Marranci (2006), Gabriele, Jihad beyond Islam, Oxford/New York: Berg

Shahzad (2011), Syed Saleem, Inside al-Qaeda and the Taliban. Beyond Bin Laden and 9/11, London: Pluto Press

Steinberg (2009), Guido, Im Visier von al-Qaida. Deutschland braucht eine Anti-Terror-Strategie, Hamburg: Edition Körber-Stiftung

http://www.jihadica.com

Geb. am 7. Juli 1959, ist seit September 2003 Universitätsprofessor für Orientalistik an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und leitet das Projekt Dschihadismus Online. Es untersucht Onlinepräsenzen der extremistischen transnationalen Strömung des Dschihadismus dahingehend, welche Überzeugungsstrategien auf theologischer, visueller und sprachlicher Ebene angewendet werden, um Anhänger zu motivieren und zu rekrutieren. Externer Link: http://www.univie.ac.at/jihadism/