Mitte des 20. Jahrhunderts formulierten islamische Autoren eine Ideologie, für die im Deutschen die Begriffe "Islamismus" und "islamischer Fundamentalismus" verwendet werden. Fundamentalismus ist insofern ein problematischer Begriff, als er im christlichen Kontext die theologische Position bezeichnet, wonach die Heilige Schrift wörtlich verstanden werden müsse. Der relevante Aspekt des Islamismus ist jedoch, dass es sich um eine Herrschaftstheorie handelt, wenngleich seine Wortführer in theologischen Fragen durchaus "Fundamentalisten" sind.
Beim Islamismus handelt es sich um eine Ideologie, die in der Auseinandersetzung mit westlichen Weltanschauungen formuliert wurde. Deshalb charakterisiert ihn eine Mischung von Elementen, die seit Jahrhunderten im islamischen Denken verankert sind und Importen aus westlichen Weltanschauungen. Dass das islamische Recht auch mit Hilfe der staatlichen Institutionen durchzusetzen sei, ist eine althergebrachte Auffassung. Gleiches gilt für das Bestreben, durch jihād den Herrschaftsbereich des Islam auszuweiten. Die antisemitischen Verschwörungstheorien gehen dagegen auf europäische Vorbilder zurück. Ideen wie die Begründung einer islamischen Ökonomie oder einer islamischen Wissenschaft sind auf das Bestreben zurückzuführen, westlichen Ideologien Gleichwertiges entgegenzusetzen.
Wegen dieser eigentümlichen Mischung ist der Islamismus gegenüber folgenden politischen Bewegungen und Strömungen abzugrenzen, wenngleich die Übergänge fließend sind:
Radikalen traditionalistischen Bewegungen wie den Taliban und ihren Verbündeten in Pakistan sowie den wahhabitischen Opposition in Saudi- Arabien.
Konservativen Reformbewegungen, die entweder apolitisch ausgerichtet sind wie die indo-pakistanische Missionsbewegung Tablīghī Jamā´at, oder Bündnisse mit konservativen politischen Kräften schließen wie die Nurcus in der Türkei.
Konservativen Gelehrten in den staatlichen religiösen Lehranstalten, die, wenngleich sie in Fragen mit den Islamisten übereinstimmen, das politische Herrschaftssystem nicht infrage stellen.
Versuchen, durch die Präsentation in entsprechender Terminologie sozialistische Politik als "linken" Islam zu verkaufen.
Von der Entwicklung in der Türkei wird abhängen, ob dieser Liste in näherer Zukunft eine fünfte Rubrik hinzugefügt werden muss: ein politisch aktiver konservativer Islam, der sich in das parlamentarische System integriert.
Entstehung und Erscheinungsformen
Der Islamismus im engeren Sinne entstand um 1930 unabhängig in zwei verschiedenen Regionen. In Ägypten gründete 1928 der Lehrer Hasan al-Bannā´ (1906 – 1949) die Vereinigung der Muslimbrüder. Sie war zunächst als karitative Organisation konzipiert, entwickelte sich aber zu einer hierarchischen Massenpartei, die Zellen im gesamten Land unterhielt und in die arabischen Nachbarländer expandierte. Als Theoretiker taten sich die frühen Muslimbrüder nicht hervor. Abgesehen von der Förderung der islamischen Moralität und der Abschaffung der "Parteienwirtschaft" forderten sie wirtschaftliche Autarkie, die Förderung des einheimischen Gewerbes und die Verstaatlichung der Bodenschätze.
Der zweite Begründer des Islamismus profilierte sich hingegen primär als Theoretiker. Sayyid Abu l-Alā Maudūdī (1903 – 1979), der einer verarmten Familie der nordindischen muslimischen Aristokratie entstammte, formulierte in den 1930er Jahren die politische Theorie, wonach allein Gott legitimer Gesetzgeber sei. Deswegen müssten alle menschengemachten Ordnungen als "neues Heidentum" verworfen werden. Gleichwohl weisen seine Konzepte unverkennbar Einflüsse westlicher totalitärer Ideologien auf. Am Faschismus bewunderte er die Absicht, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu finden, der Kommunismus imponierte ihm, weil der Staat ganz in den Dienst einer politischen Ideologie gestellt wird. 1941 gründete er die am leninistischen Vorbild ausgerichtete Kaderpartei Jamāat-i islami (Islamische Gemeinschaft). In Pakistan, wohin Maudūdī 1947 übersiedelte, blieb sie eine kleine, wenngleich überproportional einflussreiche Partei.
Ende der 1940er Jahre wurden Maudūdīs Ideen in Ägypten bekannt. Sie beeinflussten den jungen Literaten Sayyid Qutb (1906 – 1966), der nach dem Putsch der Freien Offiziere um Nasser 1952 zunächst als Mittelsmann zwischen ihnen und den Muslimbrüdern fungierte. Als sich die Freien Offiziere dem Sozialismus zuwandten, kam es jedoch zum Bruch zwischen beiden Bewegungen, und die Muslimbrüder wurden verfolgt. In der Haft vor seiner Hinrichtung verfasste Sayyid Qutb mehrere Abhandlungen, in denen er darlegt, dass die Muslime verpflichtet seien, gegen die gottlosen, menschengemachten Ordnungen zu revoltieren. Diese Idee wurde in Ägypten während der 1970er Jahre von mehreren radikalen Gruppierungen aufgegriffen. Während sich die Muslimbrüder gegen eine gewaltsame Machtübernahme aussprachen und versuchten, durch eine Islamisierung der Gesellschaft von unten langfristig einen islamischen Staat zu errichten, führten diese Gruppierungen Attentate auf Christen, Touristen und Repräsentanten des Staates vom einfachen Polizisten bis zum Staatspräsidenten Sadat aus. Neben den Vertretern des radikalen Wahhābismus aus Saudi-Arabien bilden sie heute ein Hauptelement von al-Qā´ida, in der einer ihrer Führer, Aiman az-Zawāhirī, als Cheftheoretikers fungiert.
Der schiitische Islamismus in Iran knüpft an spezifisch schiitische Vorstellungen an. Nach Auffassung der Schiiten ist der einzige legitime Herrscher der zwölfte Imam, ein angeblich "entrückter" Nachfahr Muhammads. Da jedoch auch in dessen Abwesenheit die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten werden musste, wurde nach traditioneller schiitischer Theorie die Rechtssprechung den Gelehrten und die Exekutivgewalt den weltlichen Herrschern übertragen. In dem von Āyatullāh Khumainī (1902 – 1989) formulierten Konzept der stellvertretenden Herrschaft des Rechtsgelehrten (wilāyat al-faqīh), wird auch die Exekutivgewalt an dafür qualifizierte Gelehrte übertragen. Er selbst übernahm nach der erfolgreichen Revolution 1979 diese Funktion, seit seinem Tod füllt sie ein Wächterrat aus, der über Parlament und Regierung steht.
In der Türkei entwickelte sich der Islamismus ebenfalls eigenständig. Während anderorts Islamisten den Sufismus ablehnen, ist die islamistische Bewegung in der Türkei eng mit dem unter Atatürk verbotenen Nakşibendi-Orden verbunden. Mit Unterstützung führender Ordensführer gründete Necmettin Erbakan 1970 die Partei der Nationalen Ordnung, die mehrfach nach Verboten unter anderem Namen neu gegründet wurde. Doch es gelang den Islamisten in der Türkei nicht, die religiöse Opposition gegen das säkulare System zu monopolisieren, da mehrere religiöse Bewegungen sich dem ideologischen Anspruch des Staates entzogen, dabei jedoch Parteien der rechten Mitte unterstützten. 1994 wurde Erbakans Wohlfahrtspartei stärkste Partei und konnte mit der Partei des Rechten Weges eine Koalition eingehen. Auf Druck des Militärs musste diese Regierung jedoch 1997 aufgeben. Daraufhin spaltete sich der größere Teil der Mitglieder ab und gründete die AKP, deren Führung um Tayyip Erdoğan pragmatisch und unideologisch auftritt.
Islamismus in Europa
Islamistische Strömungen gelangten auf zwei Wegen nach Europa. Zum einen entzogen sich bekannte Muslimbrüder der Verfolgung in Ägypten und Syrien dadurch, dass sie in Europa Asyl suchten. Sie spielten eine führende Rolle bei der Organisation islamistischer Netzwerke. Zum anderen waren Islamisten unter Arbeitsmigranten und Studenten vertreten. Die meisten von ihnen gehören zu Organisationen, die eng mit in den Herkunftsländern aktiven Bewegungen verbunden sind. Gerade unter jüngeren und gebildeteren, sowie bei Konvertiten finden transnational ausgerichtete Organisationen wie die Hizb at-Tahrir (Befreiungspartei) Anhänger (Taji-Farouqi).
Islamismus und demokratische Verfassung
Aus zwei Gründen ist der Islamismus kaum mit dem demokratischen Verfassungsstaat in Einklang zu bringen. Der alleinige Geltungsanspruch des "göttlichen" Rechts widerspricht dem Prinzip der Volkssouveränität wie auch dem Gedanken, dass Entscheidungen des Gesetzgebers revidiert werden können. Die Anwendung dieses Rechts wiederum impliziert eine Diskriminierung von Frauen und Nichtmuslimen, sowie, dass Muslimen bei Androhung der Todesstrafe die Abkehr vom Islam verboten ist.
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