Was müssen Lehrkräfte unternehmen, wenn sie Kenntnis davon erhalten, dass ein Schüler auf dem Smartphone ein mutmaßliches Propagandavideo des "Islamischen Staates" gesehen hat? Müssen sie gleich die Polizei informieren oder ist sogar der Verfassungsschutz in einem solchen Fall der bessere Ansprechpartner? Oder sollten Lehrkräfte erst das persönliche Gespräch mit dem Schüler suchen? Wie ist überhaupt die Rechtslage und ist eine Lehrkraft zur Meldung verpflichtet? Diese und andere Fragen stellten sich in den vergangenen vier Jahren immer wieder Lehrkräfte, die mit dschihadistischem Propagandamaterial in Kontakt kamen. Die Ratlosigkeit in solchen Angelegenheiten war mitunter groß. Dschihadistische Propaganda in schulischen Kontexten hatte es bis 2014 faktisch kaum gegeben. Folglich gab es auch wenige Erfahrungen oder probate Verfahrensweisen für solche Fälle.
Der Umgang mit jungen Menschen, die Gefahr laufen sich zu radikalisieren oder die bereits erste Anzeichen einer Radikalisierung aufweisen, stellt die Schule, aber auch Teile der Jugendhilfe wie die Schulsozialarbeit vor neue Herausforderungen.
Wie wird man radikal?
Das erste Problem stellt sich bereits bei der Beurteilung des Phänomens. Was ist unter Radikalisierung zu verstehen, wie verlaufen Radikalisierungsprozesse und welche Faktoren spielen darin eine Rolle?
Die derzeitige Forschung bietet eine Vielzahl von Modellen. Der amerikanische Psychologe Randy Borum
Doch damit ist noch längst nicht erklärt, wie junge Menschen zu Dschihadisten werden bzw. welche Faktoren im Prozessgeschehen eine Rolle spielen. Genau hier wird es kompliziert. Nach Lage der Dinge muss von einer Vielfalt der Wege ausgegangen werden und dabei spielen viele Faktoren eine Rolle. In der Forschung spricht man daher von multifaktoriell beeinflussten Prozessen. Zu den Faktoren gerechnet werden unter anderem:
Attraktivitätsmomente der salafistischen Ideologie,
jugendphasentypische Aspekte,
Krisenerfahrungen,
Diskriminierungserfahrungen,
objektive Konfliktlagen,
Gruppeninteraktionen und schließlich
die Religion.
Ist eine Prävention gegen Radikalisierung möglich?
Mittlerweile ist der Widerstand bei Verantwortlichen in Bund und Ländern geringer geworden, wenn man darauf hinweist, dass mit repressiven Mitteln alleine eine Abwehr von Radikalisierung und daraus resultierender Gewaltbereitschaft nicht möglich ist. Daher lautet das neue Credo: Wir brauchen eine hochwirksame Radikalisierungsprävention. Wie alle Präventionskonzepte folgt die Radikalisierungsprävention dem Handlungsprinzip, dass man einem für negativ befundenen Ereignis beziehungsweise einer negativen Entwicklung mit Gegenmaßnahmen zuvorkommen müsse. Konkret bedeutet dies: Radikalisierungsprävention soll Problemlagen frühzeitig identifizieren, kritisch einschätzen und angemessene Maßnahmen ergreifen. In Anlehnung an den Psychiater Gerald Kaplan
Primäre oder auch universelle Radikalisierungsprävention
Maßnahmen in diesem Bereich weisen keine Zielgruppenspezifik auf. Sie richten an alle gesellschaftlichen Gruppen. In einer Schule wären dies z. B. alle Schülerinnen und Schüler. Primäre oder universelle Prävention ist ressourcenorientiert und generiert Schutzfaktoren. Es geht unter anderem um Empowerment und Wissensvermittlung. In diesen Bereich fällt z. B. die Arbeit von Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, die mit Thementagen, Ausstellungen und Projekten sich jeweils an die gesamte Schülerschaft wenden. Sekundäre oder auch selektive Prävention
Maßnahmen in diesem Handlungsfeld wenden sich an Risikogruppen oder Menschen, die bereits erste Anzeichen einer Radikalisierung aufweisen. Ziel ist die Verhinderung negativer Ereignisse oder die Unterbrechung von Prozessen, die Radikalisierung begünstigen. Im Bereich der sekundären Prävention arbeitet das "Wegweiser"-Programm in NRW. Die "Wegweiser" – Standorte bieten unter anderem Beratung für Angehörige von radikalisierten Personen an. Tertiäre oder auch indizierte Prävention
Hier richten sich Maßnahmen oder auch Interventionen an Menschen, die bereits manifeste Problemlagen aufweisen. Dies sind z. B. Personen, die wegen Straftaten verurteilt wurden. Ein wichtiges Ziel in diesem Bereich ist die Verhinderung neuer Straftaten und die langfristige Verhinderung von Delinquenz.In den Bereich der tertiären oder auch indizierten Prävention fallen auch Deradikalisierungsmaßnahmen. Hierzu zählen z. B. Programme zur Demobilisierung und Deradikalisierung von inhaftierten Gewalttätern.
Schule und Radikalisierungsprävention
Zunächst kann festgestellt werden, dass die Lebenswelt Schule den mit Abstand wichtigsten gesellschaftlichen Präventionsort darstellt. Die Schule erreicht als einzige staatliche Institution alle jungen Menschen zwischen dem 6. und 18. Lebensjahr. Durch die sukzessive Einführung des Ganztags verbringen Schülerinnen und Schüler an vielen Lernorten im Durchschnitt mehr als acht Stunden pro Tag. Im Laufe des schulischen Alltags kommen die Schülerinnen und Schüler mit einer Vielzahl von professionellen pädagogischen Akteuren, darunter Lehrkräfte, Bildungsanbieter und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, zusammen. Diese Akteure vermitteln vielfältige Kenntnisse, Kompetenzen und leisten Hilfestellungen in der Persönlichkeitsentwicklung. Ausgehend von dieser Beschreibung sind die Regelakteure der Schule zugleich die wichtigsten Präventionsakteure.
Zu betonen ist in diesem Zusammenhang jedoch auch, dass angesichts der vielfältigen Aufgaben, die heute Lehrkräfte wahrnehmen müssen, der Umgang mit auffälligen Schülerinnen und Schülern nur dann gelingen kann, wenn ausreichend (personelle) Ressourcen vorhanden sind und die Schule über ein möglichst ganzheitliches Präventionskonzept verfügt.
Voraussetzungen einer erfolgreichen schulischen Radikalisierungsprävention
Wie jede Prävention muss auch die schulische Radikalisierungsprävention, die in die konkrete Fallarbeit einmünden kann, wissensbasiert sein und verlangt daher einen Dreiklang an Informationen.
Hierzu zählt Wissen:
"über drohende Ereignisse"
(Was kann geschehen? Welche Ereignisse können eintreten? Wo können Ereignisse eintreten?)
"über die bedingenden Faktoren"
(Wie verläuft Radikalisierung? Welche Faktoren spielen eine Rolle? Wie wirken die Faktoren zusammen?) und
"über Ansatzpunkte und Gegenstrategien"
(Exakter Präventionsbegriff, klare Präventionsziele, Strategien für die verschiedenen Handlungsfelder, Methoden der Präventionsarbeit)
Auf der Grundlage dieses Dreiklangs können die inhaltlichen und strukturellen Eckpunkte eines schulischen Präventionskonzepts aufgebaut werden, das im Kern vier Komponenten umfassen sollte.
Eckpunkte eines schulischen Präventionskonzepts
1. Gemeinsamer Präventionsbegriff und Zielsetzungen
Von zentraler Bedeutung ist zunächst ein gemeinsamer Präventionsbegriff. Es geht hier wesentlich um die Frage, was verhindert werden soll und welche Phänomene als problematisch eingeschätzt werden. Bereits die Beantwortung dieser Frage kann in einem großen Kollegium eine Herausforderung darstellen. Denn es geht hier auch immer um die Frage, was „normale“ Religiosität ist und was problematische Abweichung. Beispiel: Der einer Frau verweigerte Handschlag bei der Begrüßung mag den einen als Ausdruck einer frommen Gesinnung erscheinen, andere vermuten bereits eine islamistische Gesinnung und fordern zur Wachsamkeit auf. Im Idealfall gibt es einen abgewogenen und zugleich konturierten Präventionsbegriff, der im Konsens getragen wird.
Eine weitere wichtige Prämisse stellen reflektierte und gemeinsam getragene Zielsetzungen dar. Gerade in der Schule ist dies von sehr großer Bedeutung, denn in der Radikalisierungsprävention drohen massive Zielkonflikte.
Beispiel: Ein junger Mann zeigt sich seit geraumer Zeit sehr auffällig im Unterricht. Er vertritt dort immer wieder konfrontativ Positionen zum „richtigen“ islamischen Verhalten. Teile der Lehrkräfte und einige Mitschülerinnen und Mitschüler sind bereits entnervt. Phasenweise ist kein normaler Unterricht möglich. Schließlich kommt es auf dem Schulhof zu einer Rangelei, die durch Provokationen des jungen Mannes ausgelöst wurden. Es kommt zu einer Fallkonferenz. Der Bildungsgangleiter fordert die Ausschulung, da nur auf diesem Wege der gebotene Schutz anderer Schülerinnen und Schüler zu garantieren sei. Die Schulsozialarbeit beharrt aber auf einen Verbleib des Schülers, da nur durch eine weitere Beschulung das Abgleiten des Schülers in die salafistische Szene verhindert werden kann. Beide Positionen sind nachvollziehbar und legitim. Sie schließen sich aber gegenseitig aus.
2. Handlungsstruktur und Prozesssteuerung
Fälle von Radikalisierung können im schulischen Kontext wirksam bearbeitet werden, wenn es eine etablierte und belastbare Beratungsstruktur gibt, die allen schulischen Akteuren bekannt ist. Ein wichtiger Bestandteil dieser Struktur sind verbindliche Melde- und Kommunikationsabläufe, die dafür Sorge tragen, dass Informationen über Vorfälle an die zuständigen Fachkräfte gelangen. Ferner ist eine personalisierte Prozesssteuerung erforderlich. Diese ist für die Maßnahmen, den Interventionsverlauf und eine gegebenenfalls notwendige Umsteuerung verantwortlich.
3. Rechtliche Grundlagen, Methoden und Qualität
Neben den aufgeführten Strukturen benötigt der pädagogische Umgang mit Phänomenen der Radikalisierung auch eine solide rechtliche Grundlage. Gerade hier bestehen häufig große Wissenslücken, die zu Fehlentscheidungen führen können.
Beispiel: In den vergangenen drei Jahren gab es Fälle, in denen Lehrkräfte auf der Grundlage vager Anschuldigungen Schülerinnen und Schüler beim Staatsschutz gemeldet haben. Die nachfolgende polizeiliche Prüfung zeigte nicht selten, dass die Anschuldigungen gegenstandslos waren.
Um negative Markierungen oder gar Stigmatisierungen von Schülerinnen und Schülern zu vermeiden, ist es sehr wichtig, dass Hinweise, die z. B. durch problematische Verhaltensveränderungen gegeben sein können, im Mehraugenprinzip zunächst in einem schulischen Clearing geprüft werden. Hierbei sollten zwingend sachkundige Personen hinzugezogen werden, die mit der Rechtslage, die unter anderem durch den § 138 StGB gegeben ist und aus ihr resultierenden Meldeerfordernissen vertraut sind.
Wünschenswert sind darüber hinaus solide Kenntnisse über Interventionsmethoden und mitunter notwendigen Schutzmaßnahmen. Vielversprechend ist in diesem Kontext z. B. das von Haim Omer entwickelte Konzept der „wachsamen Sorge“.
Der schwächste Grad ist von einer offenen Aufmerksamkeit geprägt. Pädagogen zeigen durch ihre Präsenz Interesse und Aufmerksamkeit für die Schülerinnen und Schüler ohne zu beobachten.
Im zweiten Grad setzt die fokussierte Aufmerksamkeit ein. Schülerinnen und Schüler werden bei Auffälligkeiten gezielt befragt. Sofern es notwendig erscheint, werden bereits kleinere Ankündigungen gemacht (z. B. Mitteilung an Kollegen oder Eltern).
Der höchste Grad der wachsamen Sorge bilden einseitige (Schutz-) Maßnahmen (siehe weiter unten im Beitrag). Diese Maßnahmen, die nicht von der Zustimmung der Schülerin oder des Schülers abhängen, sollen sie oder ihn beschützen und aus dem problematischen Sachverhalt herauslösen.
4. Unterstützungssystem mit Beteiligung aller relevanten Akteure
Die Implementierung einer Beratungs- und Clearingstruktur im schulischen Zusammenhang erfordert schließlich ein Unterstützungssystem. Dieses ist ausdrücklich nicht ein weiteres schulisches Netzwerksystem, das durch einfache Kooperationsbeziehungen gekennzeichnet ist. Vielmehr handelt es sich um ein Team, das aktiv und gemeinschaftlich an Lösungen arbeitet. Diesem Team gehören im Idealfall
alle relevanten Lehrkräfte,
die Schulsozialarbeit,
die Eltern und
weitere relevante Personen aus der Lebenswelt der Schülerin oder des Schülers an.
Das Unterstützungssystem nimmt in der wachsamen Sorge eine wichtige Funktion wahr. Wenn Schülerinnen und Schüler in Gefahr geraten, bietet das Unterstützungssystem Raum für vielfältige Handlungsmöglichkeiten. Darüber hinaus entlastet es bei pädagogischen Interventionen die fallführenden Lehrkräfte oder die Schulsozialarbeit. Ein gut funktionierendes Unterstützungssystem schafft einerseits emotionale Entlastungen und verhindert kontraproduktive Eskalationen, die von der pädagogischen Akteursebene ausgehen können. Andererseits befähigt es die Beteiligten, emotionale Ausbrüche des Kindes oder des Jugendlichen auszuhalten.
Erfolgsmodelle
Wie kann nun im Kontext einer möglichen Gefährdung eine gute Praxis aussehen? In den vorangegangenen Ausführungen wurde deutlich, dass sensibilisierte und souverän agierende pädagogische Fachkräfte den Schülerinnen und Schülern mit einer hohen Präsenz und einer authentischen Aufmerksamkeit begegnen. Diese Haltung bildet eine wichtige Ausgangsbasis für eine mögliche Fallarbeit. Radikalisierungsprozesse sind vielgestaltig und multifaktoriell beeinflusst. Folglich gibt es auch nicht „das“ Prozessmuster von Radikalisierung. Deshalb ist es auch nicht einfach möglich, pädagogischen Fachkräften Indikatorenlisten an die Hand zu geben, auf deren Grundlage eine profunde Beurteilung einer Schülerin oder eines Schülers möglich wäre.
Gespräche und gezielte Fragen
Eine schülerorientierte und von Empathie getragene pädagogische Praxis verzichtet auf solche Instrumente und begegnet Schülerinnen und Schülern mit einer offenen Aufmerksamkeit. Wenn Veränderungen und damit einhergehende Irritationen auftreten, setzt eine fokussierte Aufmerksamkeit ein. Es geht zunächst darum, in Gesprächen gezielt Fragen zu stellen und die Haltungen und Aktivitäten der Schülerin oder des Schülers zu erkunden. Derartige Gespräche haben eine wichtige untersuchende Funktion, da sie z. B. die Motive einer Verhaltensveränderung erkunden. Darüber hinaus zeigen sie zugleich, dass die Gesprächsführenden ihre Beteiligung am Leben des jungen Menschen erhöhen. Die Botschaft lautet: Wir sind hier und wir übernehmen Verantwortung.
Verstärkung der pädagogischen Präsenz
Sollten die Gespräche erfolglos verlaufen bzw. sich herausstellen, dass Befürchtungen begründet sind, gilt es, die pädagogische Präsenz zu verstärken. Dies wäre z. B. der Fall, wenn ein Schüler oder eine Schülerin nicht bereit sind, erwiesenermaßen problematische Szenekontakte einzustellen. Die pädagogischen Fachkräfte und das Unterstützungssystem ergreifen nun einseitige Maßnahmen, die nicht mehr von der Zustimmung der Schülerin oder des Schülers abhängig gemacht werden.
Statt allgemeingültiger Konzepte Einzelfälle betrachten
Bezüglich dieser Maßnahmen gibt es keine fertigen Konzepte. Diese müssen stets individuell auf die jeweilige Problemstellung konzipiert und durchgeführt werden. Wenn wir z. B. Szenekontakte bei einem fünfzehn Jahre alten Schüler unterbrechen wollen, ist zunächst eine sorgfältige Planung erforderlich. Hiernach wird in einem ersten Schritt dem Schüler bekannt gegeben, dass konkrete Maßnahmen ergriffen werden. Im zweiten Schritt beginnt die Umsetzung. Eine Maßnahme kann z. B. darauf hinauslaufen, dass Eltern ihre Präsenz ausdehnen und Szenetreffpunkte aufsuchen. Die Botschaft an den Schüler lautet: Wir sind handlungsfähig und wir zeigen unserer Sorge und unseren Protest. Wichtig ist, sich hier fachlich gut beraten zu lassen und auf spontane Maßnahmen zu verzichten.
Professionelle Fallarbeit
Die konkrete Fallarbeit ist anspruchsvoll, da sie sorgfältig geplant sein muss. Beispiele für eine gelungene Fallarbeit in schulischen Kontexten bietet das Projekt "Clearingverfahren und Case Management: Prävention von gewaltbereitem Neosalafismus und Rechtsextremismus"