Salafiyya ist kein neues Phänomen des Islams. Bereits im neunten Jahrhundert trat Ahmad Ibn Hanbal mit der Forderung auf, die reine Textgläubigkeit zur religiösen Vorgabe zu machen. Dort, wo die Texte nicht offensichtlich genug sind, sollen sie nach dem Verständnis der Salaf/Altvorderen ausgelegt werden. Ibn Hanbals Einstellung war Ausdruck einer tiefen Abneigung gegen Philosophie, Logik und Verstand. So argumentierte er: "Ich bin keine Person der Diskussion/Philosophie und Kalam/Theologie. Ich bin nur eine Person der Überlieferungen und Berichte."
Die Ideenwelt Ibn Hanbals war Reaktion auf die politische Krise der damaligen islamischen Welt. Das Kalifat war von internen Machtkämpfen durchsetzt, die islamischen Eroberungen stockten oder waren nicht mehr Teil des Machtkalküls der herrschenden Elite am Kalifenhof in Bagdad. Diesem Zustand erklärte Ibn Hanbal damit, dass sich die damaligen Muslime durch Philosophie, Auslegung und Interpretation der Korantexte zu sehr von Gott entfernt hätten. Erst eine Rückorientierung und die direkte Anknüpfung an die ersten Gläubigen könnten demnach die Muslime aus ihrer Krise führen. Hier wird ein utopisches goldenes Zeitalter in den Gründergenerationen des Islams konstruiert und als Quelle jeglicher islamischer Praxis definiert. Der Weg in dieses utopische Zeitalter führt nach Ibn Hanbal nur über den Koran in seiner uninterpretierten, wörtlichen Fassung und über die Aussagen der Sunna bzw. die Tradition der Altvorderen.
Diese Vernunftfeindlichkeit im Bezug auf die Auslegung des Korans und das starre und weitestgehend unkritische Festhalten an der Tradition prägen auch heute das salafistische Denken und die salafistische religiöse Praxis. Ibn Hanbal lehnte die "Kultur der Ambiguität"
Die religiöse Grundlage der Salafiyya
Anhänger der Salafiyya sind Muslime, die für sich in Anspruch nehmen, den Weg ins Paradies zu kennen. Allen anderen Muslimen, die den Lehren der Salafiyya nicht folgen, erkennen sie das Muslimsein ab. Diese dualistische Weltanschauung prägt ihr Denken und Verhalten in allen Lebenslagen. Die Grundlage ihres Glaubens ist neben dem Koran die Wegweisung des Propheten Mohammed, wie sie in der Sunna/Prophetentradition überliefert ist. Die unveränderliche Befolgung der Tradition und ihre ständige Nachahmung ist ihre zentrale Forderung. Daher bezeichnen sie sich auch als ahl al-hadith/Anhänger der Prophetenaussagen oder ahl-al-salaf/Anhänger der Altvorderen. Sie betonen damit, dass sie stets die Handlungen, Aussagen, ja die gesamte Epoche des Propheten Mohammed in die Gegenwart projizieren und in der Praxis ausleben. Sie sind überzeugt, dass nur durch die Nachahmung des Verhaltens Mohammeds und seiner Gefährten in allen Lebensumständen die religiösen Gebote des Korans eingehalten werden können. Dabei gilt die Vermischung von göttlichen Anweisungen und menschlichen Gedanken als Sünde. Somit ist alles, was nicht in der Sunna des Propheten verankert ist, als eine verbotene Innovation/ bid´a zu betrachten. Die Salafiyya fordert die wörtliche Auslegung des Korans, jegliche allegorische Deutung ist für sie ein Missbrauch. Vertreter anderer Glaubensauffassungen innerhalb des Islams, die dies tun, gelten damit als Ungläubige, die mittels des Jihads bekämpft werden müssen.
Die Idealisierung der islamischen Urgemeinschaft in Medina und die Betonung der göttlichen Vorherbestimmung bieten der Salafiyya die Möglichkeit, die Konflikte nach dem Tode des Propheten auszublenden. Tatsächlich war die von der Salafiyya als Ideal definierte Zeit voller innerislamischer Machtkonflikte: Drei der ersten vier Kalifen wurden ermordet, es kam zu heftigen Kriegen und schließlich wurde die Familie des Propheten regelrecht ausgelöscht. Die Salafiyya blendet diese Ereignisse aus und idealisiert die Personen dieser Epoche. Mörder und Ermordete sind im gleichen Maße Vorbild, denn die Salafiyya weigert sich, über die beteiligten Kontrahenten zu richten und erklärt die Ereignisse, die zur Ermordung der Familie des Propheten führten, zum göttlichen Willen. Ihren Kritikern begegnet die Salafiyya mit dem Argument, dass es in dieser Zeit die größten militärischen Erfolge der islamischen Eroberung gab.
Die Vitalität dieser ersten Eroberergenerationen sei das Produkt ihres besonderen Islamverständnisses. Aus dieser Argumentation wird die politische Mission der Salafiyya deutlich. Sie urteilt nicht moralisch, sondern machtpolitisch. Mit der Überbetonung der Tradition und dem Verbot des innovativen Denkens in religiösen Fragen wächst die Notwendigkeit, möglichst viele Aussagen des Propheten zusammenzutragen. Diese Prophetentradition ist für alle Muslime von zentraler Bedeutung. Jedoch lehnt die Salafiyya auch hier die Vielfalt der Auslegung dieser Traditionen ab. Damit werden andere islamische Konfessionen, die die Worte des Propheten anders verstehen und ausleben, als unislamisch zurückgewiesen und wenn die Möglichkeit besteht, offen bekämpft. Innerhalb der Salafiyya kommt es zur "Vergesetzlichung" der Lehren des Islam. Der Koran mutiert zu einer Bedienungsanleitung. Einer Bedienungsanleitung, die nicht die Bedürfnisse heutiger Gesellschaften regelt, sondern dem Verständnis einer beduinischen Tradition des siebten Jahrhunderts entspricht. Heutige Lebenswirklichkeiten werden über abenteuerliche Analogien unter der Vorgabe, dass Verstand und Vernunft nicht zur Anwendung kommen dürfen, mit damaligen Situationen gleichgesetzt. Entscheidungen und Ratschläge werden aus ihrem zeitlichen bzw. historischen Kontext gerissen und in die Gegenwart katapultiert. Die Idealisierung der frühislamischen Zeit produziert eine rückwärts orientierte Utopie, die durch die strikte Einhaltung des Gesetzes erreicht werden soll.
In der Praxis reduziert die Salafiyya die Lehren des Islams auf das äußere Erscheinungsbild der Gläubigen. Aussehen, Kleiderordnung und Verhaltensvorschriften werden vorgegeben und als zentrale Merkmale eines Muslims deklariert. Wer diese Vorschriften nicht im Detail umsetzt, wird der Apostasie (Abfall vom Glauben) bezichtigt. Auch hierin unterscheidet sich die Salafiyya selbst vom orthodoxen sunnitischen Islam diametral. Diese Diskrepanz kann man u.a. damit erklären, dass viele Vertreter der Salafiyya im Unterschied zur traditionellen religiösen Geistlichkeit ('ulama') nicht über eine fundierte religiöse Ausbildung verfügen. Es sind vielmehr theologische Laien und Freizeitprediger.
Die Salafiyya hat sich zum Ziel gesetzt, den Ur-Islam und seine damaligen Kulturzustände wiederherzustellen. Sie lehnt es ab, die Aussagen der Scharia fortzuentwickeln und will den Islam von allen Zusätzen und Erweiterungen reinigen. Dabei sind sie theologisch betrachtet selbst eine Neuerung, eine Anmaßung, die weder im Koran noch in der Prophetentradition Erwähnung findet.
Salafiyya – die Politisierung des Sakralen
Die Salafiyya ist das islamische Projekt der Politisierung des Sakralen. In vielen islamischen Staaten ist sie eine aufsteigende politische Kraft, eine Gegenelite, die für sich beansprucht, eine Gesellschaft göttlichen Willens zu etablieren. Dabei handelt es sich bei der Salafiyya nicht um eine lokalisierbare Organisation. Vielmehr ist sie eine weltumspannende Geisteshaltung, eine Idee, die von losen netzwerkartigen Strukturen und flachen Hierarchien geprägt wird.
Der gemeinsame Nenner aller Salifiyya-Bewegungen ist in erster Linie der Bezug zu den Lehren des Islam und der Anspruch, das einzig wahre Verständnis vom Islam zu besitzen. Ihr Islamverständnis verbindet die Salafiyya, gleichzeitig grenzt es sie politisch und religiös von anderen Muslimen innerhalb und außerhalb islamisch geprägter Gesellschaften ab. Dabei sind Salafisten nicht die einzige politische Bewegung, die sich auf die Lehren des Islams beruft. In vielen Ländern existiert eine Vielzahl von Bewegungen, die sich alle auf den Islam begründen, aber zutiefst verfeindet sind und sich gegenseitig der Apostasie bezichtigen und entsprechend bekämpfen.
Daher ist die Salafiyya in ihrer aktuellen Gestalt ein Reaktionsmechanismus auf die Krisen islamischer Gesellschaften. Sie agiert auf der Grundlage einer totalitären Weltanschauung, die sowohl das öffentliche wie das private Leben der Menschen zu kontrollieren sucht.
Das Konzept regelt das Verhältnis der Menschen untereinander und macht Vorschriften für alle Dinge des Alltags. Es definiert die Beziehung der Gläubigen zu den Ungläubigen sowohl im Staat als auch nach außen und liefert die Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Herrschaft. Hierin sind zwei zentrale Charakteristika salafistischer Bewegungen wiederzufinden, die in allen Organisationen vertreten werden: die universalistisch-totalitäre Eigenschaft bestimmt erstens alle Bereiche der Gesellschaft und bedeutet auch die Aufhebung der Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Und zweitens die Ablehnung des Nationalstaats als Ordnungseinheit innerhalb des internationalen Systems zu Gunsten des Umma-Begriffes, der keine nationalstaatlichen Grenzen anerkennt und den Staatsbürgerbegriff negiert. Nach ihrer islamischen Überzeugung verbindet das Zugehörigkeitsgefühl zur khair Umma/besten Gemeinschaft (Koran 3/110) alle Muslime. Daraus leitet die Salafiyya ab, dass alles Handeln und Streben eines Muslims sich zu jeder Zeit am Wohl des Islams orientieren muss, denn alle Vorschriften für das individuelle Verhalten sind als Pflichten gegenüber Gott zu verstehen. Damit steht die islamische Offenbarung uneingeschränkt im Mittelpunkt des Interesses und das Individuum hat sich dem Gemeinwohl unterzuordnen. Die Salafiyya erhebt für ihr Islamverständnis einen Universalitätsanspruch.
Es ist eine Forderung, die der Vorstellung entspringt, dass der einzige Gott seine Lehre für die gesamte Menschheit als einen Weg zur Erlösung offenbart hat. Da alle Menschen Gottesgeschöpfe sind, gilt es, sie davon zu unterrichten und ihnen damit die Möglichkeit der Erlösung zu bieten. Die Salafisten politisieren diesen Anspruch und bestehen darauf, den von ihnen interpretierten Befehl Gottes, die Welt zu islamisieren, durchzusetzen. Die Autorität des religiösen und gleichermaßen politischen Führers gründet auf der uneingeschränkten Souveränität Gottes. Der Führer leitet die Umma/Gemeinschaft der Gläubigen und setzt den göttlichen Willen durch. Da´wa/Einladung zum Islam ist nach salafistischer Leseart die Hauptaufgabe des islamischen Staates. Eine Aufgabe, die notfalls auch mit dem Jihad kriegerisch erfüllt werden muss.
Ein weiterer Aspekt wird durch Tauhid/die Einheit Gottes impliziert. Tauhid ist ein theologischer Begriff, der Gott als den absolut Einen beschreibt.
Die Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten ist durch Machtausübung und Unterordnung charakterisiert. Machtausübung und Unterordnung sind religiöse Pflichten, durch die der Mensch Gott näher kommt.
Die Jugend in den Umbruchstaaten Ägypten, Tunesien und Libyen ist auf die Straße gegangen, um bessere Lebensbedingungen, Demokratie, Freiheit und Schutz der Menschenwürde zu erlangen. Die Salafiyya hingegen mit ihrer dualistischen und menschenfeindlichen Weltanschauung zelebriert gar ihr Unvermögen, eine konstrutkive Rolle zu spielen bei der Lösung sozialer, ökonomischer und politischer Konflikte der Gesellschaften, in denen sie agiert. Salafisten glauben, sie könnten durch die Organisation und Mobilisierung auf Grundlage einer vergangenen Utopie eine andere, bessere Gesellschaft formen. Ihre ideologisch begründete Realitätsverweigerung zeigt sich in der aggressiven Beschneidung der Freiheit Andersdenkender ebenso wie in ihrer Unfähigkeit zur Selbstkritik. Die Salafiyya schafft tiefe Gräben zwischen den Muslimen, spaltet Nationen entlang konfessioneller Linien und provoziert globale Konflikte. In einem solchen System erhalten Nicht-Muslime nur einen nachgeordneten Status mit der Begründung, dass die staatstragende Ideologie der Islam sei. Und das bedeutet, dass nur wer sich zum Islam bekennt, bei der Organisation des Staates involviert werden kann. Die Salafiyya ist Geisel einer selbstkonstruierten Tradition und nimmt ihrerseits den Islam in Geiselhaft.
Die Salafiyya und der globale Jihad
Die Salafisten interpretieren Geschichte dualistisch als ewigen Kampf zwischen Glaube und Unglaube. Die logische Konsequenz dieser damit einhergehenden Politisierung des Sakralen ist für sie der Jihad. Der militante Jihad ist ein Mittel zur Erreichung des utopischen Zustands vom islamisch-salafistischen Frieden. Dabei muss bedacht werden, dass in der Denkstruktur der Salafiyya die Universalität des Islam und der Unglaube Gegensätze sind, die nicht gleichzeitig existieren können.
Die Salafiyya will die Gläubigen zusammenschweißen und klare Rollenmuster, Handlungsweisen und Ziele prägen. Ihre Anhänger sollen sich zusammengehörig fühlen und zwischen sich und den anderen unterscheiden, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Unter den Anderen versteht die Salafiyya alle Ungläubige wie Christen oder Juden, aber auch liberale Muslime. Es kann sich auch um Regime, Systeme, Kollektive und Einzelpersonen handeln, die die Gedanken der Salafiyya nicht teilen.
Die Salafiyya will letztendlich die Umma herbeiführen, die Gemeinschaft aller Islamgläubigen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist Gewalt auch gegen Zivilisten ein legitimes Mittel. Die salafistische Weltanschauung erlaubt und fordert gar Gewalt gegen den tagut/ Tyrannen. Sie einigt dadurch alle, die sich als Opfer betrachten und reduziert deren mögliche Schuldgefühle, indem sie die eigene Aggression als Verteidigungshandlung, als Reaktion auf eine vom Gegner ausgehende Verschwörung, Aggression und Unterdrückung darstellt. Jeder Terroranschlag festigt somit die Identität der Kämpfer.
Betrachtet man die Führungselite der Jihad-Salafiyya, so handelt es sich keineswegs um ein reines Armutsphänomen. Jihadisten verstehen sich als Avantgarde des Islams. Die Argumentationslogik der Jihad-Salafiyya beschreibt den eigenen Kampf als Defensivkampf gegen Aggressoren, die islamisches Gebiet besetzen, die Schätze der Muslime plündern und die Bewohner demütigen. Des Weiteren wird die Besatzung und die damit verbundene Unterdrückung in Palästina instrumentalisiert. Damit emotionalisiert die Salafiyya ihre Anhängerschaft und polarisiert gegen die politischen Machthaber innerhalb der islamischen Welt, die unfähig waren, die Palästinenser zu schützen. Dieser Logik folgend haben die Feinde der Salafiyya eine Kriegserklärung an Gott, seinen Propheten und alle Muslime gerichtet. Und da nichts heiliger ist als das Vertreiben eines Feindes, der die Religion und das Leben bedroht, argumentiert die Salafiyya, dass "das Töten von Amerikanern und deren Verbündeten, ob Zivilisten oder Soldaten, die Pflicht eines jeden Muslims ist, der dazu fähig ist, egal, in welchem Land er die Möglichkeit dazu hat, um ihre Armeen aus allen Gebieten des Islam zu vertreiben, besiegt und unfähig, einen einzigen Muslim zu bedrohen".
Die Salafiyya und ihr Jihad verdeutlichen das Unvermögen einer ganzen Generation, am gesellschaftlichen Geschehen teilzunehmen. Der von der Salafiyya proklamierte Jihad entspringt einer Weltanschauung, die keineswegs mit dem Problem der Armut erklärt werden kann. Die Hauptakteure salafistischer Bewegungen vertreten einen machtpolitischen Anspruch. Ihre Strategien sind vielfältiger Natur. Die Bewegung teilt sich in Eliteformationen, die aus den "wahren“ Gläubigen bestehen, und Sympathisanten. Die Eliten sind die Träger und Verbreiter der Ideologie. Meist verstehen diese sich als Avantgarde, die die Muslime in das goldene Zeitalter des Islam zurückführen wird. Dabei geht es ihnen stets darum, sich als Erlöser zu präsentieren. Der gemeinsame Nenner vieler Sympathisanten der Salafiyya ist die Tatsache, dass es sich bei ihnen oft um gesellschaftliche Verlierer handelt.
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Die Salafisten schaffen es, mit ihrer religiös-totalitären Weltanschauung desorientierte Jugendliche zu mobilisieren. Die Salafiyya prosperiert unter den Bedingungen einer fortschreitenden "Vermassung der Gesellschaft"
Hannah Arendt beschreibt totalitäre Bewegungen als Träger von Weltanschauungen, die die politische Ortlosigkeit der Massen durch die Artikulation übermenschlicher Gesetze von Geschichte und Natur aufzuheben suchen.