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Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert

Prof. Dr. Wolfgang Benz

/ 6 Minuten zu lesen

Judenfeindliche Parteien und Verbände bereiteten den ideologischen Nährboden für die Nazis. Der industriell betriebene Völkermord war die furchtbare Konsequenz ihrer Ideologie.

Einladung der antisemitischen Gesellschaft von Graz von 1938. (© AP)

Das 19. Jahrhundert

Feindschaft gegen Juden war bis ins 19. Jahrhundert religiös begründet worden. Der "Rassen- antisemitismus" oder "Moderne Antisemitismus" bezeichnet seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine neue Form von Judenhass, die "wissenschaftlich" argumentierte (unter Berufung auf Gobineau) und Erkenntnisse der Naturwissenschaft (Darwin) in den Dienst der Judenfeindschaft stellte. Hatte der ältere religiöse Antijudaismus die "Bekehrung" der Juden und deren Taufe zum Ziel, so war der moderne Antisemitismus, der Juden, nur weil sie Juden waren, stigmatisierte, nur auf Ausgrenzung, Vertreibung und in letzter Konsequenz auf die Vernichtung der jüdischen Minderheit fixiert.

Der Begriff Antisemitismus ist wörtlich genommen ("Semitengegnerschaft") eine Missbildung, weil er, um Judenfeindschaft mit wissenschaftlichem Anspruch zu verbrämen, die Sprachfamilie der Semiten (Araber, Äthiopier, Akkader, Kanaanäer, Aramäer) als Rasse verstand, dabei jedoch nur die Juden meinte. Der Begriff Antisemitismus entstand 1879 im Umkreis des Publizisten Wilhelm Marr, den Hintergrund bildete die damals öffentlich diskutierte "Judenfrage". Diese Debatte über die Emanzipation der Juden wurde, seit die rechtliche Gleichstellung durch die Revolution in Frankreich erreicht war, in vielen europäischen Ländern geführt, sie war weitgehend von sozial und kulturell determinierter Ablehnung bestimmt. 1879/80 war "die Judenfrage" in Deutschland einerseits Gegenstand eines Gelehrtenstreites, den der Historiker Heinrich von Treitschke mit Überfremdungsängsten ausgelöst hatte, andererseits wurde sie instrumentalisiert durch den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker in dessen christlich-sozial argumentierender Kampagne gegen die Arbeiterbewegung. In Österreich vertrat der Wiener Bürgermeister Karl Lueger ähnliche Positionen.

Die fanatischen Judenfeinde organisierten sich in Parteien und Verbänden. In Dresden existierte seit 1881 die "Deutsche Reformpartei"; in Kassel wurde 1886 die "Deutsche Antisemitische Vereinigung" ins Leben gerufen, deren Protagonist der Bibliothekar Otto Böckel (1859-1923) war. Von 1887 bis 1903 saß er im Reichstag, er war Herausgeber völkischer Zeitschriften und betätigte sich maßgeblich im "Deutschen Volks-Bund", der ab 1900 versuchte, "national gesinnte Männer" gegen "die erdrückende Übermacht des Judentums" zusammen zu schließen. Auf dem Antisemitentag in Bochum einigten sich Anfang Juni 1889 die verschiedenen judenfeindlichen Strömungen (mit Ausnahme der christlich-sozialen Partei Adolf Stoeckers) auf gemeinsame Grundsätze und Forderungen, aber schon über der Bezeichnung des Zusammenschlusses entzweiten sich die Antisemiten wieder. Es gab nun eine "Antisemitische Deutschsoziale Partei" und eine "Deutschsoziale Partei" und ab Juli 1890 die von Böckel in Erfurt gegründete "Antisemitische Volkspartei", die ab 1893 "Deutsche Reformpartei" hieß. Im Reichstag errangen Vertreter antisemitischer Gruppierungen 1890 fünf und 1893 sechzehn Mandate. Ernst Henrici war zusammen mit dem Reichstagsabgeordneten Wilhelm Pickenbach 1894 Gründer des "Deutschen Antisemitenbunds".

Am meisten Aufsehen im Parlament erregte der Demagoge Hermann Ahlwardt (1846-1914), der ab 1892 als Parteiloser im Reichstag saß und sich als Radau-Antisemit besonders hervortat. Durch hemmungslosen Populismus war Ahlwardt, den man "den stärksten Demagogen vor Hitler in Deutschland" genannt hatte, vorübergehend erfolgreich. Wegen Verleumdung und Erpressung gerichtsnotorisch und vielfach bestraft, als Volksschulrektor nach Unterschlagungen entlassen, verbreitet Ahlwardt als Verfasser zahlreicher Pamphlete in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts rastlos und wirkungsvoll antisemitische Propaganda. Politischen Einfluss erlangten die Antisemiten im Kaiserreich nicht. Aber ihre Propaganda entfaltete Wirkung: Juden wurden mit allen nur denkbaren schlechten Eigenschaften belegt, deren Grund, so erklärten die Antisemiten, liege in der "Rasse".

Erster Weltkrieg

Im Ersten Weltkrieg wurden die antijüdischen Vorbehalte in Deutschland neu aufgeladen. Ungeachtet der Tatsache, dass die deutschen "Juden" die Kriegsbegeisterung des Sommers 1914 teilten und dass die Zahl der jüdischen Freiwilligen überdimensional – gemessen am jüdischen Bevölkerungsanteil – groß war, machte das Gerücht von der "jüdischen Drückebergerei" die Runde und als zweites antisemitisches Stereotyp war die Überzeugung landläufig, dass Juden als die "geborenen Wucherer und Spekulanten" sich als Kriegsgewinnler an der Not des Vaterlandes bereicherten. In zahlreichen Publikationen wurden diese Klischees verbreitet, so etwa in einem Flugblatt, das im Sommer 1918 kursierte, auf dem die jüdischen Soldaten lasen, wovon ihre nichtjüdischen Kameraden und Vorgesetzten trotz der vielen Tapferkeitsauszeichnungen (30.000) und Beförderungen (19.000) und trotz der 12.000 jüdischen Kriegstoten bei insgesamt 100.000 jüdischen Soldaten überzeugt waren: "Überall grinst ihr Gesicht, nur im Schützengraben nicht." Entgegen der Wahrheit hielt die Mehrheit der Deutschen an ihrem negativen Judenbild fest.

Die Ideologie der Judenfeindschaft, die in Manifesten und Pamphleten seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts massenhaft zirkulierte, war eine Bewegung der Abwehr gegen die Moderne. In vielen Traktaten wurden simple Welterklärungen für schlichte Gemüter geboten, in denen die Juden als Sündenböcke Schuld zugewiesen bekamen für alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme. Theodor Fritsch veröffentlichte 1887 einen "Catechismus für Antisemiten", der 1944 unter dem Titel "Handbuch der Judenfrage" die 49. Auflage erreichte; Karl Eugen Dühring war mit rassistischen Verschwörungsphantasien ein anderer wichtiger Ideologe des Antisemitismus. Otto Glagau denunzierte im populären Wochenblatt "Die Gartenlaube" die Juden als Schuldige an der wirtschaftlichen Misere von 1873, dem "Gründerkrach". Alle arbeiteten mit gängigen Klischees über die Juden, von angeblichen Rassenmerkmalen ("Krumme Nase", Mauscheln) zu behaupteten Charaktereigenschaften (Geschäftstüchtigkeit, Unehrlichkeit, Wucher usw.), die nicht bewiesen werden mussten, weil sie traditionell geglaubt wurden. Gleichzeitig beeinflussten Richard Wagner in Essays ("Das Judentum in der Musik") und sein Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain in dickleibiger Kulturphilosophie ("Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts") das Bildungsbürgertum nachhaltig gegen die Juden, die als kulturell unfähig und rassisch minderwertig verunglimpft wurden.

Nach dem Ersten Weltkrieg kamen Rassismus und antisemitische Propaganda zu neuer Blüte. Die Ängste deklassierter Kleinbürger und verletzter deutscher Nationalstolz machten "den Juden" zum Schuldigen. In den Werken zur Rassenkunde eines Hans F. K. Günther ging in den 20er Jahren die Saat des 19. Jahrhunderts wieder auf und bereitete die Wege für politische Agitation. Am weitesten verbreitet waren Günthers "Rassenkunde des deutschen Volkes" (München 1922, 16. Auflage 1933), seine "Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes" (München 1929) und die "Rassenkunde des jüdischen Volkes" (München 1930). Mit solchen "wissenschaftlichen" Schriften wurde die Bahn geebnet für Schmähschriften gegen "die Juden", mit denen rechtsradikale Parteien wie die NSDAP auf Stimmenfang gingen.

Nationalsozialismus

Antisemitismus diente den Nationalsozialisten als Erklärungsmuster für alles nationale, soziale und wirtschaftliche Unglück, das die Deutschen seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg erlitten hatten, und Antisemitismus war das Schwungrad, mit dem Hitler seine Anhänger in Bewegung brachte. Die Überzeugungen, die in Hitlers "Mein Kampf" zu lesen waren, die von ihm und seinen Unterführern seit den Anfängen der Partei gepredigt wurden und in der Forderung nach "Lösung der Judenfrage" kulminierten, gingen auf die "Erkenntnisse" und Behauptungen der Sektierer und Fanatiker zurück, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den rassistisch begründeten "modernen Antisemitismus" propagierten.

Im Programm der völkischen und nationalistischen Parteien der Nachkriegszeit, vor allem der NSDAP ab 1920 und in der Deutschnationalen Volkspartei bildete Antisemitismus das ideologische Bindemittel, mit dem Existenzängste und Erklärungsversuche für wirtschaftliche und soziale Probleme konkretisiert wurden, um republik- und demokratiefeindliche Verzweifelte als Anhänger zu gewinnen.

Die pathologischen Vorstellungen im Weltbild Hitlers, die in Phantasien von der jüdischen Weltverschwörung gipfelten (und sie mit der von vielen als existenzbedrohend empfundenen Gefahr des Bolschewismus verknüpften), trafen, nachdem die vor dem Ersten Weltkrieg ausgebrachte Saat des Rassenantisemitismus zu sprießen begann, auf verbreitete Ängste im Publikum. Durch Propaganda wurden die Emotionen geschürt.

Im Programm der NSDAP waren seit 1920 die Lehr- und Grundsätze des Antisemitismus fixiert, die in den Pamphleten und Traktaten des 19. Jahrhunderts publiziert worden waren:

  • "Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein."

  • "Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muß unter Fremdengesetzgebung stehen."

  • "Das Recht, über Führung und Gesetze des Staates zu bestimmen, darf nur dem Staatsbürger zustehen."

  • "Jede weitere Einwanderung Nichtdeutscher ist zu verhindern. Wir fordern, daß alle Nichtdeutschen, die seit dem 2. August 1914 in Deutschland eingewandert sind, sofort zum Verlassen des Reiches gezwungen werden."

Mit dem Machterhalt der NSDAP wurde der moderne Antisemitismus 1933 Staatsdoktrin. Durch legislatorische Akte wie das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" (1933), das Juden aus dem öffentlichen Dienst entfernte, und vor allem die "Nürnberger Gesetze von 1935, die alle deutschen Juden zu Staatsangehörigen minderen Rechts machten, wurde die rassistische Ideologie mit Berufsverboten und unzähligen administrativen Schikanen in die Tat umgesetzt. Der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 war ein erster Akt staatlich legitimierter Ausgrenzung. Der zweite Gewaltakt, die "Reichskristallnacht" 1938 (Novemberpogrome), bezeichnete das Ende der Judenpolitik, die mit Mitteln der Gesetzgebung und Verwaltung darauf zielten, die Juden aus Deutschland zu vertreiben, nach dem sie entrechtet und ausgeplündert waren. Die Novemberpogrome sind die Wegmarke, von der an, mit den Stufen der Ghettoisierung, Konzentrierung und Stigmatisierung, die physische Vernichtung vorbereitet und ins Werk gesetzt wurde. Der Verpflichtung zur Zwangsarbeit, der Kennzeichnung (Judenstern ab September 1941) und dem Verbot der Auswanderung folgte die "Endlösung der Judenfrage", die als Völkermord 1941-1945 im ganzen deutschen Herrschaftsbereich die letzte Konsequenz der Ideologie des Antisemitismus bildete.

Fussnoten

Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.