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Aktueller Antisemitismus Konzeptuelle und verbale Charakteristika

Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel

/ 11 Minuten zu lesen

Empirische Langzeitstudien zur Sprache der aktuellen Judenfeindschaft zeigen: in den vergangenen zehn Jahren ist die Tabuisierungsschwelle für Verbal-Antisemitismen gesunken. Insbesondere im Internet wird kontinuierlich judenfeindliches Gedankengut verbreitet – und zwar in alltäglichen, nicht extremistischen Diskursräumen.

Der Nazivergleich ist ein beliebtes Stilmittel im modernen Antisemitismus geworden, wie hier auf einer Demonstration in Madrid im Juli 2014. (© picture-alliance/AP)

Im Sommer 2014 waren anlässlich des Gaza-Konflikts auf anti-israelischen Demonstrationen in vielen deutschen Städten antisemitische Parolen wie "Jude, Jude, feiges Schwein!" (Berlin), oder "Stoppt den Judenterror!" (Essen) zu hören. Im Internet gab es Tausende von Twitter- und Facebook-Kommentaren wie "jüdische Zionisten-Nazis!". Die israelische Botschaft erhielt täglich Hunderte von E-Mails, in denen der "jüdische Staat als übelster Unrat" und Juden wie Israelis gleichermaßen als "Kindermörder", "Verbrecher" und "teuflische Unholde" beschimpft wurden. Aufforderungen wie "Tötet alle Zionisten!" und Gewaltfantasien wie beispielsweise "Irans Bombe auf den jüdischen Verbrecherstaat!" wurden im World Wide Web, insbesondere in den Sozialen Medien, die mittlerweile der primäre Umschlagplatz von judeophobem Gedankengut im Internet sind, artikuliert und multipliziert.

Die Äußerungen machen die zugrundeliegenden mentalen Strukturen der Sprachbenutzer transparent und geben Einblick in deren geistige Vorstellungwelt und emotionale Einstellung. Es zeigt sich, dass trotz aller Aufklärungsarbeit nach dem Holocaust immer noch seit Jahrhunderten tradierte judeophobe Sprach- und Argumentationsmuster reproduziert werden - und zwar gesamtgesellschaftlich in allen sozialen Schichten und politischen Gruppierungen der Bevölkerung. Diese Muster sind tief im kommunikativen Gedächtnis verankerte Bestandteile des abendländischen Gedanken- und Gefühlssystems, in dem Judenfeindschaft normal und habituell war. In diesem Weltdeutungs- und Glaubenssystem sind Juden als das ultimativ Andere (und prinzipiell Schlechte) konzeptualisiert. Heute lassen Wörter, Phrasen und Sätze, die in den letzten Jahren tausendfach artikuliert in E-Mails an den Zentralrat der Juden, die israelische Botschaft oder auf Internet-Seiten kommuniziert wurden, diese Basis-Konzeptualisierung sprachlich zum Vorschein kommen: Dort werden Juden zum Beispiel als "Weltenübel", "das Schlimmste, was Gott der Menschheit angetan hat", "übelster Unrat" und "Abschaum der Erde" beschimpft.

Empirische Langzeitstudien zur Sprache der aktuellen Judenfeindschaft zeigen, dass in den vergangenen zehn Jahren die Tabuisierungsschwelle für Verbal-Antisemitismen gesunken ist. Sie zeigen auch, dass insbesondere im Internet kontinuierlich (auch in De-Eskalationsphasen, also Phasen, in denen keine aktuellen Krisen im Nahostkonflikt zu verzeichnen sind) judenfeindliches Gedankengut in alltäglichen, nicht extremistischen Diskursräumen verbreitet wird.

Parallel dazu zeigt sich die Tendenz, aktuellen Antisemitismus in seiner besonders frequenten Manifestationsvariante des Anti-Israelismus zu leugnen, zu bagatellisieren oder semantisch als "legitime Kritik" umzudeuten. Der Kommunikationsraum für die Verbreitung von Verbal-Antisemitismen wird dadurch größer. Der aktuelle antisemitische Sprachgebrauch, gleich aus welcher politischen Richtung, basiert auf identischen Stereotyprepräsentationen und benutzt austauschbare Argumente. Dadurch ist im Internet eine klare Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe oft kaum möglich: Die Grenzen zwischen ideologisch geprägten Verbal-Antisemitismen verschwimmen und als Resultat kommt es im Kommunikationsraum des Web 2.0 zu einer multiplen, kontrollresistenten Ausbreitung judenfeindlichen Gedankengutes.

Konzeptuelle Einstellung und Verbal-Antisemitismus

Als geistiges Phänomen ist Antisemitismus eine feindselige, ressentimentgeleitete Einstellung gegenüber Juden und Judentum, sowie gegenüber Israel, das als jüdischer Staat im besonderen Fokus aller antisemitischen Aktivitäten steht, da es das wichtigste Symbol für genuin jüdische Lebensweise nach dem Holocaust ist.

Der sprachlichen Kodierung judenfeindlicher Ideen, dem Verbal-Antisemitismus, kommt bei der Tradierung antisemitischer Gedanken und Gefühle auf breiter sozialer Ebene eine Schlüsselrolle zu: Über die Sprache werden Stereotype seit Jahrhunderten ständig reproduziert und im kollektiven Bewusstsein erhalten. Über spontan und natürlich produzierte Äußerungen erhält man in Korpusstudien (also Analysen quantitativ umfangreicher Mengen natürlichsprachiger Äußerungen aus bestimmten Kommunikationsräumen) signifikante Einblicke in die aktuelle judeophobe Gedanken- und Gefühlswelt.

Verbal-Antisemitismus umfasst alle Äußerungen, mittels derer Juden direkt oder indirekt bewusst oder unbewusst über Stereotypzuweisungen als Juden entwertet, stigmatisiert, diskriminiert und diffamiert werden. Verbal-Antisemitismus ist gekennzeichnet durch die Semantik der Abgrenzung (Juden als ‚Fremde', als ‚Nicht-Deutsche', modern: als ‚Israelis'), der kollektiven Fixierung durch Stereotype (Juden als ‚gierig, rachsüchtig, zersetzend, blutrünstig, amoralisch') und der generellen Ab-/Entwertung von Juden und Judentum (als ‚atavistisch, egoistisch' usw.). Diese drei Grundkonstanten judenfeindlicher Sprachgebrauchsmuster haben eine lange Tradition und sind nahezu unverändert erhalten geblieben, wie das historische und das aktuelle Beispiel zeigen: "Judentum ist Verbrechertum" (NS-Zeit, Der Stürmer, 1938) und "Zionismus ist Verbrechertum" (E-Mail an die israelische Botschaft 2014). Konzeptuell und strukturell sind die Äußerungen identisch, lediglich lexikalisch erfolgte modern adaptiert die Substitution des Wortes Judentum. Verbal-Antisemitismen sind keinesfalls ein kommunikatives Randgruppen- oder Nischenphänomen: Im Netz finden sie sich auch in normalen, alltäglichen Chats, Kommentarbereichen und Foren, wie auf gutefrage.net, Zugriff am 01.01.2011, die Frage: "Wieso sind Juden immer so böse?" und auf e-hausaufgaben.de: "Juden machen nur STRESS und besetzen ein Land das denen nicht gehört und töten Frauen und Kinder [...] das sind Juden ..."

Kontinuität und Adaptation der Stereotype im Wandel der Zeit

Bei den judeophoben Stereotypen handelt sich um Fantasiekonstrukte, die bar jeder Realität sind, von überzeugten Antisemiten aber unerschütterlich geglaubt werden. Trotz historischer Aufarbeitung und Erinnerungskultur finden sich auch im aktuellen Diskurs klassische Stereotype wie "Juden als Geldmenschen, als Lügner, als Verräter, rachsüchtige Intriganten, als Kindermörder, als Weltverschwörer" usw. Diese basieren auf dem Grund-Konzept von Juden als "dem ultimativ Bösen". Wurden im Mittelalter Juden dämonisierend als Teufel und Anti-Christen klassifiziert und dies stets mit der Unterstellung "Juden allein sind schuld daran, wenn man sie hasst", finden wir dieses Stereotyp in zwei modernen Varianten: "Juden sind schuld am Antisemitismus, weil sie den Holocaust ausbeuten und die Erinnerung nicht ruhen lassen" und "Juden sind schuld am Antisemitismus, weil sie sich solidarisch mit Israel zeigen". Oft werden deutsche Juden synonym mit Israelis gesetzt (es wird also das alte Stereotyp "Juden sind Fremde" modern angepasst kodiert). Israel wird metaphorisch als "der Schurke unter den Staaten", dehumanisierend als "nahöstliches Krebsgeschwür" und mittels Hyperbeln als "das größte Übel in der Welt" charakterisiert. So werden die klassischen judenfeindlichen Ressentiments auf den jüdischen Staat projiziert: "Israel stört den Weltfrieden" basiert auf dem uralten Denkmuster ‚Juden sind die Störenfriede in der Welt'.

Während rechtsextreme Sprachproduzenten nahezu alle klassischen und rassistischen Stereotype (‚Gottesmörder, minderwertige Rasse,' usw.) verbalisieren und den Holocaust entweder leugnen oder seine Unvollständigkeit bedauern, artikulieren linke und mittige Schreiber primär Post-Holocaust-Stereotype (wie ‚Kritiktabu', ‚israelischer/jüdischer Sonderstatus' durch Holocaustausnutzung' und ‚mediales Meinungsdiktat durch Antisemitismuskeule') sowie israelbezogene Judeophobie (,Israel als Weltfriedensbedroher', ,jüdische Israelis als amoralische, intentional mordende Menschen'). Gebildete Schreiber präsentieren sich dabei besonders häufig als nicht-rassistische, den Juden moralisch überlegene Personen, denen sie menschliches Versagen und - in der Traditionslinie der antisemitischen Dehumanisierungssemantik - Inhumanität vorwerfen: So fragte ein Akademiker den Zentralrat der Juden anlässlich der Gaza-Krise 2009: "Habt ihr überhaupt menschliche Gefühle?"

Israelisierung der antisemitischen Semantik

Israel zieht als jüdischer Staat den Hass von Antisemiten jedweder politischen Ausrichtung auf sich und ist in den letzten Jahrzehnten die primäre Projektionsfläche judenfeindlicher und verschwörungsbasierter Fantasien geworden. In antisemitischen Texten wird Israel unikal fokussiert und als ‚Frevel in der Völkergemeinschaft' konzeptualisiert sowie in seiner Existenz delegitimiert. Dies führt zu Argumentationsmustern, die rhetorisch und syntaktisch identisch sind: "Juden sind das größte Übel der Menschheit und bedrohen den Weltfrieden." "Israel ist der schlimmste Verbrecherstaat und bedroht den Weltfrieden!" Der einzige Unterschied liegt in der Lexik: Rechte und rechtsradikale Verfasser referieren explizit auf Juden, linke und in der Mitte anzusiedelnde Schreiber benutzen die Wörter Zionisten, Israel und Israelis. Auf der Basis der dämonisierenden Konzeptualisierung finden sich auch kontinuierlich Artikulationen von eliminatorischen Lösungsvorschlägen wie "einfach alle umbringen das sind alles Teufel", die je nach politischer Position als ,Lösung für die Juden', ‚Lösung für Israel und den Nahostkonflikt' oder ,Lösung für die Zionisten' ausgedrückt werden. Antiisraelische Argumentationsmuster gehen in den Kommentaren im Internet mittlerweile so ineinander über, dass sich linke und rechte Antisemitismen kaum noch unterscheiden lassen. Es zeichnet sich eine breite Nivellierungs- bzw. Homogenisierungstendenz bezüglich des judenfeindlichen Sprachgebrauchs ab: Traditionell als typisch für die rechtsradikale und extremistische Rhetorik und Argumentation erachtete Charakteristika (Stereotypkodierung sowie Verwendung von aggressiver Brachiallexik gekoppelt an ein hohes Ausmaß der De-Realisierung) zeichnen auch zunehmend die meisten Texte von Verfassern aus dem linken politischen Spektrum und der Mitte der Gesellschaft aus. NS-Vokabular und NS-Vergleiche werden dabei inflationär benutzt: Während Rechtsextreme sowohl formal als auch inhaltlich nahezu identisch nationalsozialistische Sprachgebrauchsmuster aufgreifen und den Holocaust leugnen, führen linke und mittige Schreiber den Holocaust als Vergleichsgröße an, um die aktuell lebenden Juden in Israel zu diffamieren, indem die Militäraktionen Israels mit dem gezielten Massenmord in der NS-Zeit gleichgesetzt werden. Die Sprachmuster des Nationalsozialismus werden der ideologisch-politischen Einstellung gemäß angepasst und über Antizionismus ausgedrückt: Die Rede ist dann von den "faschistischen Zionisten und ihren SS-Methoden".

Die Texte zeigen insgesamt eine große Homogenität in Bezug auf die Verwendung spezifischer Mittel und argumentativer Muster. Viele lesen sich mehrheitlich wie Abschriften mit geringfügigen Variationen zu einer gemeinsamen Vorlage. Inhalte und sprachliche Formen sind oft nahezu austauschbar: Es wird deutlich, wie ausgeprägt tradierte judeophobe Sprachmuster im kommunikativen Gedächtnis verankert sind und wie diese aktuellen Situationen angepasst werden.

Indirekte Sprechakte und verbale Camouflage: sprachliche Re-Kodierungen

Explizite generische Aussagen judeophoben Inhalts wie "Alle Juden sind ..." sind nur ein kleiner Teil antisemitischer Kommunikationspraxis. Aufgrund der Ächtung und Sanktionierung offen verbalisierter Judenfeindschaft seit 1945 werden judenfeindliche Ideen heute (mit Ausnahme von rechtsextremistischen und neonazistischen Kreisen) vielmehr re-kodiert und verschlüsselt, also als indirekte Sprechakte mit sprachlicher Camouflage verbalisiert. Statt explizit die Wörter Juden, jüdisch und Judentum zu verwenden, benutzt man referenziell vage gehaltene Paraphrasen wie "die Banker von der Ostküste", "jene einflussreichen Kreise", die "Finanzoligarchie", oder "jene gewisse Religionsgemeinschaft". Durch referenzielle Verschiebung und semantische Einengung wird auf "Israel", die "Israel-Lobby", die "Zionisten" referiert, aus dem Kontext und nach dem pars pro toto Prinzip aber wird ersichtlich, dass eigentlich alle Juden gemeint sind. Besonders oft werden auch die Wörter Jude(n), Zionisten und Israeli(s) als Synonyme benutzt; an die Stelle des "internationalen Finanzjudentums" tritt morphologisch verkürzt das "internationale Finanztum". Eine andere Form ist die Kodierung und das Arrangieren von Versatzstücken, intertextuellen Bezügen, Sprichwörtern, Namen, Schlagworten, die unmittelbar mit Juden und Judentum assoziiert werden wie "Auge um Auge", "das alttestamentarische Gesetz der Rache", "Rothschild" und "Goldman Sachs".

Die Verwendung von Tier- bzw. Dehumanisierungsmetaphorik in einem Kontext, der eine judenfeindliche Lesart nahelegt, ist ein weiteres Kennzeichen des modernen antisemitischen Diskurses: Juden oder Israelis werden als Ratten, Heuschrecken, Parasiten, Bazillen usw. bezeichnet. Häufig werden auch rhetorische Fragen gestellt wie "Wer verhindert denn in Deutschland Kritik an Israel?". Durch die spezifische Verknüpfung von Argumenten, die aus dem antisemitischen Diskurs bekannt und habitualisiert sind, werden gezielt antisemitische Vorstellungen und Assoziationen hervorgerufen, zum Beispiel durch die Aneinanderreihung von Lexemen wie Geld, Lobbyisten, Einfluss einer kleinen Gruppe, internationale Finanzoligarchie, zersetzende, mächtige Kräfte, Brandstifter in Jerusalem, besonders im Zusammenhang mit jüdischen oder jüdisch klingenden Namen und Bezügen zu Israel. Aus der judeophoben Phantasie von der jüdischen Macht, die weltweit die Fäden ziehe, wird "die Finanzlobby" oder die "Israel-Lobby", die alles lenke. Da diese indirekten Sprechakte immer in einem bestimmten Kontext geäußert und die entsprechenden Schlussfolgerungen vom Sprachproduzenten mit Kalkül vorweggenommen werden, ist ersichtlich, wer und was damit gemeint wird. Diese Kodierungsformen sind mittlerweile so häufig, dass man davon ausgehen kann, dass Produzenten und Rezipienten sehr genau um ihre tatsächliche Bedeutung wissen. Die indirekten Verbalisierungen sind somit reine Schutzmaßnahmen, um sozialen Sanktionen oder juristischer Strafverfolgung vorzubeugen.

Kampf um Wörter: Antisemitismusleugnung und semantische Umdeutung

Auch wenn alle Kriterien des Verbal-Antisemitismus in ihren Äußerungen nachzuweisen sind, leugnen insbesondere die Sprachproduzenten aus dem links-liberalen Spektrum vehement, antisemitisch zu sein, und deklarieren ihre judeophoben Aussagen als "Meinungsfreiheit" und "politische Kritik". Diese Reklassifikation (also die Umbenennung antisemitischer Äußerungen als legitime Sprachhandlungen) ist fester Bestandteil des modernen antisemitischen Diskurses und sie lässt einen Kampf um Bedeutungshoheiten erkennen, der die Relevanz der Sprache als realitätskonstituierendes und -konstruierendes Instrument zeigt. Intensiv ist die konzeptuelle Auseinandersetzung v.a. bei dem Ausdruck Antisemitismus und dessen Bedeutungsauslegung. Dabei deuten Antisemiten das Lexem semantisch und faktisch unangemessen, indem sie ihm entweder eine zu enge, restriktive Lesart zuordnen, die Antisemitismus auf die NS-Zeit begrenzt und rassistisch-völkisch festlegt ("Ich bin kein Antisemit, denn ich bin kein Nazi oder Rassist") oder seine Etymologie heranziehen ("Ich bin kein Antisemit, ich bin selbst Semit") und dabei die tatsächliche kommunikative Bedeutung des Wortes negieren. Dies geschieht zumeist mittels re-klassifizierender Sprechakt-Umbenennungen: Der verbale Antisemitismus wird euphemistisch als "Kritik" bezeichnet. Aus sprachlicher Diskriminierung wird somit durch oberflächliche Camouflage eine akzeptable soziale Handlung. Im Zusammenhang mit dem ebenfalls stets reproduzierten Klischee, es gebe ein Kritiktabu an Juden und Israel und somit auch eine "Antisemitismuskeule", die gegen Kritiker geschwungen würde, finden sich auch konzeptuell tief greifende Umdeutungen wie in "Antisemit wird eines Tages ein Kompliment sein!"

Diese Re-Interpretationen, welche Faktenresistenz und das Unvermögen zur kritischen Selbstreflexion offenlegen, haben im Diskurs zwei Funktionen: Zum einen sollen sie die Schreiber gegen den Vorwurf des Antisemitismus immunisieren, zum anderen aber auch das radikale Gedankengut ihrer Äußerungen formal entradikalisieren und damit kommunikativ akzeptabel machen. Die kommunikative Leugnung und semantische Umdeutung des eigenen Verbal-Antisemitismus gehört heute standardmäßig zu den Strategien moderner Antisemiten.

Quellen / Literatur

SCHWARZ-FRIESEL, Monika, 2013, "Juden sind zum Töten da" (studivz.net, 2008). Hass via Internet - Zugänglichkeit und Verbreitung von Antisemitismen im World Wide Web. In: MARX, Konstanze/SCHWARZ-FRIESEL, Monika (Hg.), 2013. Sprache und Kommunikation im technischen Zeitalter. Wieviel Internet (v)erträgt unsere Gesellschaft? Berlin, New York: de Gruyter, 213-236.

SCHWARZ-FRIESEL, Monika, (Hrsg.) 2015. Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft. Baden-Baden: Nomos.

SCHWARZ-FRIESEL, Monika/REINHARZ, Jehuda, 2013. Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Berlin, Boston: de Gruyter.

Wistrich, Robert S., 2010. A Lethal Obsession: Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad, New York: Random House.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die israelische Botschaft und der Zentralrat der Juden in Deutschland erhalten kontinuierlich antisemitische Zuschriften. In Krisensituationen, über die medial berichtet wird, steigt die Zahl der Zuschriften jeweils signifikant an. S. hierzu Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 14ff.

  2. Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz, Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Boston/Berlin 2013: Von 14.000 untersuchten Schreiben an den Zentralrat der Juden in Deutschland und an die israelische Botschaft in Berlin kommen nachweisbar über 60 Prozent aus der Mitte der Gesellschaft, oft sind es gebildete Menschen mit akademischen Abschlüssen. Die Mitte wird als eine Positionierung jenseits extremistischer und radikaler Gruppen verstanden. Personen der Mitte wählen etablierte Parteien, haben eine abgeschlossene Schulausbildung und sind sozial intergiert sowie ökonomisch weitgehend stabil. Der Begriff der Mitte prägt maßgeblich unsere Vorstellung von politischer und sozialer Realität. S. Schwarz-Friesel/Reinharz, 2013: 19ff. Die Schreiber aus der Mitte geben meistens Namen und Adresse an, erteilen zudem oft aufschlussreiche Selbstauskünfte (über ihren Beruf, ihr Alter, ihre politische Ausrichtung). Rechtsradikale Schreiber, die anonyme E-Mails senden, lassen sich dagegen über ihre Texte identifiieren: So benutzen viele den Hitlergruß "Heil" und greifen auf einschlägige NS-Vokabeln zurück (wie "Arier", "Rasse", "Führer" etc. zurück). Linke und mutmaßliche Linksextremisten verwenden ideologiegepägte Lexik (wie "zionistischer Faschismus", "kapitalitisches Unterdrückersystem", "imperialistischer Zionismus", "internationale soziale Solidarität mit den unterdrückten Palästinensern").

  3. Es ist keineswegs nur der Nahostkonflikt, der in Krisen- und Konfliktsituationen, die medial kommuniziert und verbreitet werden, zu Wellen erhöhter Judenfeindschaft führt. Auch die innerdeutsche Beschneidungsdebatte ließ die Anzahl manifester Verbal-Antisemitismen im Internet drastisch ansteigen. Vgl. Schwarz-Friesel (Hrsg.), Gebildeter Antisemitismus, 2015.

  4. Schwarz-Friesel 2013.

  5. S. Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 33ff.

  6. e-hausaufgaben.de, 4.6.2008.

  7. ZJD_Gaza2009_34/816_Zon_001. E-Mail an den Zentralrat der Juden.

  8. ZJD-29.05.2007_Sch-002. E-Mail an den Zentralrat der Juden.

  9. BD-Gaza-014. E-Mail an die israelische Botschaft.

  10. Kommentar vom 18.4.2015 unter Youtube-Video »Die Rothschilds« (Zugriff am 9.5.2015).

  11. "De-Realisierung ergibt sich, wenn ein mentales Deutungsschema zu einem spezifischen außersprachlichen Sachverhalt dazu führt, dass dieser Sachverhalt verzerrt, eingeengt oder komplett falsch wahrgenommen und bewertet wird." Vgl. Schwarz-Friesel, Reinharz, Sprache der Judenfeindschaft, S. 209.

  12. Explizit gegen Juden gerichtete Äußerungen finden sich in den alltäglichen Sozialen Medien v.a. durch die Einfügung von Links zu Zitaten von anderen Sprachproduzenten: Dies ermöglicht es, manifesten Verbal-Antisemitismus in den eigenen Text so einzubinden, dass die gewünschten Effekte erzielt werden, ohne selbst die brisanten Aaussagen zu artikulieren.

  13. Vgl. auch ähnliche Umdeutungsversuche zum Lexem Nazi: "Wenn ein Nazi jemand ist der Friedensverträge, Souveränität und Weltfrieden fordert. Dann wäre ich Stolz ein Nazi zu sein." (online-Kommentar, Zugriff am 17.2.15)

  14. (online-Kommentar, Zugriff am 17.2.2015)

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ist Leiterin des Fachgebietes Allgemeine Linguistik an der Technischen Universität Berlin und erforscht seit Jahren die Sprache des Antisemitismus. Zuletzt erschien 2015 "Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft. Baden-Baden: Nomos."