In der deutschen Nachkriegsgeschichte galt lange Zeit der militante Antisemitismus als ein Phänomen, das nahezu ausschließlich in rechtsradikalen und weitaus geringer in linksradikalen Milieus zu beobachten war. Eine Revision dieser Sichtweise, die auch lange Zeit in der Antisemitismusforschung vertreten wurde, erfolgte mehr als zögerlich ab dem Jahr 2000. Ausschlaggebend war hier ein Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge in der Nacht vom 2. Oktober 2000, der von zwei muslimischen Jugendlichen begangen wurde. Für das friedliche Zusammenleben in einer pluralistisch geprägten Zuwanderungsgesellschaft bedeutete dieses Ereignis eine Zäsur. Es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass ein Anschlag auf eine jüdische Gemeinde von jungen Menschen mit muslimischer Religionszugehörigkeit begangen wurde. Rasch stellte sich heraus, dass der Anschlag von Düsseldorf kein Einzelfall bleiben sollte. Bereits sechs Tage später griff eine Gruppe demonstrierender Libanesen nach einer Demonstration die alte Essener Synagoge an und zerstörte mehr als 30 Glasscheiben. Beide Straftaten standen nach Angaben der ausschließlich männlichen Täter in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Palästinakonflikt. Diese wollten mit Ihren Aktionen gegen das Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Rahmen der sogenannten Zweiten Intifada demonstrieren.
Attacken, Beschimpfungen mit judenfeindlichen Inhalten sind seit gut zehn Jahren vor allem in den großen urbanen Siedlungsräumen mit einem hohen Anteil an Zuwanderern zu beobachten. Meist bleibt es bei verbalen Ausbrüchen und Beschimpfungen. Mitunter kommt es jedoch auch zu Tätlichkeiten. Bundesweit für Schlagzeilen sorgte ein Zwischenfall in Hannover im Jahr 2010. Dort hatte eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit arabischem Zuwanderungshintergrund auf einem Straßenfest eine jüdische Tanzgruppe mit Kieselsteinen attackiert und antisemitische Parolen skandiert. Besondere Aufmerksamkeit erregten zuletzt zwei antisemitische Übergriffe in Berlin. Am 29. August 2012 schlugen am helllichten Tag in Berlin Jugendliche auf einen Rabbiner ein und verletzten ihn erheblich. Eine Woche später wurden jüdische Schülerinnen vor ihrer Schule mit antisemitischen Tiraden gedemütigt und bespuckt. In beiden Fällen gehen die Ermittlungsbehörden von jugendlichen Tätern mit einem muslimischen Sozialisationskontext aus.
Ausmaß des Antisemitismus
Bereits diese unvollständige Aufzählung öffentlich bekannter antisemitischer Übergriffe der vergangenen zehn Jahre zeigt, dass der Antisemitismus bei Jugendlichen aus muslimischen Sozialisationskontexten eine problematische Größe darstellen kann. Genaue Zahlen, mit deren Hilfe das Ausmaß antisemitischer Gewalt präzise quantifizieren lässt, gibt es indessen in Deutschland nicht. Die "PMK”-Statistiken (PMK = Politisch Motivierte Kriminalität) der Sicherheitsbehörden basieren auf veralteten Kategorien. Antisemitische Gewalt wird lediglich nach den Tätergruppen "PMK-rechts”, "PMK-links”, "PMK-Ausländer” und "PMK-sonstige” erfasst. Zur Religionszugehörigkeit der Täter gibt die Statistik keinerlei Auskunft.
Will man möglichst gesicherte Zahlen zur Verbreitung antisemitischer Einstellungen von Muslimen oder muslimischen Jugendlichen, kann man lediglich auf eine kleine Zahl von Studien zugreifen, die in den vergangenen fünf Jahren erschienen sind. Über eine solide Datenbasis verfügt vor allem die Studie von Jürgen Mansel und Viktoria Spreyer aus dem Jahr 2010.
Muslimischer Antisemitismus?
Die vorgestellten Zahlen zeigen unverkennbar, dass antisemitische Haltungen bei Jugendlichen aus muslimischen Sozialisationskontexten eine problematische Größe erreichen können. Während dieser Sachverhalt als unstrittig gilt, wird seit Jahren die religiöse Dimension des Antisemitismus sehr kontrovers diskutiert. Einige Autoren, so zuletzt Günther Jikeli, sprechen von einem "spezifischen 'muslimischen Antisemitismus'”
Quellen des Antisemitismus
Antisemitische Einstellungen bzw. Haltungen sind in der Regel Ergebnisse von multidimensionalen Prozessen, in denen sich die Wirkweise einzelner Einflussfaktoren nur schwer bestimmen lässt. Der Antisemitismusforscher Günther Jikeli benennt in seiner aktuellen Studie ein ganzes Bündel von Einflussfaktoren und Quellen:
"Antisemitische Ansichten von Freunden und Familienmitgliedern, eigene Vorstellungen der religiösen und/oder ethnischen Identität, Gespräche in Moscheen, diverse Medien wie Fernsehen, Internet, Musik, Bücher und Zeitungen und, in einigen Fällen, die Schule.”
Auch wenn die Ausbildungsprozesse von antisemitischen Vorurteilen individuell verschieden verlaufen, kann davon ausgegangen werden, dass moderne Medien wie SAT-TV und Internet direkt oder auch indirekt eine gewichtige Rolle spielen. Bis zur zweiten Hälfte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland de facto keine arabisch- und türkischsprachigen Massenmedien, die antisemitische Inhalte verbreiteten oder hochemotionalisiert über den Palästinakonflikt berichteten. Mit der Gründung von Al-Manar (1991), Al-Jazeera (1996), Iqraa TV (1998) und der sukzessiven Verbreitung des leistungsfähigen Internets sollte sich dies grundlegend ändern.
Präventionsarbeit in Wohnquartier, Gemeinde und Schule
Auch wenn das Problemfeld Antisemitismus bei Jugendlichen im Migrationskontext seit geraumer Zeit von Schule, Jugendhilfe und Gemeinden zur Kenntnis genommen wird, kann von einer systematischen Präventionsarbeit, die alle relevanten Akteure einschließt, bislang nicht die Rede sein. Zu wenige Aktivitäten sind nach wie vor auf der Gemeindeebene zu verzeichnen. Es fehlt hier unter anderem an Dialoginitiativen der Moscheegemeinden, die einen lebendigen und lebensweltnahen Austausch mit den Jüdischen Gemeinden zum Gegenstand haben könnten. Bislang unzureichend sind ferner die präventiven Maßnahmen, die im klassischen Jugendhilfebereich durchgeführt werden. Lediglich an einigen ausgewählten Standorten gibt es mehrjährige Dialogprojekte, die professionell moderiert werden. Zu nennen sind hier insbesondere die Berliner Projekte der KIGA (Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus), das Projekt der bpb "Dialog macht Schule”, das in Stuttgart und Berlin durchgeführt wird und das Düsseldorfer Dialoggruppenprojekt "Ibrahim trifft Abraham”. Weitere vielversprechende Möglichkeiten der Prävention sind im künftigen islamischen Religionsunterricht möglich, der in den nächsten Jahren in NRW und Niedersachsen flächendeckend ausgebaut werden soll. Die bisherigen Unterrichtserfahrungen zeigen, dass der schulische Islamunterricht vor allem in der Sekundarstufe I der Vorurteilsbildung aktiv entgegen wirken kann.