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Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen – Randphänomen oder Problem?

Michael Kiefer

/ 6 Minuten zu lesen

In der Nacht vom 2. Oktober 2000 verübten zwei muslimische Jugendliche einen Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge. Damit rückte das Thema Antisemitismus unter muslimisch geprägten Jugendlichen zum ersten Mal ins öffentliche Bewusstsein. Ist dieser Antisemitismus religiös motiviert?

Muslimische Aktivisten mit antisemitischen Plakaten am 3. Juni 2010 in Jakarta. (© picture-alliance/AP)

In der deutschen Nachkriegsgeschichte galt lange Zeit der militante Antisemitismus als ein Phänomen, das nahezu ausschließlich in rechtsradikalen und weitaus geringer in linksradikalen Milieus zu beobachten war. Eine Revision dieser Sichtweise, die auch lange Zeit in der Antisemitismusforschung vertreten wurde, erfolgte mehr als zögerlich ab dem Jahr 2000. Ausschlaggebend war hier ein Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge in der Nacht vom 2. Oktober 2000, der von zwei muslimischen Jugendlichen begangen wurde. Für das friedliche Zusammenleben in einer pluralistisch geprägten Zuwanderungsgesellschaft bedeutete dieses Ereignis eine Zäsur. Es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass ein Anschlag auf eine jüdische Gemeinde von jungen Menschen mit muslimischer Religionszugehörigkeit begangen wurde. Rasch stellte sich heraus, dass der Anschlag von Düsseldorf kein Einzelfall bleiben sollte. Bereits sechs Tage später griff eine Gruppe demonstrierender Libanesen nach einer Demonstration die alte Essener Synagoge an und zerstörte mehr als 30 Glasscheiben. Beide Straftaten standen nach Angaben der ausschließlich männlichen Täter in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Palästinakonflikt. Diese wollten mit Ihren Aktionen gegen das Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Rahmen der sogenannten Zweiten Intifada demonstrieren.

Attacken, Beschimpfungen mit judenfeindlichen Inhalten sind seit gut zehn Jahren vor allem in den großen urbanen Siedlungsräumen mit einem hohen Anteil an Zuwanderern zu beobachten. Meist bleibt es bei verbalen Ausbrüchen und Beschimpfungen. Mitunter kommt es jedoch auch zu Tätlichkeiten. Bundesweit für Schlagzeilen sorgte ein Zwischenfall in Hannover im Jahr 2010. Dort hatte eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit arabischem Zuwanderungshintergrund auf einem Straßenfest eine jüdische Tanzgruppe mit Kieselsteinen attackiert und antisemitische Parolen skandiert. Besondere Aufmerksamkeit erregten zuletzt zwei antisemitische Übergriffe in Berlin. Am 29. August 2012 schlugen am helllichten Tag in Berlin Jugendliche auf einen Rabbiner ein und verletzten ihn erheblich. Eine Woche später wurden jüdische Schülerinnen vor ihrer Schule mit antisemitischen Tiraden gedemütigt und bespuckt. In beiden Fällen gehen die Ermittlungsbehörden von jugendlichen Tätern mit einem muslimischen Sozialisationskontext aus.

Ausmaß des Antisemitismus

Bereits diese unvollständige Aufzählung öffentlich bekannter antisemitischer Übergriffe der vergangenen zehn Jahre zeigt, dass der Antisemitismus bei Jugendlichen aus muslimischen Sozialisationskontexten eine problematische Größe darstellen kann. Genaue Zahlen, mit deren Hilfe das Ausmaß antisemitischer Gewalt präzise quantifizieren lässt, gibt es indessen in Deutschland nicht. Die "PMK”-Statistiken (PMK = Politisch Motivierte Kriminalität) der Sicherheitsbehörden basieren auf veralteten Kategorien. Antisemitische Gewalt wird lediglich nach den Tätergruppen "PMK-rechts”, "PMK-links”, "PMK-Ausländer” und "PMK-sonstige” erfasst. Zur Religionszugehörigkeit der Täter gibt die Statistik keinerlei Auskunft.

Will man möglichst gesicherte Zahlen zur Verbreitung antisemitischer Einstellungen von Muslimen oder muslimischen Jugendlichen, kann man lediglich auf eine kleine Zahl von Studien zugreifen, die in den vergangenen fünf Jahren erschienen sind. Über eine solide Datenbasis verfügt vor allem die Studie von Jürgen Mansel und Viktoria Spreyer aus dem Jahr 2010. Die Studie mit über 2000 befragten Schülerinnen und Schülern gibt erstmalig umfassend Auskunft über das Ausmaß von Antisemitismus bei Jugendlichen aus verschieden kulturellen und religiösen Sozialisationskontexten. Die Untersuchung zeigt sehr differenziert, dass je nach kultureller und religiöser Herkunft unterschiedliche Facetten des Antisemitismus vertreten werden. Bei Jugendlichen aus muslimischen Sozialisationskontexten ist vor allem ein israelbezogener, religiös legitimierter und klassischer Antisemitismus feststellbar. So stimmte etwa jeder fünfte arabischstämmige Jugendliche der Aussage zu "in meiner Religion sind es die Juden, die die Welt ins Unheil treiben”. Noch höher liegen die Werte beim klassischen Antisemitismus: Der Aussage "Juden haben in der Welt zu viel Einfluss” stimmten 35, 8 Prozent der arabischen und 20,9 Prozent der türkischstämmigen zu. Bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund lag der Wert bei lediglich 2, 1 Prozent. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Antisemitismus bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund keine Rolle spielt. Viele Jugendliche ohne Migrationshintergrund zeigen beim klassischen Antisemitismus aber eher Zurückhaltung. Antisemitismus zeigt sich hier eher in einer geschichtsrelativierenden Form.

Muslimischer Antisemitismus?

Die vorgestellten Zahlen zeigen unverkennbar, dass antisemitische Haltungen bei Jugendlichen aus muslimischen Sozialisationskontexten eine problematische Größe erreichen können. Während dieser Sachverhalt als unstrittig gilt, wird seit Jahren die religiöse Dimension des Antisemitismus sehr kontrovers diskutiert. Einige Autoren, so zuletzt Günther Jikeli, sprechen von einem "spezifischen 'muslimischen Antisemitismus'” da dieser direkte Bezüge zur religiösen Identität oder zum Islam aufweise. Dieser Sicht der Dinge kann jedoch widersprochen werden. Die bei muslimischen Jugendlichen vorzufindenden antisemitischen Narrative sind zu erheblichen Teilen dem Fundus des modernen europäischen Antisemitismus entnommen. Dies trifft vor allem für das Narrativ des allmächtigen jüdischen Verschwörers zu. In den traditionellen islamischen Gesellschaften war diese Figur unbekannt, die Juden galten viel mehr als "schwach” und "ängstlich”. Eine Modifikation bzw. die Negativierung des Judenbildes setzte nachweisbar erst in zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein. Vor dem Hintergrund des beginnenden Palästinakonflikts veröffentlichte der einflussreiche Denker Raschid Rida eine Reihe von Aufsätzen, in denen erstmalig eine "jüdische Weltverschwörung” behauptet wurde, die den Islam bedrohe. Eine populäre Version des islamisierten Antisemitismus lieferte Anfang der fünfziger Jahre der islamistische Theoretiker und Muslimbruder Sayyid Qutb. In seinem Aufsatz "Unser Kampf mit den Juden” behauptet Qutb, dass die Juden zu allen Zeiten einen Krieg gegen den Islam führten. Diese herbeifabulierte Sicht der Dinge wird seit geraumer Zeit vor allem in islamistischen Kreisen vertreten.

Quellen des Antisemitismus

Antisemitische Einstellungen bzw. Haltungen sind in der Regel Ergebnisse von multidimensionalen Prozessen, in denen sich die Wirkweise einzelner Einflussfaktoren nur schwer bestimmen lässt. Der Antisemitismusforscher Günther Jikeli benennt in seiner aktuellen Studie ein ganzes Bündel von Einflussfaktoren und Quellen:

"Antisemitische Ansichten von Freunden und Familienmitgliedern, eigene Vorstellungen der religiösen und/oder ethnischen Identität, Gespräche in Moscheen, diverse Medien wie Fernsehen, Internet, Musik, Bücher und Zeitungen und, in einigen Fällen, die Schule.”

Auch wenn die Ausbildungsprozesse von antisemitischen Vorurteilen individuell verschieden verlaufen, kann davon ausgegangen werden, dass moderne Medien wie SAT-TV und Internet direkt oder auch indirekt eine gewichtige Rolle spielen. Bis zur zweiten Hälfte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland de facto keine arabisch- und türkischsprachigen Massenmedien, die antisemitische Inhalte verbreiteten oder hochemotionalisiert über den Palästinakonflikt berichteten. Mit der Gründung von Al-Manar (1991), Al-Jazeera (1996), Iqraa TV (1998) und der sukzessiven Verbreitung des leistungsfähigen Internets sollte sich dies grundlegend ändern. Dass eine hochemotionalisierte Berichterstattung über den Palästinakonflikt durchaus auch in Deutschland handlungsleitend sein kann, zeigen die eingangs aufgeführten Anschläge in Düsseldorf und Essen im Oktober 2000. Die unmittelbar nach der Tat gefassten Täter gaben an, dass die Berichterstattung über die Zweite Intifada sie zu Ihren Straftaten veranlasst hätte. Überdies ist zu konstatieren, dass es in den vergangenen 10 Jahren mehrere antisemitische Film- und Fersehproduktionen gab, die im Primetime Bereich von arabisch- und türkischsprachigen SAT-Sendern ausgestrahlt wurden. Herausragendes Beispiel ist die iranische Fernsehproduktion "Zahras blaue Augen”, die im heutigen Palästina spielt. Die Juden werden in diesem antisemitischen Trash als verschwörerische und organraubende Verbrecher dargestellt. Dieses primitive antisemitische Narrativ, dass interessanter Weise in einem muslimischen Kontext die christlich-antisemitische Ritualmordlegende aktualisiert, fand gleichfalls in der sehr erfolgreichen türkischen Kinoproduktion "Tal der Wölfe” Verwendung, der auch in deutschen Kinos lief.

Präventionsarbeit in Wohnquartier, Gemeinde und Schule

Auch wenn das Problemfeld Antisemitismus bei Jugendlichen im Migrationskontext seit geraumer Zeit von Schule, Jugendhilfe und Gemeinden zur Kenntnis genommen wird, kann von einer systematischen Präventionsarbeit, die alle relevanten Akteure einschließt, bislang nicht die Rede sein. Zu wenige Aktivitäten sind nach wie vor auf der Gemeindeebene zu verzeichnen. Es fehlt hier unter anderem an Dialoginitiativen der Moscheegemeinden, die einen lebendigen und lebensweltnahen Austausch mit den Jüdischen Gemeinden zum Gegenstand haben könnten. Bislang unzureichend sind ferner die präventiven Maßnahmen, die im klassischen Jugendhilfebereich durchgeführt werden. Lediglich an einigen ausgewählten Standorten gibt es mehrjährige Dialogprojekte, die professionell moderiert werden. Zu nennen sind hier insbesondere die Berliner Projekte der KIGA (Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus), das Projekt der bpb "Dialog macht Schule”, das in Stuttgart und Berlin durchgeführt wird und das Düsseldorfer Dialoggruppenprojekt "Ibrahim trifft Abraham”. Weitere vielversprechende Möglichkeiten der Prävention sind im künftigen islamischen Religionsunterricht möglich, der in den nächsten Jahren in NRW und Niedersachsen flächendeckend ausgebaut werden soll. Die bisherigen Unterrichtserfahrungen zeigen, dass der schulische Islamunterricht vor allem in der Sekundarstufe I der Vorurteilsbildung aktiv entgegen wirken kann.

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Dr. phil., geb. 1961, ist Islamwissenschaftler und Publizist. Er forscht und arbeitet zum Themenfeld islamischer Religionsunterricht.