Wenn Staaten Souveränität an eine übergeordnete Ebene abgeben, geht dem meistens ein langer politischer Prozess voran. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um die Schaffung von Institutionen geht, die auf Dauer angelegt sind und die mit politischer Macht ausgestattet werden. Im Bereich der Gerichtsbarkeit wurden bereits zahlreiche internationale Institutionen geschaffen. Das internationale Strafrecht weist dabei eine Besonderheit auf: Hier werden nicht Konflikte zwischen Staaten behandelt, sondern es wird über Personen gerichtet. Mit dem Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) wurde eine auf Dauer angelegte, unabhängige Institution der Staatengemeinschaft geschaffen, vor der sich Individuen verantworten müssen. Bis Mitte 2017 wurde das Statut des IStGH von 124 Staaten ratifiziert.
Fakten
1899 trat auf Initiative von Zar Nikolaus II. die erste Haager Friedenskonferenz zusammen. Sie beschloss, einen "Ständigen Schiedsgerichtshof" in Den Haag zu errichten. Dieser setzte sich aus ernannten Sachverständigen des Völkerrechts zusammen und sollte Konflikte zwischen Staaten schlichten. 1922 wurde im Rahmen des Völkerbundes zusätzlich der Ständige Internationale Gerichtshof (The Permanent Court of International Justice – PCIJ) geschaffen. Nach der Gründung der Vereinten Nationen (United Nations – UN) und der Schaffung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) im Jahr 1945 wurde der PCIJ im April 1946 offiziell aufgelöst und der IGH nahm seine Arbeit auf. Der IGH urteilt ebenfalls über Streitigkeiten zwischen Staaten, die seine Zuständigkeit anerkennen.
Heute gibt es eine Vielzahl weiterer internationaler Gerichte wie zum Beispiel den Internationalen Seegerichtshof (ISGH), den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), den EFTA-Gerichtshof für die Europäische Freihandelsassoziation, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) oder den Internationalen Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe (MICT), der die Arbeit der beiden Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) sowie für Ruanda (ICTR) fortführt.
Zur neuen Generation von Strafgerichten gehören die sogenannten Hybridgerichte oder auch internationalisierten Gerichte, die nationale und internationale Elemente vereinen: Zum einen bestehen Senate und Anklagebehörde aus nationalen und internationalen Richtern beziehungsweise Staatsanwälten. Zum anderen enthält das anwendbare Recht neben den Tatbeständen des Völkerstrafrechts auch Bestimmungen des nationalen Strafrechts. Im Unterschied zu den Ad-hoc-Strafgerichtshöfen, die durch eine Resolution des Sicherheitsrats ins Leben gerufen wurden, beruhen die Hybridgerichte zumeist auf bilateralen Abkommen des Tatortstaats mit den UN.
Zu diesen internationalisierten Gerichten gehören beispielsweise die sogenannten Regulation 64 Panels in Kosovo, die Sonderkammern in Timor-Leste, der Sondergerichtshof für Sierra Leone, die Außerordentlichen Kammern in Kambodscha oder das Sondertribunal für Libanon.
Das Besondere am Bereich des internationalen Strafrechts ist, dass hier nicht Konflikte zwischen Staaten behandelt werden, sondern über natürliche Personen gerichtet wird. Ein einmal anerkanntes internationales Gericht kann ein Urteil unabhängig von den Überzeugungen einzelner Staatsvertreter fällen. Entsprechend lang war der Weg zur Errichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs: Bereits 1872 wurde unter dem Eindruck der Grausamkeiten im preußisch-französischen Krieg von 1870/71 der erste förmliche Vorschlag zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs unterbreitet. Vor allem wegen der während des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen und der Tätigkeit der Internationalen Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio wurde die Idee auf UN-Ebene neu belebt. Die 1948 beschlossene Völkermordkonvention sah ein internationales Strafgericht vor, zu dessen Gründung es aber nicht kam. Auch spätere Bemühungen im Rahmen der UN blieben wegen des Kalten Kriegs ohne Erfolg.
1990 beauftragte die UN-Generalversammlung die Völkerrechtskommission, die Errichtung eines Strafgerichtshofs erneut zu prüfen. Die massiven Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien und der Völkermord in Ruanda führten zur Einrichtung zweier Ad-hoc-Strafgerichtshöfe. Dies gab dem Vorhaben eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs weiteren Auftrieb. 1994 legte die UN-Völkerrechtskommission ihren ersten Entwurf für ein Statut eines Internationalen Strafgerichtshofs vor. Die von der Generalversammlung beschlossene Konferenz zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) endete mit der Verabschiedung des Römischen Statuts am 17. Juli 1998. Nachdem 60 Staaten das Römische Statut ratifiziert hatten, trat es am 1. Juli 2002 in Kraft.
Bis zum 19. Juli 2017 wurde das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 124 Staaten ratifiziert. Zuletzt im März 2016 von El Salvador und zuvor im Januar 2015 von Palästina, wobei sowohl die Anerkennung Palästinas als Staat als auch die exakte Bestimmung der Staatsgrenzen einen Sonderfall darstellen (siehe "Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen"). Weitere 27 Staaten haben das Römische Statut unterschrieben, aber noch nicht ratifiziert. Acht Staaten lehnen das Statut gegenwärtig ab: China, Irak, Israel, Katar, Libyen, Russland, Sudan und die USA. Die USA, Israel, der Sudan und Russland hatten das Römische Statut zunächst unterzeichnet, später aber eine Ratifikation ausgeschlossen und ihre Unterschriften zurückgezogen (zuletzt Russland Ende 2016).
Im Jahr 2016 traten mit Südafrika, Burundi und Gambia erstmals Staaten von der Ratifizierung des Römischen Statuts zurück, wobei Südafrika im März 2017 und Gambia im Februar 2017 den Rücktritt widerriefen und der Rücktritt Burundis erst am 27.10.2017 wirksam wird. Gemeinsam ist den Staaten, dass sie dem IStGH anti-afrikanische Tendenzen vorwerfen.
Der IStGH soll weder die nationale Strafgerichtsbarkeit ersetzen noch nationale Verfahren überprüfen. Der Gerichtshof kann nur dann strafverfolgend tätig werden, wenn Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, eine bestimmte schwere Straftat ernsthaft zu verfolgen (Grundsatz der Komplementarität). Die Gerichtsbarkeit ist auf vier besonders schwere Verbrechen (Kernverbrechen) beschränkt: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und – nach Aktivierung der entsprechenden Bestimmungen – das Verbrechen der Aggression (siehe "Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen").
Der Gerichtshof kann seine Gerichtsbarkeit nicht nur ausüben, wenn sich ein Verbrechen in einem Staat ereignet, der die Gerichtsbarkeit des IStGH anerkannt hat, sondern auch dann, wenn der mutmaßliche Täter die Staatsangehörigkeit eines dieser Staaten besitzt. Die völkerrechtspolitische Errungenschaft besteht darin, dass sich Individuen vor einer unabhängigen richterlichen Institution der Staatengemeinschaft verantworten müssen.
Der IStGH ist nicht Teil der UN, sondern eine eigenständige Internationale Organisation mit Völkerrechtspersönlichkeit. Sein Sitz ist in Den Haag/Niederlande. Der Gerichtshof wird entweder aufgrund einer Initiative eines Vertragsstaates, des UN-Sicherheitsrats oder aufgrund eigener Initiative des Anklägers ("proprio motu") tätig. Der Strafgerichtshof hat keine eigene Polizei, keine Soldaten, keine Vollzugsgewalt, also keine exekutiven Befugnisse auf dem Territorium von Staaten.
Mitte 2017 war der Gerichtshof mit der Frage von Kernverbrechen in neun Staaten/Regionen befasst (zehn sogenannte Situationen). Dabei wurde der IStGH in fünf Fällen auf Initiative eines Vertragsstaates tätig (Uganda, Demokratische Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik I und II, Mali), zweimal ging die Initiative vom UN-Sicherheitsrat aus (Sudan/Region Darfur und Libyen) und dreimal vom Ankläger (Kenia, Côte d'Ivoire und Georgien).
Vorbereitende Untersuchungen des IStGH – aus denen keine Ermittlungen folgen müssen – gab es Mitte 2017 für Afghanistan, Burundi, Gabun, Guinea, den Irak/das Vereinigte Königreich, Kolumbien, Nigeria, Palästina, die Ukraine sowie zu Vorfällen auf registrierten Schiffen der Komoren, Griechenlands und Kambodschas ("Konvoi nach Gaza").
Sein erstes Urteil sprach der IstGH am 14. März 2012 gegen den früheren kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga, der wegen der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindersoldaten am 10. Juli 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt wurde. Ein weiteres Endurteil ist der Freispruch aus Mangel an Beweisen vom Dezember 2012 gegen den kongolesischen Milizenführer Mathieu Ngudjolo Chui. Im März 2014 wurde der Milizenführer Germain Katanga zu 12 Jahren Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Demokratischen Republik Kongo verurteilt.
Als erster Militärführer wurde im März 2016 Jean-Pierre Bemba schuldig gesprochen und im Juni 2016 zu einer 18-jährigen Haftstrafe verurteilt. Allerdings beschäftigt sich zurzeit die Berufungskammer mit dem Urteil. Schließlich wurde im September 2016 der Islamist Ahmad Al Faqi Al Mahdi wegen der Zerstörung von Kulturgütern in Timbuktu (Mali) zu neun Jahren Haft verurteilt.
Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen
Das Verbrechen der Aggression wurde auf der 1. Überprüfungskonferenz zum Römischen Statut in Kampala (Uganda) im Mai/Juni 2010 im Konsens von den Vertragsstaaten definiert. Hiernach ist ein Verbrechen der Aggression die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt, durch eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken. Eine Angriffshandlung liegt dann vor, wenn ein Staat Waffengewalt anwendet, die sich gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates richtet oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar ist.
Damit der Gerichtshof seine Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression ausüben kann, müssen nach dem 1. Januar 2017 zwei Drittel aller Vertragsstaaten die Aktivierung der neuen Bestimmungen beschließen und mindestens 30 Staaten müssen sie ratifizieren.
Bei der Staatlichkeit Palästinas orientiert sich der IStGH an dem Beschluss der UN-Generalversammlung vom 29. November 2012, nach dem Palästina ein beobachtender Nicht-Mitgliedstaat ist. Siehe hierzu auch: