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Subsidiarität | bpb.de

Subsidiarität

Manfred Spieker

Definition

Subsidiarität (S.) ist ein Begriff der Sozialphilosophie zur Kennzeichnung einer bestimmten Ordnung im Verhältnis von Staat und → Gesellschaft. Er stammt vom lat. „subsidium ferre“ (= Hilfestellung leisten) und besagt, dass der Staat im Verhältnis zur Gesellschaft nicht mehr, aber auch nicht weniger tun soll, als Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten.

Die klassische Formulierung des Prinzips der S. findet sich in Ziffer 79 der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ von Papst Pius XI., die 1931 „im vierzigsten Jahr“ der ersten Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ und vor dem Hintergrund der Expansion der totalitären Bewegungen des Kommunismus, des Faschismus und des Nationalsozialismus veröffentlicht wurde: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnetere Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen … Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär, sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen“.

Inhalt und Voraussetzungen

Das S.sprinzip ist ein Strukturprinzip einer freiheitlichen und menschenwürdigen Staats- und Gesellschaftsordnung. Es verpflichtet den Staat ebenso zur Aktivität wie zur Selbstbeschränkung. Es verpflichtet ihn zur Hilfe für die kleineren und untergeordneten Gliederungen (Länder, Kreise, Kommunen, Selbstverwaltungseinrichtungen), um der einzelnen Bürger und der Familien willen, aber es verbietet ihm auch die Intervention in deren Aufgaben, wenn diese sie aus eigenen Kräften erfüllen können. Können sie diese Aufgaben aus eigenen Kräften nicht erfüllen – z. B. im Bildungs- oder Sozialbereich – dann verpflichtet das S.sprinzip den Staat darüber hinaus, diese Aufgaben nicht gleich an sich zu ziehen, sondern Wege zu suchen, auf denen sich die Selbsthilfekräfte stärken lassen. Dem S.sprinzip eignet also eine positive, den Staat aktivierende, und eine negative, ihn abwehrende und zugleich vor Überforderung schützende Dimension. Beiden Dimensionen zugleich gerecht zu werden, ist das dauernde und häufig kontroverse Geschäft der Politik.

Das S.sprinzip geht von der anthropologischen Voraussetzung aus, dass das Gelingen des menschlichen Lebens in erster Linie von der Bereitschaft und der Fähigkeit des Individuums abhängt, Initiativen zu ergreifen, Anstrengungen auf sich zu nehmen und Leistungen zu erbringen. Der Mensch ist Schöpfer, Träger und Ziel aller sozialen Einrichtungen. Das S.sprinzip gewährleistet deshalb den Dienstcharakter der Gesellschaft und des Staates. Eine föderale, demokratische Verfassungsordnung liegt ebenso in seiner Logik wie eine freiheitliche und soziale Marktwirtschaft. Es ist aus sich selbst heraus antitotalitär. Es schützt die Zivilgesellschaft.

S. setzt Solidarität voraus. Nach den Strukturen gesellschaftlicher Hilfe und den Kompetenzen der einzelnen Ebenen zu fragen, hat erst Sinn, wenn diese gesellschaftliche Hilfe außer Frage steht. Auch die Solidarität ist anthropologisch begründet – in der Sozialnatur der Person. Sie verpflichtet den Staat zur Entwicklung eines sozialen Leistungssystems, für dessen menschenwürdige rechtliche Ordnung wiederum das S.sprinzip grundlegend ist.

Subsidiarität in der Rechts- und Verfassungsordnung und in der europäischen Integration

Im → GG wird das S.sprinzip in Art. 23 genannt. Dieser am 02.12.1992 im → Bundestag verabschiedete „Europaartikel“ verpflichtet D, bei der Entwicklung einer Europäischen Union mitzuwirken, „die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der S. verpflichtet ist“ (→ Europapolitik). Der Sache nach prägt das S.sprinzip die deutsche Rechts- und Verfassungsordnung aber schon seit 1949. Deutlich wird dies z. B. im Sozialrecht, im Tarifvertragsrecht und im Föderalismus (→ Bundesstaat/Föderalismus).

Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) von 1961 orientierten sich am S.sprinzip und räumten den freien Trägern der Sozialhilfe bzw. der Jugendhilfe einen 1967 auch vom → Bundesverfassungsgericht bestätigten Vorrang vor staatlichen und kommunalen Trägern ein. Im Tarifvertragsrecht zeigt sich das S.sprinzip vor allem in der Tarifautonomie der Sozialpartner, im föderalen Verfassungsrecht in den Kompetenzen der Länder bei der selbstständigen Erfüllung staatlicher Aufgaben (Art. 30, 70, 72 und 74 GG) und im kommunalen Selbstverwaltungsrecht (Art. 28, Abs. 2 GG).

Große Bedeutung kommt der S. nach wie vor bei der Vollendung der Wiedervereinigung Ds, bei der europäischen Integration und bei der Lösung des Nord-Süd-Konflikts zu. Die Wiedervereinigung Ds erfordert einen erheblichen Finanztransfer der westlichen an die östlichen → Bundesländer. Dieser Transfer muss wie auch alle ökonomischen und personellen Hilfen subsidiär, d. h. als Hilfe zur Selbsthilfe konzipiert bleiben. Sein Ende sollte 30 Jahre nach der Wiedervereinigung absehbar sein. Das S.sprinzip rechtfertigt keine Dauersubvention. Die europäische Integration hat auf die Wahrung regionaler Vielfalt und Eigenständigkeit zu achten. Die Verträge von Maastricht (1992), von Amsterdam (1997) und auch der 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon bezeichnen das S.sprinzip als Basis der Europäischen Union. Es gilt als Legitimitätsschlüssel in ihrem Erweiterungs- und Vertiefungsprozess, steht aber auch in der Gefahr, als Effizienzprinzip missverstanden zu werden, wenn die Effektivität, wie in Art. 3b des Vertrages von Lissabon, zum vorrangigen Kriterium der Kompetenzverteilung wird. Welchen Wandel die Wertschätzung des S.sprinzips in den vergangenen 30 Jahren erfuhr, lässt sich am Werk von Roman Herzog ablesen. In seiner Allgemeinen Staatslehre (1971) und in seinem Stichwort S.sprinzip in der 2. Auflage des Evangelischen Staatslexikons (1975) wird das S.sprinzip noch als Einschränkung staatlicher Souveränität kritisiert. In der 3. Auflage dieses Lexikons (1987) und vor allem in seiner Rede als Bundespräsident anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Padua am 24.09.1997 wirbt er für das S.sprinzip als eine „strukturelle Brücke zwischen dem Demokratieprinzip und der Personalität“.

Auch bei der Lösung des Nord-Süd-Konflikts einerseits und der Schuldenkrise im Euro-Währungsraum andererseits kommt dem S.sprinzip erhebliche Bedeutung zu. Wie jede Entwicklungshilfe nicht nur fruchtlos, sondern kontraproduktiv bleibt, wenn sie nicht an Initiativen der Entwicklungsländer anknüpfen kann, also Hilfe zur Selbsthilfe ist, so wird auch jede Kredithilfe für überschuldete Euro-Länder keine Hilfe sein, wenn sie nicht mit eigenen Anstrengungen und nachhaltiger Haushaltsdisziplin des verschuldeten Landes Hand in Hand geht. In der Bewältigung der Flüchtlings- und Migrationsbewegung seit 2015 wird das S.sprinzip zunächst hinter das Solidaritätsprinzip zurücktreten, dann aber doch zweierlei gebieten: zum einen die Beachtung nationaler Kapazitäten und kultureller Traditionen in Verteilungsentscheidungen der EU, und zum anderen die Erinnerung an die Verantwortung der Herkunftsländer für die Ströme von Flüchtlingen und Migranten.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Manfred Spieker

Fussnoten