Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

1969: "Battle of the Bogside" in Nordirland | Hintergrund aktuell | bpb.de

1969: "Battle of the Bogside" in Nordirland

Redaktion

/ 4 Minuten zu lesen

Eine protestantische Parade vorbei an einem katholischen Wohnviertel in Derry/Londonderry ließ am 12. August 1969 den Nordirlandkonflikt eskalieren. Erst drei Jahrzehnte später konnte ein brüchiger Frieden erreicht werden. Heute gefährdet der Brexit den Friedensprozess.

Drei Tage dauerten die Unruhen in Derry/Londonderry im August 1969 an. Die Polizei ging mit Tränengas, Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen gegen die Demonstranten vor. (© picture-alliance, empics)

Ende der 1960er-Jahre formierte sich in Nordirland eine Bürgerrechtsbewegung, die eine systematische Benachteiligung der Katholiken des Landes anprangerte, etwa bei der Vergabe kommunaler Wohnungen und bei Wahlen. Ein Beispiel dafür war Derry/Londonderry, wo trotz einer katholischen Bevölkerungsmehrheit eine protestantische Mehrheit ins Stadtparlament einzog, weil die Wahlbezirksgrenzen zum Vorteil der Protestanten gesetzt worden waren.

Derry oder Londonderry?

Der Nordirlandkonflikt schlägt sich auch in der Bezeichnung der zweitgrößten Stadt Nordirlands nieder: Wie man die Stadt nennt, kann politisch interpretiert werden: "Londonderry" erinnert an die Orientierung in Richtung Großbritannien und wird daher von den protestantisch-unionistischen Bewohnern bevorzugt, die Kurzform "Derry" hingegen vom katholisch-nationalistischen Lager.

Als britische Kulturhauptstadt 2013 trat die Stadt unter dem Namen "Derry~Londonderry" auf. Wegen der Schreibweise "Derry/Londonderry" oder auch "L/Derry" wird die Stadt auch "Stroke City" genannt – "stroke" bezeichnet den Strich.

Seit 1968 gab es in Derry/Londonderry – wie in ganz Nordirland – immer wieder Ausschreitungen zwischen protestantischen und katholischen Bevölkerungsgruppen. Am 12. August 1969 kam es in der Stadt zu heftigen Straßenschlachten zwischen den beiden Lagern sowie der Polizei. Die Ereignisse führten zu einer weiteren Verschärfung des nordirischen Konflikts. Während des folgenden Bürgerkrieges starben zwischen 1968 und 1998 insgesamt rund 3.500 Menschen infolge der Gewalt.

Zwei Bevölkerungsgruppen verfolgen in Nordirland territoriale und politische Ziele, die sich gegenseitig ausschließen. Auf der einen Seite tritt die protestantische Gemeinschaft für den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich ein. Die wegen ihrer loyalen Haltung zur britischen Krone und ihrem Festhalten an der Einheit des Königreichs auch als loyalistisch bzw. unionistisch bezeichneten Protestanten berufen sich dabei auf ihre englischen und schottischen Vorfahren, die Irland vor Jahrhunderten eroberten bzw. kolonisierten.

Ihnen gegenüber steht die katholische Gemeinschaft, die sich von Großbritannien loslösen und ein Vereinigtes Irland gründen will. Weil sie den irischen Nationalismus unterstützen und nach Zugehörigkeit zur Irischen Republik streben, werden Mitglieder der katholischen Gemeinschaft auch als nationalistisch oder republikanisch bezeichnet.

Bevölkerungszusammensetzung in Nordirland 2001
Interner Link: Hier finden Sie die Karte als hochauflösende pdf-Datei. (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Anlass der Eskalation war eine protestantische Parade

Der Anlass des Gewaltausbruchs am 12. August 1969 war eine Parade des protestantischen Ordens "Apprentice Boys" entlang der Grenze des Stadtbezirks Bogside. Jedes Jahr erinnert die protestantische Gemeinschaft mit der Parade an den erfolgreichen Widerstand der Bewohner gegen die Belagerung Londonderrys durch den katholischen König Jakob II. von England im Jahr 1689. Viele Katholiken sahen in der Parade jedoch eine Provokation. Zudem beklagten sie eine in Wirtschaft und Gesellschaft bestehende Benachteiligung gegenüber der protestantischen Gemeinschaft.

Zu jener Zeit war der überwiegende Teil der nordirischen Bevölkerung zwar protestantisch – in Derry/Londonderry waren 1969 jedoch zwei Drittel der Einwohner katholisch. Als am 12. August die protestantische Parade an der Bezirksgrenze von Bogside entlangzog, entlud sich die aufgeladene Stimmung zwischen beiden Seiten schließlich in einer Eskalation der Gewalt. Die damals nahezu ausschließlich mit Protestanten besetzte nordirische Polizei versuchte, die Kämpfe mit Tränengas, Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen zu beenden. Die katholischen Bewohner von Bogside wehrten sich gegen die Beamten und die ihnen folgenden protestantischen Demonstranten. Die Unruhen dauerten drei Tage an.

Nordirlandkonflikt eskalierte weiter

Erst als die britische Regierung Soldaten nach Derry/Londonderry schickte, beruhigte sich die Lage – allerdings nur vorrübergehend. Denn andernorts, vor allem in der nordirischen Hauptstadt Belfast, flammte die Gewalt in der Folge erneut auf. Mehrere Menschen kamen ums Leben, zahlreiche wurden verletzt.

In den 1970er-Jahren eskalierte der Nordirland-Konflikt weiter. Auch Bogside wurde immer wieder Schauplatz der Gewalt. Etwa als am "Bloody Sunday", dem 30. Januar 1972, die britische Armee eine Protestkundgebung von Katholiken gegen die teils willkürlichen und ohne Gerichtsverfahren vollzogenen Inhaftierungen vermeintlicher Sympathisanten der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) mit Waffengewalt auflöste und dabei 13 Demonstranten durch Schüsse der Polizisten getötet wurden.

Karfreitagsabkommen beendete den Bürgerkrieg

Erst mit dem Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 wurde der nordirische Bürgerkrieg offiziell beendet. Es sah für Nordirlands Zukunft eine Konkordanzdemokratie vor, in der beide Seiten an der Regierung beteiligt werden sollten – Unionisten und irische Nationalisten. Nach der Unterzeichnung des Abkommens lief die gemeinsame Regierungsarbeit zunächst schleppend an. Realität wurde die vereinbarte Regierungsform erst 2007, zwei Jahre nachdem die IRA das Ende des bewaffneten Kampfes und die Abgabe ihrer Waffen bekannt gegeben hatte. Am 8. Mai 2007 einigten sich die protestantische Democratic Unionist Party (DUP) und die katholische Sinn Féin auf eine gemeinsame Regierung Nordirlands.

Anfang 2017 zerbrach die Koalition aus der DUP und der Sinn Féin jedoch. Seither kam keine neue Regierung zustande und das Land wird von Beamten unter Aufsicht eines britischen Ministers regiert.

Brüchiger Frieden

In jüngster Zeit zeigten sich politische Beobachter besorgt um die Entwicklung in Nordirland. Fünfzig Jahre nach dem "Battle of the Bogside" erscheint eine erneute Eskalation der Gewalt nicht mehr ausgeschlossen. Bei gewaltsamen Ausschreitungen in Derry/Londonderry im Frühjahr 2019 wurde eine Journalistin erschossen.

... über die Entstehung und Zukunft des Nationalismus in Nordirland

Vor allem mit dem Brexit drohen negative Konsequenzen, die den Friedensprozess in Nordirland gefährden könnten. Beim EU-Referendum 2016 hatten sich 56 Prozent der nordirischen Bevölkerung für einen Verbleib in der EU, 44 Prozent dagegen ausgesprochen. Einer der größten Streitpunkte in den Brexit-Verhandlungen ist die Grenze zwischen Nordirland und Irland. Derzeit existiert diese de facto nur auf dem Papier. Die Einwohner auf beiden Seiten können sich vollkommen frei bewegen. Doch wenn Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt austritt, erscheint die Wiedereinführung von Zollkontrollen derzeit kaum vermeidbar. Nach Ansicht von Experten könnte eine "harte Grenze" zu einer erneuten Destabilisierung der Region führen.

Mehr zum Thema:

Weitere Inhalte

Weitere Inhalte

Artikel

Nordirland

Die ehemals verfeindet gegenüberstehenden Lager – Unionisten und Nationalisten – lenken seit 2007 gemeinsam die Geschicke Nordirlands. Die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung…

Hintergrund aktuell

30. Januar 1972: Bloody Sunday in Nordirland

Vor 45 Jahren wurden während eines Protestmarsches in der nordirischen Stadt Londonderry dreizehn Menschen vom britischen Militär erschossen – ein weiterer starb später an seinen Verletzungen.…

Hintergrund aktuell

2005: IRA beendet ihren bewaffneten Kampf

Nach Jahren des gewaltsamen Kampfes erklärte die Irisch-Republikanische Armee am 28. Juli 2005, dass sie ihr Ziel eines vereinigten Irlands von nun an politisch verfolgen wolle. Gewaltbereite…

Video Dauer
Veranstaltungsmitschnitt

Zurück in die Zukunft?

Auch fast zwei Jahre nach der Entscheidung der Briten, die Europäische Union zu verlassen und damit den Brexit zu besiegeln, ist vieles ungeklärt: Wo wird sich künftig die EU-Außengrenze befinden?…

Brexit

Uneiniges Königreich?

Die britische Entscheidung, die EU zu verlassen, hat das Vereinigte Königreich territorial, politisch und gesellschaftlich gespalten. Diese Brüche zu überwinden, ist eine bisher ungelöste Aufgabe…

Das Europalexikon

Nordirlandkonflikt

Auf den ersten Blick herrscht Frieden in Nordirland. Mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 begann eine Periode politischer Stabilität. Stabilität heißt in Nordirland aber nicht die völlige…

Großbritannien

Nordirlands Bildungspolitik und die politische Lage

Der Beitrag beleuchtet die Rolle der Bildungspolitik für die Lösung der Konflikte in Nordirland, die sich aus dem Lagerdenken der republikanischen Katholiken und unionistischen Protestanten ergeben.

„Hintergrund Aktuell“ ist ein Angebot der Onlineredaktion der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Es wird von den Redakteur/-innen und Volontär/-innen der Onlineredaktion der bpb redaktionell verantwortet und seit 2017 zusammen mit dem Südpol-Redaktionsbüro Köster & Vierecke erstellt.

Interner Link: Mehr Informationen zur Redaktion von "Hintergrund aktuell"