Ende der 1960er-Jahre formierte sich in Nordirland eine Bürgerrechtsbewegung, die eine systematische Benachteiligung der Katholiken des Landes anprangerte, etwa bei der Vergabe kommunaler Wohnungen und bei Wahlen. Ein Beispiel dafür war Derry/Londonderry, wo trotz einer katholischen Bevölkerungsmehrheit eine protestantische Mehrheit ins Stadtparlament einzog, weil die Wahlbezirksgrenzen zum Vorteil der Protestanten gesetzt worden waren.
Derry oder Londonderry?
Der Nordirlandkonflikt schlägt sich auch in der Bezeichnung der zweitgrößten Stadt Nordirlands nieder: Wie man die Stadt nennt, kann politisch interpretiert werden: "Londonderry" erinnert an die Orientierung in Richtung Großbritannien und wird daher von den protestantisch-unionistischen Bewohnern bevorzugt, die Kurzform "Derry" hingegen vom katholisch-nationalistischen Lager.
Als britische Kulturhauptstadt 2013 trat die Stadt unter dem Namen "Derry~Londonderry" auf. Wegen der Schreibweise "Derry/Londonderry" oder auch "L/Derry" wird die Stadt auch "Stroke City" genannt – "stroke" bezeichnet den Strich.
Seit 1968 gab es in Derry/Londonderry – wie in ganz Nordirland – immer wieder Ausschreitungen zwischen protestantischen und katholischen Bevölkerungsgruppen. Am 12. August 1969 kam es in der Stadt zu heftigen Straßenschlachten zwischen den beiden Lagern sowie der Polizei. Die Ereignisse führten zu einer weiteren Verschärfung des nordirischen Konflikts. Während des folgenden Bürgerkrieges starben zwischen 1968 und 1998 insgesamt rund 3.500 Menschen infolge der Gewalt.
Zwei Bevölkerungsgruppen verfolgen in Nordirland territoriale und politische Ziele, die sich gegenseitig ausschließen. Auf der einen Seite tritt die protestantische Gemeinschaft für den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich ein. Die wegen ihrer loyalen Haltung zur britischen Krone und ihrem Festhalten an der Einheit des Königreichs auch als loyalistisch bzw. unionistisch bezeichneten Protestanten berufen sich dabei auf ihre englischen und schottischen Vorfahren, die Irland vor Jahrhunderten eroberten bzw. kolonisierten.
Ihnen gegenüber steht die katholische Gemeinschaft, die sich von Großbritannien loslösen und ein Vereinigtes Irland gründen will. Weil sie den irischen Nationalismus unterstützen und nach Zugehörigkeit zur Irischen Republik streben, werden Mitglieder der katholischen Gemeinschaft auch als nationalistisch oder republikanisch bezeichnet.
Anlass der Eskalation war eine protestantische Parade
Der Anlass des Gewaltausbruchs am 12. August 1969 war eine Parade des protestantischen Ordens "Apprentice Boys" entlang der Grenze des Stadtbezirks Bogside. Jedes Jahr erinnert die protestantische Gemeinschaft mit der Parade an den erfolgreichen Widerstand der Bewohner gegen die Belagerung Londonderrys durch den katholischen König Jakob II. von England im Jahr 1689. Viele Katholiken sahen in der Parade jedoch eine Provokation. Zudem beklagten sie eine in Wirtschaft und Gesellschaft bestehende Benachteiligung gegenüber der protestantischen Gemeinschaft.
Zu jener Zeit war der überwiegende Teil der nordirischen Bevölkerung zwar protestantisch – in Derry/Londonderry waren 1969 jedoch zwei Drittel der Einwohner katholisch. Als am 12. August die protestantische Parade an der Bezirksgrenze von Bogside entlangzog, entlud sich die aufgeladene Stimmung zwischen beiden Seiten schließlich in einer Eskalation der Gewalt. Die damals nahezu ausschließlich mit Protestanten besetzte nordirische Polizei versuchte, die Kämpfe mit Tränengas, Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen zu beenden. Die katholischen Bewohner von Bogside wehrten sich gegen die Beamten und die ihnen folgenden protestantischen Demonstranten. Die Unruhen dauerten drei Tage an.
Nordirlandkonflikt eskalierte weiter
Erst als die britische Regierung Soldaten nach Derry/Londonderry schickte, beruhigte sich die Lage – allerdings nur vorrübergehend. Denn andernorts, vor allem in der nordirischen Hauptstadt Belfast, flammte die Gewalt in der Folge erneut auf. Mehrere Menschen kamen ums Leben, zahlreiche wurden verletzt.
In den 1970er-Jahren eskalierte der Nordirland-Konflikt weiter. Auch Bogside wurde immer wieder Schauplatz der Gewalt. Etwa als am "Bloody Sunday", dem 30. Januar 1972, die britische Armee eine Protestkundgebung von Katholiken gegen die teils willkürlichen und ohne Gerichtsverfahren vollzogenen Inhaftierungen vermeintlicher Sympathisanten der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) mit Waffengewalt auflöste und dabei 13 Demonstranten durch Schüsse der Polizisten getötet wurden.
Karfreitagsabkommen beendete den Bürgerkrieg
Erst mit dem Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 wurde der nordirische Bürgerkrieg offiziell beendet. Es sah für Nordirlands Zukunft eine Konkordanzdemokratie vor, in der beide Seiten an der Regierung beteiligt werden sollten – Unionisten und irische Nationalisten. Nach der Unterzeichnung des Abkommens lief die gemeinsame Regierungsarbeit zunächst schleppend an. Realität wurde die vereinbarte Regierungsform erst 2007, zwei Jahre nachdem die IRA das Ende des bewaffneten Kampfes und die Abgabe ihrer Waffen bekannt gegeben hatte. Am 8. Mai 2007 einigten sich die protestantische Democratic Unionist Party (DUP) und die katholische Sinn Féin auf eine gemeinsame Regierung Nordirlands.
Anfang 2017 zerbrach die Koalition aus der DUP und der Sinn Féin jedoch. Seither kam keine neue Regierung zustande und das Land wird von Beamten unter Aufsicht eines britischen Ministers regiert.
Brüchiger Frieden
In jüngster Zeit zeigten sich politische Beobachter besorgt um die Entwicklung in Nordirland. Fünfzig Jahre nach dem "Battle of the Bogside" erscheint eine erneute Eskalation der Gewalt nicht mehr ausgeschlossen. Bei gewaltsamen Ausschreitungen in Derry/Londonderry im Frühjahr 2019 wurde eine Journalistin erschossen.
Vor allem mit dem Brexit drohen negative Konsequenzen, die den Friedensprozess in Nordirland gefährden könnten. Beim EU-Referendum 2016 hatten sich 56 Prozent der nordirischen Bevölkerung für einen Verbleib in der EU, 44 Prozent dagegen ausgesprochen. Einer der größten Streitpunkte in den Brexit-Verhandlungen ist die Grenze zwischen Nordirland und Irland. Derzeit existiert diese de facto nur auf dem Papier. Die Einwohner auf beiden Seiten können sich vollkommen frei bewegen. Doch wenn Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt austritt, erscheint die Wiedereinführung von Zollkontrollen derzeit kaum vermeidbar. Nach Ansicht von Experten könnte eine "harte Grenze" zu einer erneuten Destabilisierung der Region führen.
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