Sprachenvielfalt auf dem Kontinent
Etwa ein Drittel der über 6000 Sprachen der Welt wird von Afrikanern gesprochen. Der Sprachenreichtum auf dem afrikanischen Kontinent ist auch in der immer noch weit verbreiteten Subsistenzwirtschaft begründet, bei der der Einzelne nur in und mit der Gemeinschaft überleben kann. Die gemeinsame Sprache ist sehr bedeutsam für die Schaffung und Erhaltung einer Gruppenidentität. Viele ländliche Gemeinschaften bleiben von nationalen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und haben nur begrenzt Zugang zu Bildungseinrichtungen. In diesen Lebensumständen spielt die gemeinsame ethnische Sprache eine außerordentlich wichtige Rolle, nicht nur im kulturellen, sondern auch im sozialen und wirtschaftlichen Alltagsleben.
In den Staaten südlich der Sahara werden zwischen 1700 und 2200 Sprachen gesprochen. Präzisere Angaben sind aus zwei Gründen nicht möglich: Zum einen sind viele der afrikanischen Sprachen nicht ausreichend erforscht, zum anderen existiert das grundsätzliche Problem der Entscheidung, ob bestimmte sprachliche Varietäten als unterschiedliche Sprachen oder als Dialekte einer Sprache gelten sollen. Diese Grenzziehung erweist sich vor allem dort als schwierig, wo ein fließender Übergang zwischen Sprachen existiert, und - was für die Mehrzahl der afrikanischen Sprachen gilt - keine standardisierten Schriftformen existieren. Tatsächlich sind es aber nicht diese linguistischen Kriterien, sondern politisch-historische Gründe, die sprachlichen Varietäten den Status von Sprachen verleihen.
Sprachfamilien und ihre Verbreitung
Der amerikanische Sprachwissenschaftler Joseph Greenberg unterschied ursprünglich vier übergeordnete Sprachfamilien auf dem afrikanischen Kontinent: Niger-Kordofanisch, Afroasiatisch, Nilo-Saharanisch und Khoisan. Die Verbreitung der Niger-Kordofanischen Sprachfamilie reicht vom äußersten Westen des Kontinents bis zum südlichsten Zipfel, und auch in den ostafrikanischen Staaten werden Sprachen dieser Familie gesprochen. Die mit Abstand größte Untergruppe stellen die bis zu 700 Bantu-Sprachen dar, die vorwiegend südlich des Äquators vorkommen und deren bekannteste das Swahili (Ki-Swahili, dt. Suaheli) ist.
Die Mehrzahl der etwa 360 Sprachen der Afroasiatischen Sprachfamilie konzentriert sich überwiegend im Nordosten des Kontinents. Jedoch haben Sprechergemeinschaften dieser Sprachfamilie bereits seit Jahrtausenden in Auswanderungswellen auch große Teile des ostafrikanischen Raums bevölkert. Zur Afroasiatischen Sprachfamilie zählen neben dem nur noch schriftlich überlieferten Ägyptischen und den Amazighsprachen (früher: Berbersprachen) die semitischen Sprachen wie Arabisch, aber auch die äthio-semitischen Sprachen Äthiopiens und Eritreas wie Amharisch und Tigrinya. Oromo in Äthiopien und Somali sind die bedeutendsten Sprachen der kuschitischen Unterfamilie des Afroasiatischen. Die größte Unterfamilie bilden die etwa 120 Tschadischen Sprachen, die im Tschad, in Niger, Kamerun und vor allem in Nigeria gesprochen werden. Zu diesen zählt auch das in weiten Teilen Westafrikas verbreitete Hausa.
Die geographische Verbreitung der Nilo-Saharanischen Sprachfamilie reicht vom Tschad bis in den ostafrikanischen Raum. Ihre nach Sprecherzahlen größten Untergruppierungen sind die nilotischen Sprachen Luo in Kenia und Tansania sowie Dinka im Südsudan.
Die von Greenberg behauptete genetische Verwandtschaft aller Khoisan-Sprachen, das heißt der Sprachen, deren ursprüngliches Lautinventar Schnalze aufweist, gilt heute als nicht beweisbar. Vielmehr geht man nun von mindestens drei nicht-verwandten Khoisan-Familien aus. Die meisten der Khoisan-Sprachen werden von San gesprochen, den Jägern und Sammlern des südlichen Afrika, die früher als "Buschmänner" bezeichnet wurden. Die bei weitem größte Khoisan-sprachige Sprachgemeinschaft sind allerdings die Vieh haltenden Khoekhoe (Nama) in Namibia.
Sprachpolitik
In vielen afrikanischen Staaten wurde und wird Sprachenvielfalt von seiten der Politik noch immer als Bedrohung für die Herausbildung nationaler Einheit gewertet. Sie sehen im Sprachenpluralismus ein Konfliktpotenzial, das jederzeit von separatistischen Bewegungen mobilisiert werden kann, um die staatliche Einheit zu untergraben. Die langjährigen kriegerischen Konflikte in den wenigen sprachlich homogenen afrikanischen Staaten Ruanda, Burundi und Somalia zeigen jedoch, dass eine gemeinsame Sprache staatliche Einheit keineswegs garantiert.
Da die offizielle Anerkennung und Verwendung von afrikanischen Sprachen als konfliktträchtig angesehen wurde, übernahm die Mehrzahl der afrikanischen Staaten bei der Unabhängigkeit die von den Kolonialmächten eingeführten europäischen Sprachen als offizielle Landessprachen. Nur wenige Nationen wagten es, einen eigenen Weg einzuschlagen, indem sie eine einheimische Sprache zur offiziellen Landessprache erklärten, so etwa Äthiopien mit Amharisch, Tansania mit Swahili und Botsuana mit Tswana. Während diese sprachpolitische Entscheidung in Tansania und Botsuana tatsächlich eine Stabilisierung des Staates unterstützte, löste die Dominanz der Amharen und ihrer Sprache in Äthiopien einen 30-jährigen Bürgerkrieg aus, der erst mit der Unabhängigkeit Eritreas im Jahre 1993 und der Anerkennung der übrigen Landessprachen in Äthiopien ein Ende fand.
Zu den politisch begründeten Vorbehalten gegen Sprachenvielfalt treten auch ökonomische Bedenken. Ein sprachlich heterogener Staat sei immer unterentwickelt, lautet eine häufig zitierte Behauptung, die auf der Beobachtung basiert, dass die Mehrzahl der europäischen Industrienationen im Wesentlichen - von der Schweiz und Belgien abgesehen - monolingual ist. Eine eurozentrische Vorstellung von Entwicklung, die nach westlich-kapitalistischem Vorbild eine Einbindung in den Weltmarkt anstrebt, verlangt tatsächlich nach Anpassung der afrikanischen Staaten, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Für den Zugang zum Weltmarkt bringt die Verwendung afrikanischer Sprachen, auch wenn sie nationenweit gesprochen werden, keine Vorteile mit sich. Moderne Kommunikationsformen erfordern vielmehr, dass eine europäische Sprache in der gesamten Bevölkerung verbreitet ist.
Sprachgebrauch im Alltag
Sowohl in den afrikanischen Städten als auch auf dem Lande ist die große Sprachenvielfalt ein wichtiger Faktor im alltäglichen Miteinander. Fast alle Afrikanerinnen und Afrikaner beherrschen mehrere Sprachen und setzen diese in unterschiedlichen Situationen ein. Im Kreis der Verwandten und der Dorfgemeinschaft wird in der Muttersprache kommuniziert. Auf dem Markt, wo Menschen unterschiedlicher Ethnien zusammentreffen, bedienen sie sich einer so genannten Verkehrssprache. Bei Behördengängen oder beim Besuch einer höheren Schule werden häufig die Sprachen der ehemaligen Kolonialmächte gefordert, nämlich Englisch, Französisch oder Portugiesisch. Die Muttersprachen der auf dem Lande lebenden Volksgruppen besitzen üblicherweise das geringste Prestige. Afrikanische Verkehrssprachen oder die eingeführten europäischen Sprachen genießen dagegen ein hohes Ansehen und werden auch von der politischen und wissenschaftlichen Elite in der Öffentlichkeit verwendet.
Afrikanische Verkehrssprachen spielen auf dem Kontinent eine besonders große Rolle, und Swahili ist sicher die wichtigste unter ihnen. In Tansania dominiert diese Sprache in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, etwa in den Grundschulen, in den Medien, in der Verwaltung, bei öffentlichen Versammlungen oder in den Kirchen. Eine Grundsatzentscheidung auf dem Weg zum "afrikanischen Sozialismus", den Tansania nach der Unabhängigkeit 1961 unter der Führung Julius Nyereres einschlug, bestand darin, dem Swahili nicht nur nationalen, sondern auch offiziellen Status zu verleihen. Heute verwenden weit über die Grenzen Tansanias hinaus viele Millionen Menschen Swahili als Verkehrssprache. So sprechen etwa 70 Prozent der Kenianer Swahili als Zweitsprache, und auch in Uganda wird es häufig gewählt, wenn Sprecher unterschiedlicher Muttersprachen aufeinandertreffen.
Hausa ist die am weitesten verbreitete Sprache im westlichen Afrika südlich der Sahara und wird von über 40 Millionen Menschen gesprochen, wobei sie für ein Drittel von ihnen Zweitsprache ist. Die Ausdehnung des Hausa geht auf seinen Gebrauch als Sprache der Islamisierung zurück, die diesen Raum im 14. Jahrhundert erreichte, aber auch auf die rege Handelstätigkeit der Hausa. Andere Sprachen mit überregionaler Bedeutung sind beispielsweise das Bambara, das in Mali und allen umgebenden Staaten von insgesamt etwa zehn Millionen Menschen gesprochen wird, oder Lingala und Sango, beides Sprachen, die im zentralen Afrika von mehreren Millionen Menschen als Verkehrssprachen genutzt werden.
Arabisch ist die meist gesprochene aller afrikanischen Sprachen und offizielle Landessprache in sieben nordafrikanischen Staaten. Es breitete sich im Zuge der Islamisierung vor etwa 1400 Jahren über Ägypten bis zum Atlantischen Ozean aus und wurde die neue Muttersprache der vormals Amazigh-sprachigen Bevölkerungen. Nur in Marokko und Algerien haben Amazigh-Sprachgemeinschaften in größerer Zahl ihre Sprachen bis heute beibehalten. Als Verkehrssprache konnte sich Arabisch in nur wenigen Teilen Afrikas durchsetzen, allerdings leben über 60 Prozent der Arabisch-Sprecher auf dem afrikanischen Kontinent.
Nach einer Forderung der UNESCO von 1953 soll jedes Kind die Schulausbildung in seiner Muttersprache beginnen. In Afrika werden bisher jedoch kaum mehr als 200 Sprachen als Unterrichtssprache verwendet, also weniger als zehn Prozent. Die meisten afrikanischen Staaten sind wegen der großen Zahl der Sprachen nicht in der Lage, alle von ihnen in den Schulen zu berücksichtigen. Staaten wie Kenia und Uganda liegen mit mehr als 30 Sprachen im mittleren Bereich, was Sprachreichtum angeht. Nur wenige sind (annähernd) einsprachig, nämlich Lesotho, Swasiland, Burundi, Ruanda und Somalia, sieht man von den arabischsprachigen Staaten im Norden Afrikas ab. Dagegen haben Tansania mit etwa 140, Kamerun mit weit mehr als 200 und Nigeria mit bis zu 500 Sprachen eine enorme Sprachenvielfalt aufzuweisen. Lehrerausbildung sowie das Erstellen von Lehr- und Lernmaterial für die Landessprachen sind für die letztgenannten Staaten aufwändige und kostspielige Unterfangen.
Die Sprachenvielfalt auf dem afrikanischen Kontinent stellt einen kulturellen Reichtum dar, der jedoch zunehmend zu verschwinden droht. Denn immer mehr Sprachgemeinschaften, vor allem kleinere, geben ihre eigene Sprache auf, um die Sprache größerer, einflussreicherer Volksgruppen zu übernehmen. Damit geht nicht nur in Jahrtausenden gesammeltes kultur-spezifisches Wissen verloren, sondern auch die Möglichkeit, die in jeder Sprache jeweils eigenen Formen des menschlichen Denkens zu erhalten.
Es wird oft behauptet, dass die Sprachenvielfalt Afrikas die Kommunikationsmöglichkeiten einschränkt und damit auch die Entwicklung des Kontinents hemmt. Mehrsprachigkeit hat aber in Afrika eine lange Tradition und stellt eine Möglichkeit dar, wie auch ohne die Aufgabe der eigenen Sprache nationale und internationale Kommunikation ermöglicht werden kann. Nicht die Sprachenvielfalt auf dem afrikanischen Kontinent ist das Problem, sondern die Tatsache, dass die Bevölkerung der afrikanischen Staaten bis heute mehrheitlich nicht in der Lage ist, die europäische Sprache zu sprechen und zu verstehen, in der sie regiert und verwaltet wird.
Identitäten in Politik und Gesellschaft
Politische und soziale Identitäten in Afrika werden zumeist über die Herkunft bzw. über die Abstammung bestimmt, an vorderster Stelle durch die ethnische Zugehörigkeit, gefolgt vom Klan und der Großfamilie. Kaum ein politisches Ereignis, kaum ein gewaltsamer Konflikt - ohne einen Hinweis auf die ethnische Identität der beteiligten Akteure. Im öffentlichen Sprachgebrauch wird anstelle der Ethnie oft synonym vom "Stamm" auf einer Ebene mit "Volk" geredet, während in der Ethnologie der "Stamm" auch die Untergruppe einer Ethnie oder eines "Volkes" sein kann. Die Begriffe sind in ihrer Verwendung bisweilen unscharf und wechselhaft.
Bis in die jüngere Gegenwart wurde die Existenz nationaler Identitäten für Afrika in Zweifel gezogen. Sie galten als "künstlich" oder wurden zumindest mit Hinweis auf die post-kolonialen Prozesse des Nationenaufbaus noch als im Entstehen begriffen gesehen. Indessen setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass die Menschen in Afrika - wie in anderen Weltregionen auch - gleichzeitig über mehrere politische und soziale Identitäten verfügen, die je nach kommunikativem Rahmen zur Geltung kommen. So gibt es neben ethnischen, regionalen, distriktbezogenen und lokalen, dörflichen Identitäten sowie religiösen, professionellen und verschiedenen sozialen Gruppenidentitäten auch eine nationale Identität.
Ihre Ausprägung ist sehr viel weiter fortgeschritten als gemeinhin angenommen wird. Im Sinne einer staatsbezogenen Identität als Tansanier/in oder Kenianer/in ist der Nationenaufbau in weiten Teilen des Kontinents bereits gelungen. Die engagierte Identifikation mit der jeweiligen nationalen Fußballmannschaft hat mehr als nur symbolischen Charakter. Umgekehrt zeugen auch gängige Diskriminierungen und Vorurteile von einer Identität, die auf den Staat bezogen ist. In der Elfenbeinküste werden eingewanderte Mossi und Dioula als Burkiner verfemt und angegriffen, ebenso in Südafrika Migranten verschiedener ethnischer Identität als Simbabwer oder Mosambikaner bedroht und vertrieben - und die Nigerianer sind in weiten Teilen Afrikas als clevere Geschäftsleute berüchtigt und von strengen Einreiseregeln betroffen.
Wenn ein Luo aus Kenia in Uganda einen Chagga aus Tansania trifft, dann begegnen sie sich nicht als Luo und Chagga, sondern als Kenianer und Tansanier; erst die zweite Frage gilt der Klärung, woher die Person in dem jeweiligen Land kommt. Treffen sich jedoch ein Luo und ein Kikuyu, so wird die gemeinsame Identität als Kenianer sekundär, und sie begegnen sich als Luo und Kikuyu. Auch die westafrikanischen Fulbe, deren Siedlungsgebiet von Kamerun bis nach Senegal reicht, unterscheiden klar, woher sie jeweils kommen und verstehen sich als Beniner, Burkiner oder Senegalesen - erst in zweiter Linie begreifen sie sich als Fulbe.
Ähnlich wie der Begriff der Nation wird ethnische Gruppenidentität heute nicht mehr als etwas "Angeborenes" und "Natürliches" betrachtet. Vielmehr gilt sie als Ergebnis eines gesellschaftlich-historischen Sozialisationsprozesses, der maßgeblich auch durch politische Entscheidungen beeinflusst wird. Ethnische Gruppen zeichnen sich durch eine eigene Geschichte, Sprache, Kultur und teilweise auch Religion aus. Oft ist dies verbunden mit dem Anspruch auf ein bestimmtes Territorium bzw. auf eine gemeinsame Abstammung, die allerdings mythischer Natur ist. Die Entdeckung und Erzählung einer gemeinsamen ethnischen oder nationalen Geschichte geschieht immer erst im Rückblick. Durch geschichtliche Entwicklungen sollen so soziale und politische Gegebenheiten der Gegenwart erklärt und vor allem rechtfertigt werden.
Ähnlich und zugleich viel problematischer verhält es sich mit dem Begriff der Klans. Diese sind ebenfalls keine biologischen, sondern mythische, das heißt sozial konstruierte Abstammungsgemeinschaften. Das Problem ist nur, dass Klans als eigene soziale oder gar politische Organisationsform weder historisch noch gegenwärtig in allen afrikanischen Gesellschaften eine Rolle gespielt haben bzw. spielen. Viele Gesellschaften kannten diese Organisationsform gar nicht, und dort, wo es sie gab, konnte sie eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben - oft nur eine soziale oder eingeschränkt rituelle, sehr selten eine politische. Hinzu kommt, dass prinzipiell gleiche oder ähnliche soziale Gebilde in der Terminologie der Ethnologen als Klan gelten, von anderen aber als "Stamm" bezeichnet werden. Sozial tatsächlich bedeutsam sind die so genannten lineages, das heißt, konkrete Abstammungsgruppen, deren Mitglieder sich präzise über biologische Abstammungslinien bestimmen lassen.
Eine ethnische Identität bedeutet, genauso wie eine nationale, für sich gesehen noch keinen Konflikt oder ein hohes Gewaltpotenzial. In den meisten afrikanischen Ländern lebt die Mehrzahl der ethnischen Gruppen friedlich neben- und miteinander. Wenn Schlagzeilen mit so genannten ethnischen Konflikten Aufsehen erregen, wird gerne übersehen, dass zahlreiche Staaten mit über 50 oder gar deutlich über 100 ethnischen Gruppen seit Kolonialzeiten keine gewaltsamen "ethnischen" Konflikte kennen.
Tatsächlich sind ethnische Identitäten in völlig unterschiedlichem Maße politisch mobilisiert. Oft ist nur eine soziale Identität gegeben, die sich politisch kaum oder gar nicht artikuliert, wie dies bei vielen kleineren Gruppen in Tansania, Benin oder Sambia der Fall ist. In anderen Gesellschaften, wie in Nigeria, Kongo und Kenia, kommt es dagegen zwischen einzelnen Ethnien zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.
Als Beweis für die Dominanz ethnischer Identitäten in der Politik werden in der Literatur oft Wahlergebnisse zitiert, die ein entsprechendes Wahlverhalten dokumentieren sollen - etwa wenn ein Wahlkreis ganz überwiegend von einer ethnischen Gruppe bewohnt wird und immer wieder die gleiche Partei dort gewinnt. Solche so genannten ethnischen Hochburgen einer Partei gibt es, doch sind sie eher selten; oft erreichen andere Parteien auch substanzielle Stimmenanteile. Die meisten Parteien haben - von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen - landesweit in aller Regel eine multiethnische Wählerbasis.
Tatsächlich zeigen jüngere Forschungsergebnisse, die auf individuellen Umfrageergebnissen beruhen, dass ethnische Identität nur einer unter vielen Faktoren ist, die das Wählerverhalten in afrikanischen Ländern beeinflussen. Für die Mehrzahl der Wählenden sind andere Aspekte maßgeblicher, zum Beispiel der Bildungsstand, das Leben im städtischen oder ländlichen Milieu und die Bewertung der Regierungsleistung. Auch religiöse Identitäten können bedeutsam sein. All dies bedeutet nicht, dass ethnische Identitäten keine Rolle spielen. Es gibt wahrscheinlich einen harten Kern ethnischer Wählerinnen und Wähler - so wie in anderen Staaten die Nationalisten.
Ethnische Identitäten stellen heute für sich gesehen nur in Ausnahmefällen eine Gefahr für die Integrität der afrikanischen Staaten dar. Wie anderswo auch entfaltet sich ihr destruktives Potenzial gewöhnlich erst dann, wenn sie entlang wirtschaftlicher, sozialer und politischer Konflikte, die in der Regel die Ausgrenzung einzelner Gruppen beinhalten, durch Politiker der Elite bewusst mobilisiert und als Herrschaftsinstrument eingesetzt werden. Sind solche Konflikte einmal "ethnisch" inszeniert, wird die ethnische Identität der Beteiligten zum zusätzlichen Element in der Konfliktdynamik.
Urbanisierung - Risiken und Chancen
Die Urbanisierung ist eine der wichtigsten Rahmenbedingungen für die Entwicklung der ärmeren Staaten. Dabei können ihre Wirkungen ambivalent sein: Zweifellos werden die Städte weiterhin die wirtschaftliche Entwicklung dieser Staaten antreiben, und viele Landbewohner werden auch weiterhin in der Landflucht eine Chance sehen, ihre Lebensumstände zu verbessern. Gleichzeitig werden in vielen Städten die Versorgungs- und Verwaltungsprobleme zunehmen und es werden neue Sicherheitsrisiken entstehen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten weltweit etwa 220 Millionen Menschen in Städten. Derzeit sind es 3,2 Milliarden, und ihre Zahl wird bis zum Jahr 2050 wahrscheinlich auf über fünf Milliarden Menschen zunehmen. Noch bis Mitte der 1980er Jahre wuchs die Stadtbevölkerung jährlich um fast drei Prozent und damit beinahe doppelt so schnell wie die Weltbevölkerung insgesamt. In den letzten 20 Jahren hat sich dieses Wachstum zwar abgeschwächt, ist aber vor allem in den Entwicklungsländern immer noch groß. Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen geht davon aus, dass schon derzeit mehr als die Hälfte der Bevölkerung weltweit in Städten lebt, und prognostiziert, dass ihr Anteil im Jahr 2040 auf zwei Drittel der Menschheit zunehmen wird. Dieses Wachstum wird fast ausnahmslos die Städte der Entwicklungsländer betreffen.
Derzeit ist Afrika neben Asien noch die am wenigsten urbanisierte Weltregion; 2007 betrug dort der Urbanisierungsgrad 39 Prozent. Dies wird sich in den nächsten Jahrzehnten ändern, und vier Fünftel der globalen Urbanisierung werden in Afrika und Asien stattfinden. Im Jahr 2030 wird Lagos voraussichtlich mehr als 25 Millionen Einwohner haben und damit neben Tokio und Bombay zu den größten Städten der Erde gehören.
Gleichwohl gibt es im Wachstum der Megastädte, also der Großstädte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, bereits seit einigen Jahren einen Trendwechsel: Einige der größten Städte werden in den nächsten Jahrzehnten Einwohner verlieren. Längerfristig ist zu erwarten, dass der größte Teil des Wachstums der städtischen Bevölkerung in kleineren Städten mit bis zu 500 000 Einwohnern stattfinden wird, von denen ein Großteil dann in Afrika liegen wird.
QuellentextHoffnungszeichen
[...] Ahmed Abou-Moustafas Werkstatt ist eine von 5000 Manufakturen im [Kairoer - Anm.d.Red.] Stadtviertel Manshiet Nasser, einem alten Steinbruch in den Mokattam-Bergen. [...] In Manshiet Nasser leben knapp eine Million Menschen, so viele wie in Köln, allerdings auf einem Sechzigstel der Fläche. So kommen 140 000 Einwohner auf einen Quadratkilometer, in Köln sind es 2450. Jede zweite Familie muss mit einem einzigen Raum auskommen. Zwei Drittel der Bewohner haben keine eigene Toilette. Die Hälfte der Menschen kann weder lesen noch schreiben.
Vor rund fünfzig Jahren hatten erste Migranten den Steinbruch mit Holzhütten besiedelt. Wenn sie zu Geld kamen, ersetzten sie die Hütten durch steinerne Häuser, die mit den Jahren weiterwuchsen; die größten sind mittlerweile zwölf Etagen hoch. So ist ein Hochhausslum entstanden, ein unübersehbares Stück im Kairoer Stadtmosaik - doch auf vielen Karten ist Manshiet Nasser bis heute nicht vermerkt. Es wurde illegal auf staatlichem Land errichtet und ist deshalb leicht zu ignorieren. Städte, die es nicht gibt, benötigen keine Straßen, keine Schulen, keine Krankenhäuser, keine Zuwendung. [...]
Mehr als die Hälfte der Einwohner Kairos lebt inzwischen "informell", in sogenannten Squatter-Siedlungen, was aus Ahmed Abou-Moustafas auf den ersten Blick randständigem Leben ein gewöhnliches macht in diesem neuen Typ Stadt, der nicht mehr von Behörden geprägt wird, sondern von globalen und lokalen Geschäftsbeziehungen. Elektrizität kauft Abou-Moustafa bei einem Stromdealer, der die öffentlichen Leitungen anzapft. Die Kugeln für seine Gebetsketten bekommt er seit einiger Zeit aus China, weil sich die Chinesen die menschlichen Ressourcen in Afrikas Slums ähnlich resolut erschließen wie die Rohstoffe des Kontinents. Abou-Moustafa hat rechnen gelernt, weil er zum Rechnen gezwungen war, mittlerweile verkauft er seine Ketten nach SaudiArabien und in den gesamten Maghreb. In seinem Viertel entstehen Möbel, Schuhe, Nägel, Töpfe, Hemden, Hosen und Souvenirs für die Welt, hier stehen Glasöfen, Aluminiumschmelzen, Webstühle; Schauplätze Zigtausender höchstpersönlicher Industrialisierungen.
Man braucht als Europäer einiges an Überwindung, um in Manshiet Nasser nicht nur Elend zu sehen, sondern auch Optimismus und Effizienzdenken. Dann versteht man: Das Viertel ist nicht allein aus Not entstanden, sondern auch aufgrund einer ökonomischen Standortentscheidung. Es liegt nah der Altstadt mit ihren Souvenirshops und nicht weit von den Hotels am Nil, in denen viele Bewohner Manshiet Nassers in Küchen und Wäschereien, als Gärtner und Wächter arbeiten.
Die Nähe von Arm und Reich, die Europäer als obszön empfinden, ist - zumindest von den Armen - gewollt. Und auch ihr Viertel selbst ist bis ins letzte Detail strukturiert: Man lebt in Eigentum, zur Miete oder Untermiete. Wo der Staat nicht richtet, schlichten Familienoberhäupter. Zünfte und Gewerke sind nach Herkunft aufgeteilt: Migranten aus der Stadt Fayoum werden Bauarbeiter, junge Männer aus Sohag Anstreicher, jene aus Esna fahren Laster und Busse. Und die Zabbaleen, koptische Christen, rücken Nacht für Nacht mit ihren Eselskarren aus und sammeln den Müll, den die 18 Millionen am Tag hinterlassen haben. Was essbar ist, fressen ihre 70 000 Schweine, der Rest wird sortiert, verwertet, verkauft. Ganz Manshiet Nasser wirkt wie durchzogen von Produktions- und Verwertungsketten, die Verwandtschaften einbeziehen, Nachbarschaften stabilisieren, Kriminalität vermeiden, weshalb Stadtforscher mittlerweile davon abraten, Slums durch gut gemeinte Wohnungsbauprojekte zu ersetzen, weil dieses feine Netz dann reißen würde.
Man kann tatsächlich lange fragen und findet doch niemanden, der sagt, es gehe ihm schlechter als seinen Eltern. Die Stadt, auch in ihren ärmsten Vierteln, garantiert ein karges Einkommen. Allah wird täglich beschworen, doch die Muslimbrüder sind in ihrem Werben um extremistische Jünger nur mäßig erfolgreich. Die Menschen in Manshiet Nasser fühlen sich nicht als Opfer des Kapitalismus, sondern geben sich wie dessen radikale Fangemeinde. So auch Ahmed Abou-Moustafa, stolz auf seine Werkstatt, seinen Kühlschrank, seinen Fernseher, seine Kontakte nach Fernost. Einmal in der Woche gebe es Fleisch, sagt er, seine Familie bewohnt drei Zimmer. Er verdient zwischen 100 und 200 Euro im Monat, dreimal so viel wie der Durchschnitt in seiner Gasse. Sein Sohn ist zwölf und geht noch immer zur Schule. "Er kann lesen und schreiben!", sagt Abou-Moustafa, überzeugt davon, dass sich die Ungerechtigkeiten der Welt in der Stadt besser abfedern lassen. [...]
Henning Sußebach, "Das urbane Jahrhundert", in: DIE ZEIT, Nr. 18 vom 24. April 2008
Vor allem die Entwicklungsländer werden mit den Folgen der Verstädterung zu kämpfen haben. Zwar haben auch viele Industriestaaten Schwierigkeiten, die Infrastrukturen in den Megastädten und Großagglomerationen aufrecht zu erhalten und auszubauen; aber den Entwicklungsländern fehlen in der Regel die finanziellen, fachlichen und personellen Ressourcen, um ihre Großstädte zu verwalten. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass eine Megacity von der Größe Tokios erfolgreich regiert wird, während die Verwaltungen von Städten wie Lagos, Kalkutta oder Sao Paolo größte Probleme haben, die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.
Die Probleme der Zukunft werden daher nicht nur in den Megastädten, sondern zunehmend auch in den schnell wachsenden mittelgroßen Städten der Entwicklungsländer liegen. Ohne externe Hilfe werden diese nicht in der Lage sein, die benötigten Arbeitsplätze, Wohnungen und Infrastrukturen zur Verfügung zu stellen. In vielen Städten werden Armut, Verschmutzung, Verkehrschaos, Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit zunehmen; neue Verteilungskonflikte werden ausbrechen, die die Sicherheitslage weiter verschlechtern. Problematisch ist zudem, dass viele dieser Städte aufgrund ihrer geographischen Lage besonders unter den Folgen des Klimawandels leiden werden; dies betrifft die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Energie sowie umweltbedingte Gefährdungen wie etwa Überschwemmungen.
Die anhaltende Landflucht wird diese städtischen Konflikte noch verstärken, indem mittellose und entwurzelte Landbewohner in die Elendsviertel der Städte zuwandern, wo Not, Gewalt und Kriminalität aller Art bereits heute verbreitet sind. Slums werden sich ausdehnen und verfestigen, und viele Bewohner werden diese Gebiete mangels Alternativen nicht mehr verlassen können. Ihre Chancenlosigkeit und Verzweiflung könnte radikalen und revolutionären Gruppen Zulauf bringen, falls diese dort ein Rekrutierungsfeld für Unterstützer und Kämpfer suchen.
Neben diesen Risiken für staatliche, regionale und menschliche Sicherheit birgt die Urbanisierung aber auch große Chancen: Hier lassen sich mit Hilfe der bestehenden Infrastrukturen Entwicklungsvorhaben - insbesondere Bildungsförderung - oft leichter und effizienter realisieren als auf dem Land, und Städte bieten den Migranten häufig Lebensperspektiven, die ihnen in ihrer ländlichen Umgebung fehlten. Zudem ist die Land-Stadt-Wanderung für viele Menschen eine erste Migrationserfahrung, an die sich weitere Wanderungen, dann auch in andere Länder, anschließen können.
Gesellschaftliche Folgen der Landflucht
Kriege, Nahrungsmittelknappheit, Dürren und Perspektivlosigkeit sind in Afrika verantwortlich für eine zunehmende Landflucht. Der Kontinent weist zwar mit 39 Prozent städtischer Bevölkerung weltweit den niedrigsten Urbanisierungsgrad auf (in Nordamerika etwa leben 81 Prozent der Bevölkerung in Städten), die Tendenz ist aber steigend. Über die Hälfte der städtischen Bevölkerung lebt in Slums ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser oder medizinischer Versorgung. Vor allem in Konfliktregionen ist die Wanderung in die Stadt oft die einzige Alternative zum Leben in Camps.
Die schwache staatliche Durchdringung vieler afrikanischer Länder, in denen Dienstleistungen wie Strom und medizinische Versorgung häufig nur einer kleinen hauptstädtischen Elite zugänglich sind, erklärt, warum die Infrastruktur der Städte oftmals nicht auf das enorme Wachstum vorbereitet ist. Nur mithilfe ihrer hohen Kreativität können die Menschen das alltägliche Leben und Überleben in der Stadt bewältigen. Es muss zumeist durch eigene finanzielle Mittel bestritten werden, nur selten kann eine Familie sich über einen längeren Zeitraum auf die Zuwendungen von Verwandten verlassen. Daher bedeutet der Umzug in die Stadt für die ehemaligen Landbewohner meist kein leichteres Leben, auch wenn sie keine schweren körperlichen Arbeiten mehr leisten müssen wie beispielsweise Feldarbeit oder den Transport von Wasser und Feuerholz über weite Strecken.
Das Leben in der Stadt bringt allerdings für eine gebildete, ökonomisch stabile, wachsende Mittelschicht die Unabhängigkeit von den traditionellen, oft restriktiven sozialen Verhaltensregeln auf dem Land mit sich. Die Möglichkeit, sich individuell, auch außerhalb der Gemeinschaft zu entfalten, ist zumeist nur in einer urbanen Umgebung möglich.
Veränderte soziale Beziehungen
Ethnische oder Clanverbindungen haben im afrikanischen Alltag mehrere Bedeutungen. In Friedenszeiten wird auf der Gemeinschaftsebene sowohl über Heiratsverbindungen als auch über die Beilegung von Konflikten oder über Kompensationszahlungen für angerichtete Schäden verhandelt; in Kriegszeiten versuchen die gegnerischen Parteien sich über die ethnische Zugehörigkeit ihre Loyalitäten zu sichern. Die Auseinandersetzungen zwischen Tutsi und Hutu in Ruanda sind dafür ein Beispiel.
Beim Wechsel vom Land in die Stadt hoffen und erwarten viele Neuankömmlinge, dass ihre Familie oder ethnische Gruppe sie versorgt oder ihnen Unterkunft gewährt. Die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation, die sie sich in den Städten erwarten, erfüllt sich allerdings nur selten. Ursachen dafür sind die mangelnden Arbeitsmöglichkeiten und die oft eher geringe Bildung der Zuwandernden.
Häufig sind die Stadtviertel nach Herkunftsland oder ethnischer Gemeinschaft der Bewohner aufgeteilt. Die meist nur mangelhafte staatliche Infrastruktur und Versorgung führt dazu, dass sich auch in den Städten Parallelsysteme wie auf dem Land bilden. Rechtsprechung, Wohlfahrt und Bildung werden innerhalb von Clan- und Familiensystemen geregelt.
Neue Familien- und Geschlechterrollen
Die urbane Migration hat tiefgreifende Auswirkungen auf gesellschaftliche Beziehungssysteme, Geschlechterverhältnisse und Familienrollen.
War während der Kolonialzeit der Zuzug in die Stadt ausschließlich Männern vorbehalten, auf die ein sicheres Beschäftigungsverhältnis wartete, so sind es gegenwärtig junge Männer wie junge Frauen, die in die Stadt aufbrechen, um sich dort erst eine Arbeit zu suchen. Die alte Devise "Männer migrieren des Geldes wegen und Frauen migrieren wegen der Männer" gilt somit in den meisten Fällen nicht mehr. Allerdings passen sich die Frauen und Mädchen gezwungenermaßen den Bedingungen an. Anstatt ihnen eine Schulbildung zu ermöglichen, verheiraten die Familien ihre Töchter in ökonomischen Notzeiten traditionell jung an ältere Männer oder schicken sie als Dienstmädchen zu reicheren Familien in die Stadt.
QuellentextGroße Erwartungen
Die Nacht ist schon hereingebrochen, als Stephen Nabende sein Büro im Herzen der Hauptstadt verlässt. [...] Es ist Freitagabend: Kampala wälzt sich in langen Wagenkolonnen hinaus in die Dörfer am Rande der Stadt, alle wollen zu ihren Familien ins Wochenende, und so wird der Computerspezialist Nabende wohl eine gute Stunde brauchen, bevor er sein kleines Häuschen erreicht, in dem ihn seine Familie erwartet. Und wie immer fährt er mit gemischten Gefühlen.
Müde ist er, die Woche im Büro war hart, und die Nacht wird es auch wieder sein, denn Nabende hat sich im vergangenen Jahr an der Universität Liverpool für ein Online-Studium eingeschrieben. [...] "Wenn ich den Abschluss habe, kann ich als Consultant arbeiten und habe neue Möglichkeiten", sagt er. "Vielleicht gibt es dann auch mehr Geld." Und vielleicht verschafft ihm das wieder ein wenig Luft. Bei all den Verpflichtungen, die er hat, hier draußen auf dem Dorf. [...]
In einem Meer von Armut hat es Stephen Nabende also zu etwas gebracht. Aber das macht ihm jetzt auch zu schaffen. Denn die Früchte seiner Arbeit erntet er mitnichten alleine. "Die Verwandten glauben, dass ich ein reicher Mann bin", sagt er. "Deshalb kommen sie nun ständig zu mir."
[...] Familie. Nabende meint damit nicht: Vater, Mutter, Kind - und noch die Oma mit dazu. [...] Familie, das ist ein kaum überschaubares Geflecht aus Brüdern und Schwestern, Tanten und Onkeln, Nichten und Neffen, Schwagern und Enkeln, Cousins und Cousinen, ersten, zweiten, dritten oder sonst irgendeines Grades. Und wer erfolgreich ist in seinem Leben, wer sich etwas aufgebaut hat wie der Computerspezialist Nabende, der zieht seine Verwandten an wie ein Magnet.
Da kommt der Onkel, weil er Geld braucht, um sein Dach zu reparieren. Eine Cousine war gerade mit ihrem fiebernden Kind in der Klinik. Und irgendeiner muss die Malariapillen bezahlen. Die Tante schiebt ihre Enkeltochter in die Türe. Kein Geld mehr für die neue Schuluniform. So geht das Wochenende für Wochenende, "Irgendeiner kommt immer", sagt Nabende. [...]
So dicht sind diese Familiennetze geknüpft, dass die einzelnen Knotenpunkte schon gar nicht mehr auffallen. Erst kommt die Gemeinschaft, dann das Individuum, so ist es immer gewesen, solange die Leute hier zurückdenken können. Einerseits ist dieses System natürlich sehr nützlich, denn es fängt jeden auf, auch in der größten Not. In den Straßen der Armut lauert das Verderben ja hinter jeder Ecke [...]. Und überall fehlt das Geld, um [...] Schicksalsschläge aus eigener Kraft zu überwinden. Also bleibt nur der Gang zu den Onkeln und Tanten, von denen man glaubt, dass sie flüssig sind. Sie sind die Lebensversicherungen, die man allein dadurch erwirbt, dass man zur Verwandtschaft gehört.
Hat Nabende nicht mal überlegt, einfach nein zu sagen? "Du kannst nicht ablehnen", sagt er. Undenkbar. Ansonsten werden sie dich mobben im Dorf, werden dir hinterherrufen, was für ein selbstsüchtiger Mensch du bist, was für ein herzloser Zeitgenosse, der die anderen in ihrer Not im Stich lässt. "Und wenn du ihnen heute nichts gibst, bitten sie dich morgen vielleicht noch um viel mehr." Zum Beispiel, wenn es um die Schule geht. "Lieber bezahle ich meinem Neffen den Unterricht, damit etwas aus ihm wird. Ansonsten liegt er mir vielleicht sein ganzes Leben lang auf der Tasche." [...]
Arne Perras, "Ein Netz, das trägt und drückt", in: Süddeutsche Zeitung, 10. August 2007
Dort sind die Frauen zwar weniger der sozialen Kontrolle des Dorfes ausgesetzt und können freier für sich entscheiden, gleichzeitig sind sie aber auch größeren ökonomischen Zwängen unterworfen und bleiben ohne die Sicherheit der traditionellen sozialen Netze. Mädchen, die zuvor auf dem Land in einem geschützten sozialen Raum mit anderen Gleichaltrigen gelebt hatten, sind nun in der Stadt verstärkt Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt.
Gleichzeitig wächst im Afrika südlich der Sahara die Zahl weiblicher alleinerziehender Haushaltsvorstände im städtischen Umfeld rapide - schon ein Viertel der Familien ist davon betroffen. Die mangelnden Verdienstmöglichkeiten in der Stadt und die fehlende soziale Kontrolle führen dazu, dass die Männer ihre Familie nicht versorgen können und sich stattdessen aus der Verantwortung stehlen. Die Frauen werden notgedrungen zu Alleinversorgerinnen, die nicht nur ihre Familie in der Stadt zu finanzieren haben, sondern auch die Verwandten auf dem Land. Dabei sind die Frauen aufgrund ihrer geringeren Bildung oft gezwungen, schlecht bezahlte Arbeit im informellen Sektor zu suchen, also in dem Sektor der Volkswirtschaft, der von der offiziellen Statistik eines Landes nicht erfasst wird. In den Entwicklungsländern zählen dazu in der Regel die Herstellung und der Verkauf von Produkten auf lokalen Märkten und einfache Dienstleistungen. Die zumeist langen Wege, die Frauen in der Stadt zwischen Wohn- und Arbeitsort zurücklegen müssen, tragen dazu bei, dass sie den Großteil des Tages von zu Hause abwesend sind. Nach Schätzungen muss knapp die Hälfte der Frauen zumindest im südlichen Afrika ihre Kinder Nachbarinnen, Großmüttern oder Geschwistern zur Versorgung anvertrauen.
Die urbane Jugend stellt demographisch eine Mehrheit dar, sieht sich selbst aber als eine ausgeschlossene Minderheit ohne Perspektive. Jugendliche werden aufgrund der wenigen Ausbildungsberufe selten in den regulären Arbeitsmarkt integriert, verfügen aber auch über keine zivilgesellschaftliche Lobbygruppe, die ihre Interessen vertritt. Im Gegensatz zu Frauen- oder Kinderprojekten, die teilweise von Nichtregierungsorganisationen unterstützt werden, gibt es kaum Projekte, die sich um die Belange von Jugendlichen kümmern.
Die Generationenfrage hängt eng mit der Frage der Geschlechterrollen zusammen. Auf dem Land existiert eine rollenspezifische Arbeitsteilung, die dazu führt, dass Männer und Frauen in der Regel gemeinsam die Familie versorgen. In der Stadt fallen diese Vorbildfunktionen weg. Zunehmend sind es Frauen, die als Haushaltsvorstand sowohl die Rolle der Ernährerin als auch die Rolle der Erziehenden auszufüllen haben. Dies und die Abwesenheit der Väter sendet ein zwiespältiges Signal an Kinder und Jugendliche. Ist ihre Mutter Haushaltsvorstand und Ernährerin, vermittelt sie ihnen einerseits einen Eindruck von Stärke und Unabhängigkeit. Auf der anderen Seite werden alleinerziehende Frauen gesellschaftlich nach wie vor nicht respektiert. Mädchen wünschen sich deswegen weiterhin einen männlichen Versorger - entsprechend dem vorgegebenen Rollenklischee - ahnen aber zumindest, dass sie sich wahrscheinlich unabhängig versorgen müssen. Jungen lernen durch die familiale Anschauung, dass weiterhin maskuline Rollenmuster an sie herangetragen werden, während gleichzeitig entsprechende Rollenvorbilder fehlen bzw. die Voraussetzungen nicht gegeben sind, um diese Rollen zu erfüllen.
QuellentextEin eigenes Leben führen
[...] Das Heim Nakoglebzanga ist eine Einrichtung der Diözese Kaya im Norden von Burkina Faso. [...]
Nakoglebzanga heißt so viel wie "Wir wollen alle zusammen sein". Zusammen sind in dem Heim zurzeit acht junge Frauen im Alter zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren. Sie alle sollten zu einer Heirat gezwungen werden, die sie nicht wollten. Hinter dem Blechtor und einer Mauer mit Glasscherben auf der Oberkante finden sie vor allem Schutz vor den erbosten Vätern und geprellten Ehemännern. Hier nehmen sie aber auch an Alphabetisierungskursen teil, lernen das Weben und Färben von Stoffen, nähen Hemden oder stellen Seife und Hirsebier her, um es auf dem Markt oder in dem eigenen kleinen Laden zu verkaufen. So steuern sie ihren Teil zu dem Unterhalt des Heimes bei. Doch ohne die Unterstützung der Kirche könnte die Einrichtung nicht existieren.
"Die meisten Mädchen bleiben für ein oder zwei Jahre, manche aber auch für länger", erklärt Schwester Brigitte. Die 35-jährige Burkinabé führt das Heim gemeinsam mit zwei anderen Schwestern. "Die Mädchen suchen sich in der Regel von hier aus einen Ehemann. Die Flucht vor einer Zwangsehe ist kein Makel, und da die Frauen bei uns eine gute Ausbildung genossen haben, sind sie unter den Männern der Umgebung begehrt." [...] Nur 16 Prozent der Kinder in dieser Region gehen zur Schule, sie müssen im Haushalt und bei der Feldarbeit helfen. Die Teilnahme an den Alphabetisierungskursen ist deshalb Pflicht für die Mädchen in Nakoglebzanga. [...] Doch zunächst muss Schwester Brigitte sich nach ihrer Ankunft um ihren seelischen und körperlichen Zustand kümmern. [...] Die Frauen können selten ihre Flucht vorbereiten, sie kommen ohne Schuhe und nur spärlich bekleidet, haben einige Tage nichts gegessen und getrunken. Und sie haben Angst. "Werden sie erwischt, sperren die Väter und Ehemänner sie ein, oft schlagen sie die Mädchen auch", sagt Schwester Brigitte.
Das Heim ist in der Umgebung bekannt, nicht nur unter den Mädchen sondern auch bei den Vätern und Ehemännern. Also tauchen sie oft wenig später vor dem Blechtor auf und verlangen nach ihren Töchtern oder Frauen. "Wir lassen sie aber nie zu den Mädchen vor." [...] Die Schwestern versuchen ein Treffen zwischen Familie und Mädchen im Beisein der Polizei und eines Mitarbeiters der Sozialbehörde zu arrangieren. "Unser Hauptziel ist die Versöhnung mit den Eltern", erklärt Schwester Brigitte. Die meisten Familien verstoßen ihre Töchter zunächst, manche versuchen auch einen bösen Zauber über sie zu legen. Früher hat damit die Existenz der Mädchen aufgehört. Heute haben Frauen zwar die Möglichkeit, sich woanders eine materielle Existenz aufzubauen. Doch das emotionale Leid bleibt. Die Familie ist für die meisten Menschen in Burkina Faso der wichtigste Bezugspunkt, der eine Verbindung bis hin zu den Geistern der Ahnen schafft. "In der Regel gelingt es uns, Eltern und Töchter wieder zusammen zu bringen, auch wenn es in einigen Fällen Jahre dauert", sagt Schwester Brigitte und lächelt. [...]
[...] Die Zwangsehe ist eigentlich verboten in Burkina Faso, doch verfolgt und bestraft wird sie kaum - alleine schon, weil wenige Opfer ihre Familie anzeigen wollen. Viele Frauen fügen sich in ihr Schicksal. Auch sind die Grenzen fließend zwischen einer arrangierten und einer erzwungenen Hochzeit. Die Auseinandersetzung um das Thema hat in der Gesellschaft von Burkina Faso jedoch stark zugenommen. [...]
Klaus Sieg / agenda
Frauenrechte im islamisch geprägten Nordafrika
Die Frage nach Frauenrechten in islamisch geprägten Gesellschaften Afrikas stellt sich in besonderer Weise für die arabischen Kernländer Nordafrikas, Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten, wie auch für den Sudan, in denen der Islam formal die offizielle bzw. die Staatsreligion ist. Dabei sind die historischen, kulturellen und politischen Unterschiede zwischen diesen Staaten zum Teil beträchtlich. Zwar verbindet Nordafrika von Ägypten bis Algerien seit der frühen Neuzeit, das heißt seit dem 16. Jahrhundert, die Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich; doch waren die realen Verhältnisse insbesondere in den Ländern des Maghreb aufgrund der Ferne zum Zentrum in Istanbul sehr stark von lokalen Besonderheiten geprägt. Gleichzeitig weist etwa Marokko, das nie Teil des Osmanischen Reiches war, eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit Algerien und Tunesien auf, deren Grundlagen noch weiter in die Geschichte zurückreichen. Ägypten spielte seinerseits spätestens seit dem 19. Jahrhundert eine Sonderrolle als Machtzentrum mit eigenständigem regionalem Herrschaftsanspruch unter anderem über den Sudan. Die jüngere politische Geschichte dieser Länder kennt ebenfalls sehr unterschiedliche Entwicklungspfade und Regimetypen - von ehemals revolutionären bzw. sozialistischen Republiken wie Ägypten und Algerien über verschiedene Formen der direkten staatlichen Instrumentalisierung des Islam in Libyen und im Sudan bis zur sozial und religiös bis heute konservativen Monarchie Marokko.
Um die Situation von Frauen und die Durchsetzung von Frauenrechten pauschal beurteilen zu können, gibt es statistisch ermittelbare Standardindikatoren wie etwa Alphabetisierung und Frauenerwerbstätigkeit. Sie liegen in den Ländern Nordafrikas - wie in der arabischen Welt insgesamt - auf einem sehr niedrigen Niveau, sowohl in absoluten Zahlen als auch im Vergleich zur männlichen Bevölkerung. Bei diesem Befund ist allerdings zu berücksichtigen, dass nicht nur innerhalb der arabischen Welt, sondern auch zwischen den hier behandelten Ländern zum Teil beträchtliche Unterschiede existieren. Zudem haben sich diese Indikatoren in den letzten 15 bis 20 Jahren teilweise erheblich verbessert. Die Frauenerwerbsquote in der arabischen Welt stieg beispielsweise gemäß dem Arab Human Development Report von 2005 zwischen 1990 und 2003 um insgesamt 19 Prozent an. Schließlich zeigen regionale Analysen, dass Erklärungen, die einseitig bestimmte Faktoren wie etwa die offizielle Ideologie eines Regimes oder den Einfluss des Islam in den Blick nehmen, der Komplexität von generellen Trends und Einzelentwicklungen kaum gerecht werden.
Zwar ließen sich bis in die 1970er Jahre hinein bestimmte Unterschiede entlang von Regimetypen feststellen: So schienen Reformen des auf tradiertem islamischem Recht fußenden Familienrechts dort deutlich weiter zu gehen, wo eine eher säkular eingestellte nationale Elite an der Macht war. Seit den 1980er Jahren verschwimmen solche Grenzziehungen zwischen Regimen im Hinblick auf Frauenrechte jedoch zunehmend. In Ländern wie Ägypten und Algerien wirkten sich Maßnahmen zur ökonomischen Öffnung und der allgemeine Rückzug des Staates nachteilig auf die sozialen und ökonomischen Rechte der Frauen aus. Frauenrechte und insbesondere Reformen des Familienrechts gerieten in diesen Ländern zwischen die Fronten von Regime und gemäßigter, konservativer islamistischer Opposition.
Seit den 1990er Jahren war dann wiederum eine neue Dynamik zu beobachten. Erstarkende zivilgesellschaftliche Akteure wie Menschen- und Frauenrechtsbewegungen erlangten im Zusammenspiel mit internationalen Politiken und Diskursen über Demokratisierung, Good Governance und Gender-Gerechtigkeit zum Teil neue Spielräume. Entwicklungen in Ägypten und Marokko etwa zeigen, dass sich aus dieser veränderten Situation trotz der Beständigkeit autoritärer Regime Chancen ergeben, um Forderungen der Frauenbewegungen gerade im Hinblick auf das Ehe- und Familienrecht durchzusetzen. So konnte in Ägypten mit dem Gesetz Nr. 1 aus dem Jahr 2000 erreicht werden, dass Frauen mehr Möglichkeiten bekamen, um ihre Ehe aufzulösen. Zugleich wurden Verfahren in Ehe- und Familiensachen vereinfacht und versorgungsrechtliche Verbesserungen im Interesse von Frauen und Kindern erzielt. In Marokko ist 2004 eine weitreichende Reform des Ehe- und Familiengesetzes, der so genannten Moudawana, verabschiedet worden. Neben eine eher programmatische Neudefinition der Ehe, die nunmehr unter der gleichberechtigten Leitung beider Eheleute stehen soll, traten geänderte Bestimmungen insbesondere zur Polygynie (Ehegemeinschaft eines Mannes mit mehreren Frauen), zur Eheschließung und zur Eheauflösung, die zugunsten von Frauen wirken sollen.
QuellentextErste Schritte zu mehr Rechten
[...] Amina lebt in Sidi Bernoussi, einem verarmten Stadtteil am Rand von Casablanca. Seit ein paar Monaten ist sie bei Intilaka, einem Verein von Jugendlichen, die Aufklärungsarbeit machen, zum Beispiel [...] über die Moudawana (Marokkos seit 2004 geltendes Frauen- und Familienrecht). Was Amina in Sidi Bernoussi bei ihren Aktionen erlebt, steht exemplarisch für ganz Marokko. Für ein Land im Umbruch, in dem jene auf massiven Widerstand stoßen, die eine in vielerlei Hinsicht extrem traditionelle, teilweise mittelalterliche Weltanschauung hinter sich lassen und den Anschluss an die Moderne schaffen wollen.
Der erste Name, der in diesem Zusammenhang fällt, ist der des Königs. 1999 übernahm Mohammed VI. die Macht von seinem verstorbenen Vater. Vor vier Jahren setzte er gegen den - noch immer anhaltenden - Widerstand der Islamisten das neue Familienrecht durch. Seither haben in kaum einem islamischen Land Frauen so viele Rechte wie in Marokko. Die Familie steht nun gleichberechtigt unter der Verantwortung beider Eltern. Der Mann kann nicht mehr einfach die Scheidung einreichen und seine Frau ihrem Schicksal überlassen; umgekehrt ist es endlich auch den Frauen möglich, ihre Männer zu verlassen. Das Heiratsalter liegt nun bei 18 Jahren; die Braut kann eine Ehe ohne die Einwilligung eines männlichen Verwandten eingehen. Und Polygamie ist nur in Ausnahmefällen und mit richterlicher Genehmigung erlaubt.
Najia Zirari kann sich noch gut erinnern, wie 1985 die allererste Frauengruppe Marokkos gegründet wurde. "Die letzten zehn Jahre waren ein Riesenschritt nach vorn", sagt die Feministin, die Projekte der deutschen Entwicklungsagentur GTZ betreut. "Aber es muss noch sehr viel passieren." [...]
Das Leben vieler Marokkanerinnen ist der neuen Moudawana zum Trotz von strenger Tradition geprägt. Daran ändert auch nichts, dass Mohammed VI. vor drei Jahren das offizielle Amt der Mourchidate einführte, eines weiblichen Imam - eine Sensation in der islamischen Welt. Zuvorderst ging es dem König dabei um die Institutionalisierung der Religionslehre, und damit um Kontrolle. Denn seit den Anschlägen islamistischer Extremisten in Casablanca 2003 verharrt das Land in Angst vor dem Terror der Fanatiker. Beinahe jeden Monat nimmt die Polizei Verdächtige fest.Zugleich aber wollte der König Frauen in die Moscheen bringen, die anderen Frauen die friedliebende Lehre des Korans vermitteln. Frauen wie Fatima-Zahra Salhi. Die 28-Jährige blickt schüchtern unter ihrem dunkelgrünen Kopftuch hervor. Sie ist stolz, "die Arbeit des Propheten" in einem Gebetshaus in Rabat ausüben zu können. Und dass die Frauen mit ihr jemanden haben, dem sie ihr Herz ausschütten können, was sie bei einem Mann nie täten. Auch viele Mädchen kommen zu Fatima-Zahra. Die Mourchidate berät sie "spirituell", erklärt die Fastenregeln, manchmal gibt sie auch Rat in einer konkreten Lebenssituation. "Aber Verhütung ist nicht mein Thema", sagt sie. Und wenn sich eine schwangere Frau an sie wendet? Dann rate sie zur Abtreibung, wenn die werdende Mutter keinen Ausweg sehe und noch nicht über den vierten Monat hinaus sei. "Der Druck der Gesellschaft auf nicht verheiratete Mütter ist einfach zu groß", meint die Mourchidate. Und fügt hinzu: "Die Moudawana hat nichts wirklich Neues gebracht."
Stefanie Bolzen, "Marokkos mutige Frauen", in: DIE WELT vom 2. Dezember 2008
Während die rechtliche Situation von Frauen und gerade das Ehe- und Familienrecht stark von Politik und politischer Kultur geprägt sind, zeigt sich eine enge Abhängigkeit der sozialen Situation von Frauen von der allgemeinen Situation eines Landes in punkto Lebenserwartung, Bildungsniveau und Lebensstandard. Die diesbezügliche weltweite Länder-Rangfolge des von den Vereinten Nationen ermittelten Human Development Index (HDI) ergab für die hier behandelten Staaten 2007/2008 folgende Reihung mit Angabe der jeweiligen Position im weltweiten Vergleich: Libyen (56), Tunesien (91), Algerien (104), Ägypten (112), Marokko (126), Sudan (147). Als einziges Land fiel Libyen damit in die Kategorie "High Human Development". Der Gender Development Index (GDI), der die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern einbezieht, ergab 2007/2008 exakt die gleiche Reihenfolge - allerdings lagen bis auf Libyen, das hier niedriger rangiert, alle Länder im GDI-Ranking höher als im HDI-Ranking. (Zum Vergleich: Deutschland lag in beiden Rankings auf Platz 22.)
Aber auch hier wichen einzelne Indikatoren ab, was auf die Komplexität von entwicklungsbestimmenden Faktoren verweist. Die Alphabetisierungsrate von Frauen liegt in den arabischsprachigen Kernländern Nordafrikas zwischen 74 (Libyen) und 39,6 Prozent (Marokko). Der Sudan, nach HDI- und GDI-Ranking in dieser Gruppe auf dem letzten Platz, liegt dabei mit 51,8 Prozent noch deutlich vor Marokko. Die allgemeine Einschulungsrate von Frauen beträgt gemäß dem Human Development Report 2007/2008 in Libyen 97 (Männer: 91), in Tunesien 79 (Männer 74), in Algerien 74 (Männer: 73), in Marokko 55 (Männer: 62) und im Sudan 35 Prozent (Männer: 39). Je höher der HDI-Rang eines Landes, desto höher ist auch die Bildungsbeteiligung von Frauen - in Libyen, Tunesien und Algerien liegt sie über der von Männern. Differenziertere UN-Statistiken zeigen allerdings, dass in Ägypten im Sekundarbereich mit 78 Prozent deutlich mehr Mädchen eingeschult wurden als in Tunesien und Algerien (beide 68). Hier ist zu vermuten, dass die vergleichsweise lange Geschichte moderner Mädchenbildung in Ägypten eine Rolle spielt.
Ein weiterer genderrelevanter Indikator für menschliche Entwicklung ist der Zugang von Frauen zu medizinischer Versorgung in der Schwangerschaft und bei der Geburt. Die geschätzte Müttersterblichkeit (berechnet auf 100 000 Lebendgeburten) liegt für den Zeitraum zwischen 1990 und 2004 nach UN-Angaben in Tunesien bei 69, in Libyen bei 77, in Ägypten bei 84, in Algerien bei 120, in Marokko bei 230 und im Sudan bei 550. Auch hier gibt es Abweichungen gegenüber der HDI- und GDI-Reihung. Die Zahlen liegen zudem extrem weit auseinander. Beim ebenfalls von den Vereinten Nationen statistisch erfassten Prozentsatz von Geburten, bei denen ausgebildetes Personal zugegen ist, fällt dagegen wieder die Parallele zum HDI-Ranking auf.
Die arabische Welt insgesamt weist mit 33,3 Prozent die weltweit niedrigste Frauenerwerbstätigkeitsquote auf. Im Verhältnis zur Erwerbstätigkeitsquote der männlichen Bevölkerung beträgt sie lediglich 42 Prozent - auch dies ist gemäß dem Arab Human Development Report (AHDR) von 2005 der weltweit niedrigste Stand. In Afrika südlich der Sahara sind dagegen durchschnittlich 62,3 Prozent der Frauen erwerbstätig. Aber auch dieser Indikator fällt für Nordafrika je nach Land sehr unterschiedlich aus und ist zudem nicht einfach zu interpretieren. In Libyen gehen 25,9, in Algerien 31,6, im Sudan 35,7, in Ägypten 36, in Tunesien 37,7 und in Marokko 41,9 Prozent der Frauen einer Erwerbsarbeit nach. Die Quote ist folglich dort am niedrigsten, wo das HDI-Ranking am höchsten ist - Frauenerwerbsarbeit scheint damit in diesen Ländern in erster Linie ein Zeichen von Armut zu sein. Die Einkommensungleichheit zwischen Männern und Frauen ist zudem groß. Das von Frauen im Vergleich zu Männern erzielte durchschnittliche Jahreseinkommen liegt nach aktuellen UN-Schätzungen (in US-Dollar) bei 3546 zu 10 515 in Algerien, bei 4054 zu 13 460 in Libyen, bei 3748 zu 12 924 in Tunesien, bei 1846 zu 7297 in Marokko, bei 832 zu 3317 im Sudan und bei 1635 zu 7024 in Ägypten. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Frauen in Nordafrika wie in den arabischen Ländern insgesamt im öffentlichen Dienst und im Dienstleistungssektor stark überrepräsentiert und dass in diesen Sektoren Produktivität und erzielte Einkommen gering sind.
Der AHDR 2005 kommt zudem allgemein zu dem Schluss, dass Frauen in den arabischen Ländern deutlich stärker als Männer von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Gleichzeitig können religiös-konservative Ideologien eine niedrige Frauenerwerbstätigkeitsquote legitimieren - auch wenn dies nicht als ursächlich betrachtet werden kann. Meinungsumfragen in vier arabischen Ländern, darunter auch in Ägypten und Marokko, deren Ergebnisse der AHDR referiert, zeigen vielmehr eine komplexe Mischung von Einstellungsmustern. So spricht sich zwar genau die Hälfte der befragten Frauen und Männer für das Tragen des Kopftuches aus. Gleichzeitig aber stimmen 91 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Frauen das gleiche Recht auf Erwerbsarbeit haben sollten wie Männer. Nahezu ebenso eindeutig positiv sind Aussagen zur Übernahme von ökonomischen Führungsrollen durch Frauen. Auch befürwortet eine Mehrheit (58 Prozent) Koedukation auf allen Ebenen. Noch deutlicher wird die Geschlechtermischung am Arbeitsplatz (74 Prozent) bzw. allgemein in der Gesellschaft (76 Prozent) befürwortet. Im Hinblick auf die Bewertung des Faktors Erwerbsarbeit in der arabischen Welt gibt der AHDR 2005 allerdings kritisch zu bedenken, dass die verfügbaren Zahlen nicht den tatsächlichen Beitrag von Frauen zur Entwicklung ihres Landes wiedergeben, da die Definition die bezahlte Erwerbsarbeit in den Vordergrund rücke. Andere Tätigkeiten von Frauen, die zum umfassend verstandenen Wohlstand bzw. zur allgemein menschlichen Entwicklung beitrügen, würden damit systematisch unterbewertet.
Die Faktoren, die die Situation von Frauenrechten und deren Entwicklung beeinflussen, sind äußerst vielfältig und ihr Zusammenwirken hoch komplex. Die inner-ökonomische Situation und die jeweils unterschiedlich geartete Weltmarktabhängigkeit der nationalen Wirtschaft spielen ebenso eine Rolle wie politische und ideologische Gesichtspunkte. Der AHDR 2005 reflektiert diese Komplexität von Faktoren deutlich und umfassend. So beinhaltet die am Schluss ausgeführte "strategische Vision", die Maßnahmen zur Verbesserung der gegenwärtigen Situation entwerfen soll, neben religiös-kulturellen Elementen auch politische Reformen und die Bekämpfung von Armut ebenso wie den Abbau konkreter genderspezifischer Ausschluss- bzw. Diskriminierungsmerkmale. Gleichzeitig macht der AHDR deutlich, dass nur Bewegungen, die in der Gesellschaft verankert sind, solche Veränderungen herbeiführen können. Damit verweist er noch einmal auf den engen Zusammenhang zwischen Partizipation, politischer Öffnung und der Durchsetzung von Frauenrechten, wie er sich auch im Selbstverständnis und in den Strategien zahlreicher Frauenrechtsbewegungen in der Region zeigt.
Ausprägungen und Einfluss des Islam
Eine erste Gruppe von Anhängern des Propheten Mohammed wanderte etwa 615 n. Chr. von Mekka auf den afrikanischen Kontinent aus und fand unter dem christlichen Herrscher Abessiniens Schutz und Aufnahme. Ihnen folgten im Laufe von nahezu 1400 Jahren weitere Muslime, die einen Prozess der Islamisierung in Gang setzten, der bis heute nicht abgeschlossen ist. So vielfältig die Motivation ihres Kommens war, so mannigfaltig waren die islamischen Glaubensvorstellungen, die sie auf diesen Kontinent brachten und somit die Grundlagen für lokale Ausformungen des Islam schufen.
Schätzungsweise 400 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner bekennen sich heute zum Islam. Sie leben mehrheitlich südlich der Sahara, stellen je nach Region die Bevölkerungsmehrheit, sind Mitglieder teilmuslimischer Gesellschaften oder lediglich kleine Minderheiten. In weiten Teilen Afrikas prägten und prägen die Muslime Kultur, Gesellschaft und Politik, häufig unabhängig von ihrer zahlenmäßigen Stärke. Ein Beleg hierfür ist die moderne Geschichte Südafrikas. Obwohl nur eine kleine Minderheit - etwa zwei bis drei Prozent der Gesamtbevölkerung -, waren Muslime überproportional im Anti-Apartheid-Kampf aktiv und sind heute auch entsprechend stark in der politischen Landschaft des Staates verankert.
QuellentextScharia in Afrika
Seit den 1970er Jahren ist weltweit ein Wiederaufleben des Religiösen in der Öffentlichkeit zu beobachten. In vielen afrikanischen Ländern hat sich dieses Phänomen - abgesehen von der massiven Zunahme charismatischer Kirchen - durch Forderungen von Muslimen nach einer Stärkung oder einer Wiedereinführung des islamischen Rechts, der Scharia, manifestiert. Diese Forderungen sind in Charakter und Tragweite sehr unterschiedlich.
In Nordafrika - dort ist mit Ausnahme Libyens der direkte Geltungsbereich des islamischen Rechts auf Personenstandsangelegenheiten beschränkt - entstehen immer wieder Konflikte über den Einflussbereich des islamischen Rechts auf die nationale Gesetzgebung und Gesellschaft.
In den afrikanischen Ländern südlich der Sahara haben Muslime in der Regel die Möglichkeit, personenstandsrechtliche Angelegenheiten nach den Vorschriften des islamischen Rechts behandeln zu lassen. So bieten islamische Gerichte für Frauen häufig die einzige Möglichkeit, sich scheiden zu lassen.
In Kenia entbrannte im Zusammenhang mit der zwischen 2001 und 2005 geführten Debatte über die Reform der Verfassung ein heftiger Streit über den Stellenwert islamischer und auf das Personenstandsrecht beschränkter Gerichte in der Verfassung.
In der Bundesrepublik Nigeria wiederum haben ab 1999 zwölf nördliche Bundesstaaten begonnen, das islamische Strafrecht einzuführen. Dieser Prozess, der mit zahlreichen weiteren Maßnahmen zur Islamisierung der Gesellschaft einhergeht, ist in den einzelnen Staaten bislang sehr unterschiedlich umgesetzt worden.
Die Bestrebungen ab 1983, ein islamisches System (nizam islami) im Sudan zu installieren, gingen mit der Anwendung des islamischen Rechts in allen zivil- und strafrechtlichen Aspekten einher. Die Machtergreifung eines islamistischen Regimes im Jahr 1989 forcierte die Umsetzung eines einheitlichen und staatlich sanktionierten islamischen Rechts auf Kosten lokaler Rechtspraktiken.
Die "Union Islamischer Gerichte" - ein Dachverband unterschiedlicher muslimischer Gruppen - war bis zur Invasion Äthiopiens Ende 2006 unter Anwendung des islamischen Rechts dazu in der Lage, eine gewisse staatliche Ordnung in Somalia herzustellen.
In Südafrika - der Postapartheids-Staat praktiziert Rechtspluralismus - ist weder die staatliche Anerkennung des islamischen Personenstandsrechts noch dessen exakte Ausformulierung endgültig geregelt. Zu divergierend sind die Ansichten der unterschiedlichen muslimischen Gruppen des Landes.
Franz Kogelmann
In Nordafrika - dem ersten Expansionsgebiet muslimischer Eroberer in Afrika - bekennt sich heute die absolute Mehrheit der Bevölkerung zum Islam. Die Guinea-Region, die weite Teile West- und Zentralafrikas umfasst, weist ein Nord-Süd-Gefälle auf - mit einem höheren Anteil an Muslimen im Norden. Einerseits hängt die Verteilung der muslimischen Bevölkerung mit den vorkolonialen muslimischen Großreichen Westafrikas vom 9. bis 19. Jahrhundert zusammen, andererseits begünstigte der Kolonialismus die Verbreitung des Islam. Zeitgenössische Wanderungsbewegungen verwischen jedoch diese historischen Trennlinien. Während die Entwicklung des Islam in Westafrika durch Nordafrika beeinflusst ist, sind Ostafrika und Südafrika stark durch den kulturellen und wirtschaftlichen Austausch mit den Anliegern des indischen Ozeans geprägt.
Das von Arabern und Amazigh bewohnte Nordafrika wird zum islamischen Kernland gezählt. Der von den Muslimen südlich der Sahara praktizierte Islam hingegen wird häufig als "peripher" bezeichnet. Dies steht im offenen Widerspruch zur zahlenmäßigen Stärke der muslimischen Gemeinschaften in diesem Teil Afrikas und verrät eine gewisse Überheblichkeit gegenüber den ethnisch weitaus komplexer zusammengesetzten nichtarabischen Muslimen.
Neben "peripher" tritt als weitere Zuschreibung, der Islam südlich der Sahara sei im Gegensatz zu dem aus den Kernländern kommenden "reinen" Islam sowie dem Reformislam "afrikanisch". Die Bezeichnung afrikanischer Islam zielt auf eine starke Präsenz von Sufi-Bruderschaften, Vertretern eines mystischen Islam, ab. Dieser afrikanische Islam sei - da er viele Elemente traditionalistischer afrikanischer Religionen aufgenommen hat - offener, toleranter und durch eine quietistische, das heißt eine gottergebene Grundhaltung letztendlich friedfertiger und unpolitischer. Diese Einschätzung blendet aus, dass gerade Sufi-Bruderschaften durch ihren hohen Organisationsgrad den stärksten bewaffneten Widerstand gegen die koloniale Fremdherrschaft geleistet haben. Mitglieder von Sufi-Bruderschaften waren auch für das Aufkommen islamischer Reformbewegungen in Westafrika verantwortlich. Die Politik der Republik Sudan war lange Zeit entscheidend durch Sufi-Bruderschaften mitbestimmt, und senegalesische Politiker sind auf das Wohlwollen von deren Führungspersonen angewiesen. Außerdem hat der Sufismus auch in Nordafrika einen hohen Stellenwert und verfügt dort bis heute über eine beachtliche Anhängerschaft. Durch ihre Kollaboration mit der französischen Kolonialmacht waren die Sufi-Bruderschaften nach Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit lange nicht wohlgelitten. Inzwischen erkennen die Machthaber ihr Potenzial im Kampf gegen den Islamismus und werten den Sufismus politisch auf.
Der politische Einfluss des Islam im heutigen Afrika zeigt sich einerseits dort, wo Muslime nationale oder internationale Politik aktiv selbst gestalten, und andererseits dort, wo sie im Namen eines politisierten Islam auf die Ausgestaltung von Politik einzuwirken suchen. In Nordafrika, dessen Bevölkerungsmehrheit dem Islam angehört, bestimmen Muslime heutzutage aktiv die Politik. Der Islam spielte hier als gemeinsames Identitätsmerkmal der Bevölkerungsmehrheit eine große Rolle beim Kampf gegen koloniale Fremdbestimmung.
Zwar fand nach Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit in den meisten nordafrikanischen Staaten der Islam als Staatsreligion Eingang in die nationalen Verfassungen, das Staatsoberhaupt muss in der Regel ein Muslim sein und die nationalen Gesetzgebungen richten sich in personenstandsrechtlichen Aspekten wie Geburt, Ehe, Tod nach islamischem Recht, doch der tatsächliche Einfluss des religiösen Establishments auf die nationale Politik gestaltete sich im politischen Alltag anders. Unabhängig vom ideologischen Hintergrund der neuen nationalen Eliten fand eine Nationalisierung der religiösen Infrastruktur statt. Das islamische Stiftungswesen (waqf), jahrhundertelang ein Garant für eine gewisse Unabhängigkeit islamischer Einrichtungen und Gelehrter (ulama), kam unter die Kontrolle einer zentralisierten staatlichen Bürokratie, und der Einfluss des islamischen Rechts wurde beschnitten. Anstelle der alten religiösen Eliten etablierte sich ein neues, in enger Abhängigkeit vom Staat stehendes religiöses Establishment.
QuellentextIn der Politik bleibt noch einiges zu tun
[...] Jede fünfte erwerbstätige Frau in Ghana arbeitet im Groß- und Einzelhandel. Die erfolgreichen Markthändlerinnen in den Großstädten Accra und Kumasi zählen zu den unabhängigsten Frauen in ganz Afrika. [...]
Ökonomisch gesehen spielen Frauen eine ebenso wichtige Rolle wie die Männer des Landes. Nach einer Schätzung der Weltbank erwirtschaften sie ungefähr 46 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Frauen produzieren Textilien oder Seife, arbeiten als Polizistinnen, Hebammen und Sekretärinnen. Sie sprechen Recht im höchsten Gericht, steuern riesige Lastwagen auf den Feldern der Goldminen oder handeln mit Wertpapieren. In der Landwirtschaft sind sie unentbehrlich, produzieren zwei Drittel der Lebensmittel für den einheimischen Bedarf.
Dennoch ist die Arbeit ungleich verteilt. So liegt der Anbau von Exportprodukten wie Kakao überwiegend in der Hand der Männer [...]. Frauen sind häufig im so genannten informellen Sektor tätig: selbstständig, mit unregelmäßigem Einkommen, ohne staatliche Sozialleistungen oder Versicherungsschutz. Knapp zehn Prozent aller weiblichen Beschäftigten haben eine feste Anstellung, bei den Männern ist der Anteil doppelt so hoch.Das Problem sind nicht immer fehlende Gesetze. Die Verfassung von 1992 enthält wichtige Frauenrechte: ein Diskriminierungsverbot und ein Gleichstellungsgebot in öffentlichen Ämtern. Die Schwierigkeit besteht eher in der Durchsetzung.
Nicht nur staatliches Recht, auch Gewohnheitsrechte, die auf originär afrikanische Religionsvorstellungen zurückgehen, definieren die Stellung der Frau in der ghanaischen Gesellschaft. Zum Beispiel kann ein Mann standesamtlich nur mit einer Frau zur selben Zeit verheiratet sein. In einer nach dem Gewohnheitsrecht geschlossenen Ehe darf der Ehegatte dagegen auch eine zweite oder dritte Frau nehmen. Dies betrifft nach Schätzungen von Abantu ungefähr ein Fünftel aller verheirateten Frauen. Schubladendenken ist nach Ansicht von Rose Mensah-Kutin, die das regionale Frauennetzwerk Abantu leitet, jedoch fehl am Platz. "Gewohnheitsrechte richten sich nicht immer gegen die Frauen. Und manchmal schaffen auch Rechtsanschauungen aus der Kolonialzeit oder christliche oder islamische Vorstellungen Konflikte. Letztlich geht es um die Frage: Was nimmt man mit, was lässt man hinter sich?"
Eine Forderung zielt auf die Stärkung von Frauen in der Politik [...]. Woran liegt es, dass die selbstbewussten Frauen Ghanas auf der politischen Bühne eine so geringe Rolle spielen? Adwoa Amoako, Mitglied der Stadtversammlung der Hafenstadt Tema, hat eine klare Antwort: "Es ist eine finanzielle Frage, gerade in den Kommunen, in denen die politische Arbeit nicht bezahlt wird."
In einem Drittel aller Haushalte Ghanas sichern die Frauen den Broterwerb allein. [...] Adwoa Amoakos Weg in die lokale Politik führte über ihren Beruf: Sie engagierte sich im Frisörinnenverband, bevor sie in die Kommunalpolitik ging. "Als ich mit der Politik anfing, war ich reich, mein Salon ging gut. Jetzt kann ich mich nicht mehr so viel kümmern, und das Geschäft ist deutlich schlechter geworden."
Frauen in der Politik müssen tatkräftig sein, mutig, geradezu dreist. Wie Adwoa. [...] "Frauen haben noch keine gleichen Rechte in Ghana. Aber in den vergangenen fünfzig Jahren hat sich einiges verbessert, vor allem, weil wir uns mehr einsetzen. Ich würde sagen: So weit, so gut!"
Griet Newiger-Addy, "Viele Mütter, die sich kümmern", in: Frankfurter Rundschau vom 28. Februar 2007
Ihre Versprechungen von Entwicklung und Selbstbestimmung konnten die politischen Eliten der jungen unabhängigen Staaten Nordafrikas nicht einlösen. Ideologisch und moralisch waren sie rasch verbraucht und begünstigten das Aufkommen einer politischen Opposition, die sich religiöser Argumente bediente. Vertreter eines politischen Islam gaben ab den 1970er Jahren zunehmend die Themen politischer Diskurse vor. Die Machthaber reagierten unterschiedlich auf diese Herausforderung. Mehrheitlich erachteten sie die islamistische Opposition als ein sicherheitspolitisches Problem. Zudem versuchten sie, eine eventuell vorhandene staatsunabhängige islamische Infrastruktur - Moscheen und Gelehrte - unter ihre direkte Kontrolle zu stellen. Die staatsabhängigen islamischen Institutionen hingegen wurden in die Pflicht genommen, die Deutungshoheit des Staates über religiöse Themen zu verteidigen - eine Aufgabe, die in einer globalisierten Welt mit satellitengestützten, staatsunabhängigen Medien, Internet oder Mobilfunk zunehmend schwieriger wird. Der Konflikt zwischen Staatseliten und Islamisten radikalisierte sich: Waren ab den 1970er Jahren vor allem Staatsvertreter, in den 1980er Jahren wiederum bevorzugt Deviseneinnahmequellen wie die touristische Infrastruktur Ziele von Attentaten, so schienen die Auseinandersetzungen in den 1990er Jahren außer Kontrolle zu geraten. Mitverantwortlich für diese Entwicklung war die Rückkehr von kampferprobten und international vernetzten Aktivisten aus dem seit dem Einfall der Sowjetunion 1979 heiß umkämpften Afghanistan. Selbst Afrika südlich der Sahara blieb von islamistisch motivierten Gewalttaten nicht verschont, wie 1998 die Attentate auf die US-Botschaften von Nairobi und Daressalam belegten.
Allerdings suchten ab den 1990er Jahren einige islamistische Bewegungen auch über die aktive Beteiligung an demokratischen Prozessen ihren Einfluss zu mehren. Viele Machthaber lehnten die Gründung islamischer Parteien jedoch ab und bemühten sich, islamistische Massenbewegungen, wie die ägyptische Muslimbruderschaft, durch einen prekären Rechtsstatus zu zügeln. In Ägypten hat dies aber nicht verhindert, dass Muslimbrüder über die Listen anderer Parteien oder als unabhängige Volksvertreter in das Parlament gewählt werden. In Algerien und Marokko können sich inzwischen legale politische Parteien mit einem islamistischen Hintergrund zur Wahl stellen. Doch bisher gelang es noch keiner islamistischen Bewegung oder Partei, die Macht in einem nordafrikanischen Staat zu übernehmen. Auf dem afrikanischen Kontinent hat eine derartige Entwicklung bislang nur im Sudan stattgefunden.
Seit dem Militärputsch von 1989 vollzog sich dort eine tiefgreifende Islamisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Zudem verstand sich Sudans Staatselite als islamistische Avantgarde mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein. Ein wichtiges außenpolitisches Instrument war die Internationale Universität Afrikas mit Sitz in Khartum State. In der Vergabe von Stipendien an Studenten, die aus Ländern südlich der Sahara stammen, konkurrierte der Sudan mit der ägyptischen Azhar-Universität, mit libyschen Einrichtungen, der Islamischen Universität von Medina sowie internationalen islamischen Organisationen.
Zwar beteiligten sich auch in Afrika südlich der Sahara Muslime aktiv im Kampf gegen die koloniale Fremdherrschaft, doch anders als in Nordafrika war der antikoloniale Diskurs dort nicht mit religiösen Elementen durchsetzt, eine Islamisierung des öffentlichen Raums wurde bis Ende der 1970er Jahre kaum gefordert. Dies setzte erst ab den 1980er Jahren ein. Schwarzafrikanische Muslime, die in den muslimischen Kernländern studiert oder gearbeitet hatten, entwickelten sich dabei nicht zwangsläufig zu Botschaftern des in ihren Gastländern gepflegten Islam. Häufig hatten sie in arabisch-muslimischen Gesellschaften als schwarzafrikanische Muslime Diskriminierungen erfahren. Ähnlich verhält es sich mit der Entwicklungszusammenarbeit zwischen arabischen Geberländern und afrikanischen Staaten mit einem muslimischen Bevölkerungsanteil - die Finanzierung von Projekten ist nicht gleichbedeutend mit der Übernahme von Glaubensvorstellungen, die in den Golfstaaten verwurzelt sind. Mit den islamischen Großreichen Westafrikas und der Suaheli-Kultur Ostafrikas verfügen die schwarzafrikanischen Muslime über genügend eigene islamische Referenzmodelle.
Dennoch sind auch in Afrika südlich der Sahara islamistische Bewegungen aktiv. Ein Beispiel ist die nigerianische Izala-Reformbewegung, eine 1978 gegründete Masseninitiative mit umfassender Infrastruktur auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet sowie im Bildungsbereich. Sie will eine Islamisierung der Gesellschaft erreichen, indem sie unislamische Neuerungen bekämpft, worunter sie auch und vor allem gängige Praktiken von Sufi-Bruderschaften versteht. Die Izala richtet sich somit primär gegen die Vormachtstellung der beiden in Nigeria dominierenden Sufi-Bruderschaften Qadiriya und Tijaniya. Nachdem es in den 1980er und 1990er Jahren wiederholt zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Anhängern der Sufi-Bruderschaften und der Izala gekommen war, sind mit der Wiedereinführung des islamischen Strafrechts (Scharia) in Nordnigeria ab dem Jahr 1999 diese Konfrontationen ausgeblieben. Mit wenigen Ausnahmen scheint die Mehrheit der Muslime Nordnigerias hinter dem "Scharia-Projekt" vereint zu sein.
QuellentextBedeutung der katholischen Kirche
Es waren die Schulen der Missionare, die das Christentum in Afrika über die Jahrhunderte verankert und gefestigt haben. Sie haben auch die politischen Eliten in vielen Ländern des Kontinents geprägt. Afrikanische Staatschefs, die als Freiheitskämpfer für die Unabhängigkeit stritten und später in ihren Ländern die Macht übernahmen, waren als Kinder häufig eifrige Schüler der Missionare. Die Europäer hatten das Christentum mit sich gebracht, und die Kolonialherren versuchten, ihre Religion zur Unterwerfung der kolonisierten Völker zu missbrauchen. Doch gerade die christlichen Schulen gaben den Afrikanern entscheidende Anstöße, sich selbst zu befreien. Das Evangelium inspirierte jene Kräfte, die schließlich die Fremdherrschaft auf dem Kontinent zu Fall brachten.
Manche Politiker, die Missionsschulen besuchten, haben sich zu wahren Lichtgestalten entwickelt. Nelson Mandela zum Beispiel, der große Versöhner von Südafrika. Bei anderen wiederum fällt es äußerst schwer, eine Linie von der frühen christlichen Prägung zu ihren späteren Herrschaftspraktiken zu ziehen. Robert Mugabe, der Diktator in Simbabwe, besucht zwar jeden Sonntag die Kathedrale von Harare und gibt sich als frommer Katholik. Auch er ist von Jesuiten erzogen worden. Heute aber blicken gerade die Jesuiten mit Schrecken auf das System Mugabe, das ein ganzes Land und seine Menschen zugrunde gerichtet hat. Oft geißeln die Kirchenmänner den Präsidenten schonungsloser als alle anderen - und riskieren damit ihr Leben.
Die katholische Kirche hat in Afrika über die Jahrhunderte weitverzweigte Netzwerke aufgebaut, die meist effizienter arbeiten und einflussreicher sind als die Institutionen der postkolonialen Staaten. Beispiel Kongo: Während dort die schlimmsten Kämpfe wüteten und der Staat das Gewaltmonopol längst verloren hatte, wirkte die Kirche weiterhin fast unbeschadet. Sie war der Staat hinter dem Staate, und selbst der Krieg konnte ihr kaum etwas anhaben. Gerade in Zeiten großer Konflikte und Umbrüche wenden sich Menschen noch stärker den Kirchen zu, in Kampfgebieten gelten sie meist als unantastbar. So konnten Missionare auch in einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg, wie er in Angola tobte, weiterarbeiten. Wenn Priester erschossen wurden, war dies meist kein gezielter Anschlag, sondern ein Versehen.
Wo große Armut herrscht, dort ist der Glaube an einen Gott noch tiefer verwurzelt als anderswo. Die Menschen suchen nach Halt in einer Welt, die ihnen ansonsten wenig Trost spendet. Deshalb haben die Kirchen in Afrika so große Bedeutung erlangt. [...]
Arne Perras, "Wachstumsmarkt Glauben", in: Süddeutsche Zeitung vom 17.März 2009
... und der Erweckungskirchen
[...] In Afrika hat sich die Erweckungsbewegung seit den siebziger Jahren explosionsartig ausgebreitet. Der Anteil dieser Glaubensrichtung unter den weltweit etwa zwei Milliarden Christen wird auf ein Viertel geschätzt. In Afrika aber, so sagt André Gerth vom katholischen Hilfswerk Missio, gehörten mehr Christen den Erweckungskirchen an als der traditionellen evangelischen oder katholischen Kirche. Anfangs wurden die Erweckungsgemeinden häufig von Kirchen in den USA finanziert, aber seit einigen Jahren gründen sich zahlreiche afrikanische Gemeinden ohne deren Hilfe.
Die Erweckungskirchen kommen in Afrika so gut an, weil sie eher an die afrikanische Kultur anknüpfen als die katholische oder evangelische Kirche.
Spiritualität und der Glaube an das Übersinnliche spielen im afrikanischen Alltag eine viel größere Rolle als in Europa. Zudem stärken die Erweckungsgemeinden das Selbstbewusstsein, weil nach deren Versprechen jeder Einzelne Wohlstand und Gesundheit erreichen kann, wenn er nur das Wort Gottes befolgt. Diese Betonung des Individuums ist besonders attraktiv für aufstrebende junge Afrikaner. Sie begreifen die herkömmliche Verpflichtung, dass jemand, der zu Geld gekommen ist, den ganzen Familienclan unterstützen muss, zunehmend als Fessel. Deshalb sind sie erleichtert, wenn jemand predigt, jeder könne sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. [...]
Helga Dickow vom kulturwissenschaftlichen Arnold-Bergsträsser-Institut in Freiburg hat in Südafrika erforscht, dass tatsächlich viele Mitglieder von Erweckungskirchen ihren Lebensstandard steigern konnten. Sie schreibt das den strengen moralischen Vorschriften zu. Wer sein Geld nicht versäuft oder für Geliebte ausgibt, kann seinen Wohlstand mehren. Allerdings müssen die Mitglieder der Erweckungskirchen auch reichlich bezahlen. Die Gemeinden leben allein von Spenden. Und weil in der Bibel steht, dass "der Zehnte" dem Herrn gehöre, kassieren die Pastoren am liebsten auch zehn Prozent des Einkommens ihrer Getreuen. Zahlreiche Kirchen finanzieren Schulen, Universitäten oder helfen Bedürftigen. Aber nicht alle setzen das Geld zum Wohl der Gemeinde ein.
So mancher Pfarrer bereichert sich einfach nur selbst. Entwicklungshelfer klagen unter dem Schutz der Anonymität, dass "diese Kirchen den Armen das wenige aus der Tasche ziehen, was sie noch haben".
[...] Dennoch, der Erfolg der Erweckungskirchen in Afrika ist unbestritten. Damit wächst auch deren Bestreben, Europa zu missionieren. "Umgekehrte Kolonialisierung" nennt das Kwesi Aning, Leiter der Abteilung Konfliktprävention am Kofi Annan International Peacekeeping Training Centre in Accra. Über Jahrzehnte hätten sich die Afrikaner von den Europäern befehlen lassen müssen, wie sie zu leben und was sie zu glauben hätten. Nun wollten sie den Spieß umdrehen und den Europäern ihre Art des Christentums nahebringen. Gerade im Zeitalter der Globalisierung müssten sich die Europäer mit dem Weltbild der Afrikaner auseinandersetzen, sagt Aning. Ob es ihnen passt oder nicht.
Judith Raupp, "Vom Teufel befreit. Wie afrikanische Erweckungskirchen Europa erobern", in: Süddeutsche Zeitung vom 20. März 2009
Hexenglauben und Moderne - eine Wechselwirkung?
In Tansania leidet ein Bürger unter dreitausend unter Albinismus. Eine genetische Störung sorgt dafür, dass die Körper dieser Menschen den Pigmentstoff Melanin bestenfalls in geringen Mengen produzieren können. Albinos haben hellere Haar-, Augen- und Hautfarbe und reagieren besonders empfindlich auf Sonneneinstrahlung. [...] In den meisten afrikanischen Gesellschaften sind Albinos Außenseiter. [...] Zugleich gelten die "weißen Schwarzen" vielerorts als unsterbliche Geister, oder man glaubt, sie seien von Dämonen besessen. [...] Allein in Tansania sollen im vergangenen Jahr rund dreißig Albinos getötet oder verstümmelt worden sein.
Damit nicht genug: Mit den Körperteilen der Ermordeten wird offenkundig ein reger Handel betrieben. Beinen, Genitalien, Augen und Haaren von Albinos werden große Heilkräfte nachgesagt, der Konsum ihres Blutes verheißt vermeintlich Wohlstand. [...] Ins Visier der tansanischen Regierung geraten mehr und mehr die sogenannten traditionellen Heiler, die häufig mit Hexenglauben in Verbindung gebracht werden. [...]
Sind die jüngsten Ermordungen der Albinos ein Beleg dafür, dass viele Afrikaner noch immer dem Aberglauben anhängen und regelmäßig ihrem Atavismus freie Bahn lassen? Gegen solche Thesen von der grausamen Primitivität des Kontinents schreiben Afrika-Wissenschaftler seit langem an. [...]
Seit geraumer Zeit schon debattiert die Afrika-Forschung jedoch über den seit Jahren stetig wachsenden Hexereiglauben im nachkolonialen Afrika. In der Fachwelt besteht[...] weitgehend Einigkeit darüber, diese Entwicklung als Auseinandersetzung mit Prozessen sozialer Differenzierung zu deuten, welche durch die Entwicklung neuer Marktbeziehungen und die "Modernisierung" von Wirtschaft und Gesellschaft hervorgerufen wurden. Hexerei in Afrika repräsentiert demnach nicht die hartnäckige Verweigerung von Wandel und Entwicklung, sondern markiert den Versuch, sich aktuellen Umwandlungsprozessen zu stellen und sie zu verstehen.In vielen Teilen Afrikas hat der wirtschaftliche Wandel dazu geführt, dass die Hoffnung auf Besserung für die Mehrheit der Bevölkerung vergeblich blieb. Dies mündete in moralische Debatten, die häufig mit Kategorien des Okkulten und der Hexerei ausgetragen werden. Jahrelang enttäuschte Wünsche nach Land, Arbeit, besserem Wohnen und einem gerechten Anteil am materiellen Wohlstand haben das Wiederaufleben der Magie wie der Hexenjagd gefördert. [...] Die jüngsten Attacken gegen die Albinos in Tansania weisen demnach über das Schicksal dieser Bevölkerungsgruppe hinaus.
Andreas Eckert, Neuer Hexenwahn in Afrika: "Die grausame Jagd auf Albinos als Reaktion auf sozialen Wandel", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. April 2009
Kultur im Wandel
Nach wie vor wird in Europa afrikanische Kultur auf Trommeln und Tanzen reduziert, ihre Vielfalt in Literatur, Theater, Film und Musik weitgehend ignoriert.
Unter afrikanischer Literatur stellen sich viele Mythen, Märchen und Preisgesänge vor oder denken an Romane wie "Die weiße Massai" oder "Wüstenblume", die die Sehnsucht nach exotischer Ferne wecken. Wieder andere erwarten, dass sie sich vorrangig mit sozialen Problemen, mit Rassismus, Kolonialismus und Frauenunterdrückung auseinandersetzt. Solchen Festschreibungen jedoch entziehen sich die Literaturen Afrikas; sie erweisen sich als ebenso vielfältig, disparat, eigenwillig und eigenartig wie andere Literaturen dieser Welt. Nicht nur werden sie in vielen verschiedenen Sprachen geschrieben, den ehemaligen Kolonialsprachen Englisch, Französisch und Portugiesisch sowie einer großen Zahl afrikanischer Sprachen, in jüngster Zeit auch in den neuen Mischsprachen und Slangs der Städte; ebenso variieren und verändern sich die Stilrichtungen sowie die politischen und künstlerischen Einstellungen der Schriftsteller.
QuellentextBedrohte Literatur in Malawi
[...] Papier muss teuer aus Südafrika importiert werden; für Verleger lohnt sich seitdem nur die Schulbuchproduktion mit ihren vergleichsweise hohen Auflagen. Für literarische Werke ist nur mehr in Ausnahmefällen ein Budget vorhanden.
So liegt auch Tito Bandas dritter Roman seit Jahren ungedruckt in einer Schublade seines Büros in der Universität von Mzuzu. Der Dozent für orale Literatur und kreatives Schreiben erzählt das jedoch mit einem Lächeln; immerhin, fügt er ironisch hinzu, gebe es noch ein Restexemplar seines 1979 erschienenen ersten Romans, "Sekani's Solution", in einer der Buchhandlungen zu kaufen [...]. Banda ist mit seinen 58 Jahren ein Bindeglied zwischen zwei Schriftstellergenerationen - der ersten, die in den 1960er Jahren, kurz nach der Unabhängigkeit, zu veröffentlichen begann, und den jungen Gegenwartsautoren, die inzwischen sehr erfolgreich die Bühnen des südlichen Afrika und Englands bespielen. [...][I]n Malawis Hauptstadt Lilongwe, erzählt [...] Shadreck Chikoti (ein junger Autor, Journalist und Radiomoderator - Anm.d.Red.) von seinen Besuchen mit befreundeten Autoren auf dem Land. Regelmäßig sind sie in die Dörfer Zentralmalawis gereist, um dort ihre Gedichte vorzutragen [...].
Doch sowohl Chikoti als auch Stanley Ongeza Kenani, der es bei der letzten Ausschreibung zum Caine-Preis, dem bedeutendsten internationalen Wettbewerb für afrikanische Literatur, mit seiner Erzählung "For Honour" in die Endrunde geschafft hat, ist klar, dass die Lesungen nicht ausreichen, um sich literarisch zu entfalten oder gar finanziell abzusichern. Und dass es letztlich nicht nur die Papierpreise sind, die Veröffentlichungen verhindern. Zu hoch ist weiterhin die Analphabetenrate - rund ein Drittel der Bevölkerung - und mit 40 Prozent auch der Anteil jener im Land, die von weniger als einem Dollar täglich leben müssen: Auf europäische Verhältnisse übertragen, müssten sie für den Erwerb eines Buches etwa gleich viel aufwenden wie wir für den Kauf eines gebrauchten Kleinwagens.
Die Alternativen für die Autoren sind begrenzt, [...] ein Grossteil der intellektuellen literarischen Elite Malawis ist an Universitäten im europäischen und amerikanischen Ausland tätig. [...]Der Preis dafür, sich diesem Braindrain anzuschließen, ist jedoch hoch. "Eine Geschichte bei den internationalen Wettbewerben hat nur dann eine Chance, angenommen zu werden", erklärt Chikoti, "wenn sie den Erwartungshaltungen entspricht, die der Westen gegenüber Afrika hat. Aids, Bürgerkrieg, Korruption, Busch und Hütten, das geht. Eine eskapistische, visionäre oder den wirklichen Alltag beschreibende Literatur hingegen hat keine Chance. Und das Schlimmste daran ist, dass die meisten von uns die Erwartungen von außen bereits verinnerlicht haben." [...]
Axel Timo Purr, "Bei Tisch spricht man nicht", in: Neue Zürcher Zeitung vom 10. Februar 2009
Für die erste Schriftstellergeneration stand der politische und nationale Auftrag im Vordergrund. Ihre Werke waren wichtige Wegbegleiter der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen. Der Unterdrückung und Entwürdigung durch die koloniale Herrschaft setzten sie die Würde und den Reichtum der eigenen Kultur entgegen. Insbesondere in Südafrika wurde die Parole "Literatur als Waffe im politischen Kampf" zur Richtschnur im Widerstand gegen die Apartheid. Von derlei politisch-moralischen und didaktischen Zielsetzungen hat sich die heutige Generation von Schriftstellern und Wortkünstlern weit entfernt. Mit der Desillusionierung über die Errungenschaften der Unabhängigkeit begann sich in den 1970er Jahren ein Korpus an Literatur zu entwickeln, der sich satirisch-kritisch mit der Bereicherungssucht und Tyrannei der schwarzen Machthaber auseinandersetzte. Der literarische Fokus richtete sich auf Widersprüche innerhalb der afrikanischen Gesellschaft; es ging um Geschlechterbeziehungen, Sexualität, Krieg und Krankheit. Entscheidende Beiträge hierzu kamen von weiblichen Autorinnen. So führten die Südafrikanerin Bessie Head schizophrene Geisteszustände und die Simbabwerin Tsitsi Dangarembga Anorexia Nervosa (Magersucht) als Themen in die afrikanische Literatur ein. Gleichzeitig setzten sich veränderte, postkoloniale Erzählweisen durch, die sich durch ständige Perspektivenwechsel, surreale Verzerrungen, einen gewaltsam-obszönen oder auch magisch entrückten Stil auszeichneten. Wichtige Vorreiter hierbei waren der Kongolese Sony Labou Tansi für das frankophone und der Simbabwer Dambudzo Marechera für das anglophone Afrika.
Seit der Jahrtausendwende gibt es erneut markante Veränderungen. Ausschlaggebende Faktoren hierfür sind Migration und Technologie. Zum einen lebt ein großer Teil afrikanischer Kulturschaffender zeitweise oder ganz außerhalb des Heimatlandes, vornehmlich in Europa oder Nordamerika. Zum anderen rückt die Welt durch die technologischen Neuerungen im Bereich Fernsehen, Internet und Mobilfunk zu einem "global village" zusammen. In der Folge werden nationale Loyalitäten relativiert und an die Stelle des nationalen Dichters, der mit dem Stift in der Hand gegen koloniale oder auch postkoloniale Gewalt anschreibt, ist das Ideal des Weltbürgers getreten, der am Computer mit einer globalen Gemeinschaft kommuniziert. An die Stelle einzelner Kunstgattungen treten Formen von Intermedialität, die Text mit Ton und Bild vermischen. Insbesondere in den urbanen Zentren Afrikas setzt die technologieversierte Generation das sie umgebende Chaos intermedial in künstlerische Kreationen um. Auch Romane, gleich ob sie in Paris, London oder in Dakar geschrieben werden, sind gespickt mit Bezügen zur Welt des Films, Fernsehens oder der Werbung. Gedichte werden nicht nur geschrieben, sondern gejammt, gerappt, bebildert und per You Tube um die Welt geschickt.
Das Theater ist eine ureigene künstlerische Ausdrucksform afrikanischer Gesellschaften. Eng mit Ritual, Tanz und Musik verbunden, wird es heutzutage vielfach zu Aufklärungszwecken eingesetzt, so zum Beispiel in der AIDS-Prävention. Als "Theatre for Development" soll es das Bewusstsein der Arbeiter und Bauern schärfen und zur Verbesserung ihrer Lage beitragen. Während es in seinen didaktisch-aufklärerischen Formen in Rollenspielen improvisiert wird, gibt es daneben eine Reihe namhafter Dramatiker, die ihre Stücke in schriftlicher Form festhalten. Der bekannteste unter ihnen ist der Nigerianer und erste afrikanische Nobelpreisträger Wole Soyinka, der in komplexer Weise Elemente europäischen Theaters mit den Glaubensvorstellungen und der Bildersprache seiner Yoruba-Kultur verbindet.
Sehr viel massenwirksamer als das Theater ist der afrikanische Film. Sein Begründer, der Senegalese Sembène Ousmane, wandte sich bereits in den 1960er Jahren dem neuen Medium zu. Ähnlich wie das Theater zielen afrikanische Filme vielfach auf politische Bewusstwerdung oder gesellschaftliche Aufklärung, zumal wenn sie auf Finanzierung durch Nichtregierungsorganisationen angewiesen sind. Denn obwohl afrikanische Filmemacher internationale Beachtung gefunden haben, unter anderem durch das zweijährliche Filmfestival "Festpaco" in Ouagadougou, Burkina Faso, stoßen künstlerisch anspruchsvolle Filme in Afrika selbst nur auf sehr begrenztes Interesse. Die massenhaft über Video und DVD verbreiteten Billigfilme hingegen stellen einen boomenden Industriezweig dar. In Anlehnung an Hollywood und Bollywood sind sie unter dem Begriff Nollywood bekannt geworden, da sie ihren Anfang in Nigeria nahmen, das nach den USA und Indien weltweit die größte Filmproduktion vorzuweisen hat.
Afrikanische Musik ist so alt und so neu, so vielfältig und so uneinheitlich wie der afrikanische Kontinent selbst. Im Laufe der letzten Jahrhunderte sind Musikstile, -formen und -instrumente aus Afrika, Europa, Nord-, Mittel- und Südamerika hin- und hertransportiert worden, haben voneinander kopiert und sich miteinander vermischt. So verbanden sich im Highlife, der Mitte des 20. Jahrhunderts die Musik- und Tanzszene in Westafrika prägte, Einflüsse des Jazz mit traditionell westafrikanischen Rhythmen und über britische Militärkapellen importierten Musikinstrumenten. Heutzutage, im Zeitalter der globalen Musikmedienindustrie, sind Hip Hop, RßB und Gospel in afrikanische Aufnahmestudios gelangt. Dort verbinden sie sich zum Beispiel mit dem südafrikanischen Kwaito oder dem nigerianischen Juju, die beide in sich schon Mischformen musikalischer Stilrichtungen darstellen. Die wild und sinnlich tanzenden und trommelnden Afrikaner bleiben also ein europäisches Klischee, das allerdings von einigen schwarzen Hip Hop- und RßB - Gruppen heute bewusst bedient und somit kommerziell ausgenutzt wird. Auch diese Ironie zeigt den kulturellen Wandel Afrikas.