Jahrzehnte des Wirtschaftswachstums
Als 1948 der Unabhängigkeitskrieg ausbrach, lebten im britischen Mandatsgebiet Palästina 600.000 Juden. Im Verhältnis zu ihrer Anzahl war ihre wirtschaftliche Stärke überraschend. Geschuldet war dies vor allem dem Umstand, dass die Armeen Großbritanniens und seiner Verbündeten, die während des Zweiten Weltkrieges im Nahen Osten stationiert waren, verstärkt diejenigen Produkte für den Grundbedarf nachfragten, die die dortigen jüdischen Firmen im Angebot hatten. Und so gelangte das britische Mandatsgebiet ausgerechnet in den Jahren, in denen Millionen Juden dem Holocaust zum Opfer fielen, zu einem relativen wirtschaftlichen Wohlstand, der die Grundlage für die künftige Entwicklung legte.
Diese Wirtschaftskraft begünstigte den Erfolg der Juden im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 (Erster Nahostkrieg). Während der 15-monatigen Kampfhandlungen war das Produktionssystem voll ausgelastet, obwohl alle jungen Männer (ca. 135.000 Ende 1948, was fast einem Viertel der Einwohner entsprach) zum Kriegsdienst eingezogen worden waren und etwa 40 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) Israels für die Sicherheit und den Kriegseinsatz verwendet wurden.
Trotz dieser schwierigen Bedingungen sank das BIP im Jahr 1948 nicht. Diese Erfahrung gemeinschaftlicher Stärke und das Gefühl, einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören, hatte wiederum psychologische Effekte: So gab die israelische Zentralbank auf dem Höhepunkt des Krieges 1948 eigenmächtig eine neue israelische Währung heraus, zu einem Zeitpunkt, da die existenzielle Gefährdung des jungen Staates noch nicht vorbei war.
Nach dem Krieg und ab Anfang der 1950er-Jahre verzeichnete die israelische Wirtschaft kontinuierliche Wachstumsraten. Diese wurden befördert durch den Start eines Rentenfonds, durch Reparationen aus Deutschland und Leistungen aus den USA, die den jüdischen Staat aus strategisch-politischen sowie humanitären Gründen unterstützten. Die Exporte stiegen, während sich die staatlichen Ausgaben reduzierten, einschließlich der Verringerung des Verteidigungshaushalts. Bis 1965 war eine signifikante Wachstumsrate von jährlich zehn Prozent zu beobachten, die in dieser Zeit weltweit nur Japan erreichen konnte. Die starke Zuwanderung von Juden nach Israel ließ den Binnenmarkt wachsen. Unter der Regierung der Mapai-Partei David Ben Gurions, die eine sozialistisch-etatistisch geprägte Ideologie vertrat, konnten einige strukturelle Probleme – die auch Israels lokaler Isolation geschuldet waren – behoben, die Produktivität erhöht, und bis zum Ende der 1950er-Jahre eine Vollbeschäftigung erreicht werden.
Nach diesem Aufschwung stagnierte die israelische Wirtschaft bis 1967. Doch der – aus israelischer Sicht – spektakuläre Sieg des Sechstagekriegs im Juni 1967 kurbelte einen erneuten wirtschaftlichen Aufschwung an.
Besonders schnell entwickelte sich die Rüstungsindustrie. War noch bis 1967 Frankreich der Hauptwaffenlieferant Israels gewesen, so zwang das anschließende Verbot des französischen Präsidenten Charles de Gaulle, Waffen an Israel zu verkaufen, die Regierung, eigene Wege zu gehen. Besonders die Metall- und Elektroindustrie profitierten von umfangreichen Aufträgen aus dem Verteidigungsministerium. Innerhalb weniger Jahre gelang es der lokalen Rüstungsindustrie sogar, Weltniveau zu erreichen und Waffen mit hohen Technologiestandards zu exportieren.
Der territoriale Zugewinn der Sinaihalbinsel, des Westjordanlands, des Gazastreifens und der Golanhöhen stimulierte die wirtschaftliche Nachfrage, insbesondere beim Hoch- und Tiefbau sowie Straßen- und Festungsbau. Diesem Aufschwung folgte eine Stagnationsphase, die in den späten 1970er-Jahren durch neuerliche Einwanderungswellen aus Europa und der damaligen Sowjetunion beendet wurde. Die einwandernden Menschen waren in der Mehrheit hochgebildet, ihre Nachfrage kurbelte das Wachstum des Bausektors und die Produktion von Konsumgütern an.
Wirtschaftsdaten kompakt, Israel, November 2017. (© Germany Trade & Invest 2017)
Wirtschaftsdaten kompakt, Israel, November 2017. (© Germany Trade & Invest 2017)
Einschnitte durch den Jom-Kippur-Krieg und die Ölkrise
Zwei Ereignisse haben in den 1970er-Jahren in Israel Spuren hinterlassen: der Jom-Kippur-Krieg 1973 und die darauf folgende Ölkrise. Die "wirtschaftlichen Kosten" dieses Krieges sind schwer zu bewerten. Sie ergaben sich aus der Notwendigkeit, Waffen und Ausrüstung zu kaufen und einen erheblichen Teil der Erwerbsbevölkerung monatelang für den Militärdienst zu mobilisieren.
Der Verteidigungshaushalt erreichte seinen Höhepunkt Mitte der 1970er-Jahre, als er mehr als 30 Prozent des BIP ausmachte, verglichen mit 20 Prozent in der Vorkriegsperiode. Im Vergleich dazu überschreitet das langjährige Mittel der Verteidigungshaushalte europäischer Länder in relativen Friedenszeiten nicht mehr als fünf Prozent von deren BIP, in den USA sind es etwa zehn Prozent. In Israel wurde ein signifikanter Teil dieser Belastung durch Zuschüsse und Darlehen der US-Regierung gedeckt.
Die Ölkrise 1973 wurde durch ein Öl-Embargo der arabischen OAPEC, der "Organisation der arabischen Erdöl exportierenden Staaten" ausgelöst. Mit der Einstellung der Lieferungen sollten die Verbündeten Israels im Jom-Kippur-Krieg wirtschaftlich unter Druck gesetzt werden; die Folgen hiervon erreichten in der Konsequenz auch Israel. Die Ölpreise stiegen kurzfristig rasant an und verteuerten spürbar die Produktionskosten. Diese Teuerung traf den globalen Handel ebenso wie israelische Exporte und löste im Land eine Wirtschaftskrise aus.
Das Stabilisierungsprogramm des Likud
1977 gewann Menachem Begin die Wahlen und sein rechtsgerichteter Likud dominierte die Regierung. Die bisher zentralisierte und staatlich kontrollierte Volkswirtschaft sollte nun revidiert, privatisiert und liberalisiert werden. Diese Aufgabe gelang nur bedingt, ihr Erfolg manifestierte sich erst Jahrzehnte später. Mit Beginn der Umstrukturierung trat Israel in eine Ära dreistelliger Inflationsraten ein, in eine sogenannte Hyperinflation, die bis Ende der 1980er-Jahre anhielt. Einige erfolglose Stabilisierungsversuche der Politik verschärften das Problem, im Jahr 1984 erreichte die Inflation das Rekordniveau von 450 Prozent. Die ohnehin angespannte wirtschaftliche Situation wurde durch den Absturz der staatlich regulierten Bankaktien im Jahr 1983 noch verstärkt.
Erst im Jahr 1985, nach einem neuerlichen Regierungswechsel und einer Koalition zweier großer Parteibündnisse von links und von rechts, konnten der Finanzminister Yitzhak Modai und Ministerpräsident Shimon Peres ein wirtschaftliches Stabilisierungsprogramm realisieren. Es beinhaltete Maßnahmen wie die gezielte und zentralisierte Steuerung der Währung und der Wechselkurse, Einsparungen bei staatlichen Ausgaben und einen Stopp der Gehaltssteigerungen in gemeinsamer Initiative mit den Gewerkschaften. Die Maßnahmen waren so erfolgreich, dass sie anderen Ländern als Modell dienen sollten. Das Hauptziel wurde erreicht und die Inflation fiel sukzessive um 20 Prozent pro Jahr, bis sie nach etwa zehn Jahren einen einstelligen Wert erreichte.
Zuwanderung und Hightechorientierung
Die 1990er-Jahre waren durch die Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gekennzeichnet. Während dieser Zeit wuchs die Bevölkerung Israels von etwa 4,6 Millionen Einwohnern auf rund sechs Millionen an. Dieser Anstieg hatte spürbare wirtschaftliche Konsequenzen. Zwar belasteten die Kosten der Integration von Neueinwanderern den Staatshaushalt. Doch die erhöhte Nachfrage nach Wohnraum und Konsumgütern stimulierte die wirtschaftlichen Aktivitäten.
Auch diesmal wurde die israelische Wirtschaft wieder durch viele hochqualifizierte Arbeitskräfte verstärkt, obwohl viel Zeit verging, bis ihr volles Potenzial genutzt werden konnte. Zuvor ergab sich als unmittelbare Folge ein hoher Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über zehn Prozent, die ab dem Jahr 1993 allmählich zu sinken begann.
Internationale Unternehmen siedelten sich erst ab den späten 1980er-Jahren vermehrt in Israel an. Gleichzeitig stiegen die ausländischen finanziellen Investitionen und Beteiligungen an israelischen Firmen. Befördert wurde dies auch durch die politische Entwicklung: das Oslo-Abkommen mit der palästinensischen PLO im Jahre 1993, der Friedensvertrag mit Jordanien im Oktober 1994 und der allmählich nachlassende Boykott der Arabischen Liga. Zuvor hatten sich viele Firmen nicht in Israel betätigt, aus Angst, von ihren arabischen Geschäftspartnern boykottiert zu werden.
Gleichzeitig begann ein rasantes Wachstum der lokalen Hightechindustrie, vor allem der Internet- und Telekommunikationsbranchen, in denen Israel zu einem globalen Entwicklungszentrum aufstieg. So wurden wichtige technologische Voraussetzungen für die Mobiltelefonie im Entwicklungszentrum von Motorola in Israel konzipiert.
QuellentextKibbuz – ein Lebensstil im Wandel
Eine Gemeinschaft von Gleichen, die auf Privatbesitz und Privilegien zum Wohle aller verzichtet: In seiner Frühzeit war der Kibbuz der Inbegriff linker und zugleich zionistischer Pionierarbeit. In der Erde zu wühlen, selbst das anzubauen, was auf den Tisch kommt, und in der Freizeit mit einer Ausgabe von "Das Kapital" zwischen Kühen, Hühnern und Olivenbäumen umherzustreifen – das entsprach dem Ideal. Tatsächlich produzieren die Kibbuzim heute noch rund 40 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugnisse Israels, obwohl sie nur 2 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Doch mit einem sozialistischen Kollektiv haben die allermeisten nur noch wenig zu tun. Der Kapitalismus hat die Kibbuz-Bewegung auf dreifache Weise erobert: Zum einen sind die Kibbuzim selbst Arbeitgeber geworden. Die Felder werden heute meist von thailändischen Arbeitsmigranten bestellt. Zum zweiten haben die meisten inzwischen eine Privatisierung durchgeführt. Und drittens haben viele Kibbuzim Unternehmen gegründet und sind damit teilweise recht erfolgreiche Kapitalisten geworden […].
Ausgangspunkt des Wandels war der Aufstieg des konservativen Likud in den siebziger Jahren, der die überproportionale Subventionierung der Kibbuzim beendete. […] Viele versuchten es daraufhin mit kleinen Industriebetrieben, etwa in der Lebensmittelverarbeitung, oder sie bauten Ferienunterkünfte, um an ausländischen Touristen oder gestressten Städtern zu verdienen. Doch weil sie von Management und Märkten zu wenig verstanden, stürzten viele Gemeinschaften noch tiefer in den Abgrund. […]
Doch der Trend zu kleinen Industriebetrieben hat sich fortgesetzt. In der Kibbutz Industries Association (KIA) sind heute über 250 Betriebe organisiert. Bei aktuell rund 270 Kibbuzim in Israel heißt das: fast jeder Kibbuz hat eine Produktionsstätte aufgebaut. 22 dieser Firmen sind sogar an die Börse gegangen. Die Kibbuz-Unternehmen erwirtschaften sieben Milliarden Euro im Jahr, das entspricht rund 10 Prozent der Industrieproduktion. […]
Viele andere Kibbuzim haben in IT-Unternehmen investiert, entwickeln entweder selbst oder haben ihre Ställe umgebaut, um Start-ups unterzubringen und zu fördern. Einige dieser wirtschaftlich erfolgreichen Gemeinschaften können es sich deshalb leisten, weiter als Kollektiv zu bestehen. Doch die große Mehrheit zahlt keine gleichen Löhne mehr, und die Häuser gehören inzwischen den Mitgliedern, die für ihren Lebensunterhalt selbst verantwortlich sind.
Dennoch ist ein Kibbuz auch heute kein Ort wie jeder andere. Er sei "weder eine Kommune, noch eine Kooperative und ganz sicher kein Unternehmen", so Shlomo Getz vom Institute for Research of the Kibbuz an der Universität in Haifa. "Man kann es vielmehr als einen einzigartigen Lebensstil ansehen."
Silke Mertins, Kleines Wirtschaftslexikon, in: IP Länderporträt Nr. 2/2016, S.37f.
Stagnation und staatliche Gegenmaßnahmen
In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre und zu Anfang des 21. Jahrhunderts verlangsamte sich das israelische Wirtschaftswachstum deutlich. Zum einen wurde dies durch die Terrorwelle der zweiten Intifada verursacht. Sie richtete sich verstärkt gegen zivile Ziele und in ihrer Folge kam es zu einem drastischen Rückgang der Investitionen und zur Flucht ausländischer Investoren. Die Tourismusindustrie brach ein und eine Stagnation der gesamten Wirtschaft zeichnete sich ab.
Eine andere Ursache war die weltweite Hightechkrise, umgangssprachlich auch als Platzen der Dotcom-Blase bezeichnet. Aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur traf sie das Hightechland Israel mit ganzer Härte. Die Aktienkurse der ersten Internet-Firmen waren im Vergleich zu ihrem realen Wert unverhältnismäßig gestiegen, weil viele Anleger aus aller Welt große Ankäufe dieser Aktien getätigt hatten. Als der Aktienmarkt in sich zusammenbrach, mussten hunderte von Unternehmen, die zuvor als finanzielle Zukunft des Staates Israel gegolten hatten, Konkurs anmelden.
Um die Rezession zu beenden, senkte der damalige Finanzminister Benjamin Netanjahu, der 2003 sein Amt antrat, die Steuern, kürzte die Sozialausgaben und reduzierte die Beteiligung der Regierung an Firmen. Nach kurzer Zeit belebte sich die Wirtschaftstätigkeit. Innerhalb weniger Jahre stieg das wirtschaftliche Wachstum wieder an, die Arbeitslosigkeit verringerte sich, ausländische Investitionen kehrten nach Israel zurück und die Inflation betrug fast null.
Die Wirtschaftspolitik Netanjahus führte allerdings auch zu einer deutlichen Zunahme der ökonomischen Ungleichheit. Sie beschert Israel bis zum heutigen Tag einen vorderen Platz im sogenannten Gini-Index, der eben solche Ungleichheiten misst. Eine weitere Konsequenz seiner Amtszeit (2003–2005) war ein starker Anstieg der relativen Armut sowie der sozialen Ungleichheit. Daran hat sich bislang nichts geändert.
Sowohl den zweiten Libanonkrieg im Jahre 2006 wie auch die weltweite Wirtschaftskrise 2008 überstand die israelische Wirtschaft weitgehend reibungslos. Während westliche Länder mehrere Milliarden Dollar investierten, um den Zusammenbruch verschiedener Wirtschaftssektoren zu verhindern, konnte Israel im Rahmen der Politik seines Zentralbankdirektors Stanley Fischer mit einer bloßen Senkung des Zinssatzes die Krise überwinden. Die Inflation blieb angemessen (weniger als 4 Prozent), und die Arbeitslosenquote stieg nur moderat (auf ca. 8 Prozent) und kehrte schnell auf das Niveau vor der Krise zurück. 2009 war Israel das einzige westliche Land mit einem positiven BIP-Wachstum, was allerdings auch seiner schon vorhandenen wirtschaftlichen Struktur und Wirtschaftspolitik geschuldet war – und der Tatsache, dass es diese Krise schon vorgelagert, im Rahmen des Zerplatzens der Dotcom-Blase, erlebt hatte.
QuellentextGenerationengerechtigkeit ade? – Ein persönliches Resümee
[…] Während unsere Eltern in einer von ökonomischer Sicherheit geprägten Zeit lebten, haben wir uns in "Flexibilität" zu üben. Hatten sie noch eine feste Arbeit, wechseln wir alle ein bis zwei Jahre den Arbeitsplatz. Haben sie noch in Vollzeit gearbeitet, arbeiten viele von uns in mehreren Teilzeitjobs. Wurden sie noch direkt angestellt, werden wir durch den Dschungel von Leiharbeit und Arbeitsagenturen gejagt. Haben sie geheiratet und sich eine eigene Wohnung gekauft, bewegen wir uns auf einem deregulierten Wohnungsmarkt mit jährlich steigenden Mieten, sozialer Wohnungsbau ist rar. Wurden sie pensioniert und erhielten ihre Renten, müssen wir in Anbetracht der Krise der Pensionsfonds hoffen, den Ruhestand vermeiden zu können.
[…] Unser Hauptfeind sind die Lebenshaltungskosten, hauptsächlich für Nahrungsmittel und Wohnung, was die Vorstellung, ein Haus ohne elterliche Unterstützung zu kaufen, nahezu unmöglich macht. Genau wie bei unseren europäischen und amerikanischen Altersgenossen ist unsere Generation die erste seit den 1950er-Jahren, deren wirtschaftliche Situation sich im Vergleich zur vorherigen Generation nicht verbessert hat. In der Tat dürfte sich unsere Situation sogar noch verschlechtert haben. Während fast die Hälfte der jungen Erwachsenen in Europa eher widerwillig bei ihren Eltern lebt, überlassen wir Israelis es ihnen, die Rechnung zu übernehmen: Viele von uns sind entscheidend von ihren Eltern abhängig, um über die Runden zu kommen, oder vielmehr den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, den wir gewohnt waren. […]
Entgegen den Versprechungen hat die Liberalisierung der israelischen Wirtschaft nur einer kleinen Schicht der Gesellschaft Wohlstand gebracht, nicht der breiten israelischen Öffentlichkeit. […][E]ine Senkung der Lebenshaltungskosten […] wurde nur in einigen spezifischen Bereichen erreicht, während die meisten Grundkosten – für Lebensmittel und Wohnen – die gleichen geblieben sind. Zeitgleich waren wir es, die unter der Einsparung öffentlicher Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Wohnungen zu leiden hatten […].
Die gebildete junge Mittelschicht war die treibende Kraft hinter den sozialen Protesten des Jahres 2011. Sie lebten nach den Slogans "Bildung ist das Wichtigste" oder "Es geht nicht ohne akademischen Grad" und mussten dann nach ihrem Abschluss feststellen, dass sie nur unter schwierigsten Bedingungen einen guten Job finden konnten und kaum über die Runden kamen. […] Während Israels Hochschulsystem in den letzten zwei Jahrzehnten bedeutend gewachsen ist, wurde der "Marktwert" von Bildungsabschlüssen entsprechend ausgehöhlt, was auch zu einer Verringerung der Einkommen führte. Der soziale Protest, so argumentiert der israelische Politologe Amit Avigur-Eshel, ist als Reaktion auf die gebrochenen neoliberalen Versprechen zu verstehen, dass höhere Bildung zum Erfolg führt. […]
Im Falle Israels resultiert soziale Unzufriedenheit aus dem Gefühl, dass ein weiteres Versprechen gebrochen wurde: jenes nämlich, das auf Israels ethno-republikanischem Gesellschaftsvertrag gründet, die Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten, mit anderen Worten: Geben und Nehmen. In der Armee zu dienen ist natürlich die beschwerlichste aller Pflichten, aber der Preis, in einer in dieser Weise politisch mobilisierten Gesellschaft zu leben, ist viel höher als nur das. Jenseits dessen, dass wir unsere ersten Jahre als Erwachsene (drei für Männer, zwei für Frauen) in […] Uniformen verleben, verbringen wir unglaublich viel Zeit damit, die Gemeinsamkeit zu zelebrieren und zu bewahren: an sowohl jüdischen als auch nationalen Feiertagen; im Geschichts- und Staatsbürgerkundeunterricht in der Schule; auf patriotischen Jugendtouren durch Israel; beim Hören populärer nostalgisch-kitschiger zionistischer Lieder, aufgeführt von Militärkapellen. Im Fernsehen und Radio leidet man dagegen unter unermüdlicher Berichterstattung von Bedrohungen und Angriffen. Im Gegenzug erwarteten wir, dass der Staat auf unserer Seite ist und unsere Solidarität erwidert. In diesem Geschäft auf Gegenseitigkeit war es vor allem der Wohlfahrtsstaat, der eine Zeitlang dazu beitrug, eine gewisse naive Mentalität im Sinne von "Der Staat bin ich" zu befördern. […]
Die wirtschaftliche Krise, in der meine Generation aufgewachsen ist, hat weitreichendere Konsequenzen, als man sich das vorstellen konnte: Die Krise untergräbt letztlich die Grundlagen der staatskonstituierenden Israeliness und macht darauf aufmerksam, wie sehr Israel an den typischen Folgen einer Einwanderungsgesellschaft laboriert. […]
Adi Livny, Raketengetrieben, in: Kursbuch 181: Jugend forsch, Januar 2016, S. 117 ff.Abdruck mit Genehmigung durch Kursbuch Kulturstiftung 2018, Externer Link: www.kursbuch.online
Start-up-Nation
Die Beschäftigungsstruktur Israels veränderte sich in den vergangenen Jahren infolge lokaler ebenso wie globaler wirtschaftlicher Verschiebungen. Die traditionellen Industrien verlieren gegenüber dem Hightechsektor. Ein wesentlicher Teil der Fabriken, die früher Textilien produzierten, verlagern ihre Produktionslinien ins Ausland und lassen nur ihre Logistik- und Entwicklungszentren in Israel zurück. Die Waffenexporte Israels bleiben signifikant und nach den USA, Russland und Frankreich belegt Israel weltweit Rang vier der größten Waffenexporteure.
Israel entwickelte sich in den vergangenen Jahrzehnten durch die spezifische, seiner geopolitischen Situation und den vorbestehenden militärischen Konflikten geschuldeten Expertise zum "Hotspot” der weltweiten Start-up-Szene. Das Land wird daher oft als "Start-up-Nation" betitelt. Gerade im Software Bereich, bei der Entwicklung von Anwendungen und vor allem der Cybersecurity hat sich Israel innerhalb kürzester Zeit an der Weltspitze der Innovationstreiber etabliert. Die Gründe dafür sind zahlreich: eine gut ausgebildete Bevölkerung (24 Prozent der Israelis absolvieren eine technologische Ausbildung) sowie ein hochtechnologisches Militär, dessen Soldaten mit der Beendigung ihres Dienstes oft in die Hightechszene wechseln. Aber auch in den biotechnologischen und agronomischen Innovationen ist Israel oft ganz vorne, bedingt durch seinen Mangel an Ressourcen und die Notwendigkeit, sich an schwierige klimatische Bedingungen anzupassen.
Israelische Unternehmen führen den amerikanischen NASDAQ-Aktien-Index im Technologiebereich mit klarem Abstand vor den Unternehmen anderer Länder an. Gestützt wird diese Entwicklung auch durch den hohen BIP-Anteil (ca. 4 Prozent), der in Israel in Forschung und Entwicklung fließt. Kapitalgeber aus aller Welt stellen die finanziellen Mittel relativ schnell und unkompliziert zur Verfügung.
QuellentextEin neuer Rohstoffreichtum?
[…] In Israel hat nichts weniger als eine Energie-Revolution stattgefunden. […] 2009 wurde […] das Erdgasfeld Tamar etwa 80 Kilometer vor der Hafenstadt Haifa im nördlichen Israel entdeckt – das Vorkommen in rund 1700 Metern Tiefe wird auf mindestens 200 Milliarden Kubikmeter geschätzt, eine auch kommerziell erhebliche Menge und der bis dahin größte Fund. Seit T amar 2013 in Betrieb gegangen ist, kann Israel rund 40 Prozent seines Energiebedarfs durch Erdgas abdecken. […] Der Rest des israelischen Bedarfs wird nach wie vor mit importierter Kohle erzeugt.
Der neue Rohstoffreichtum bietet aber auch Möglichkeiten für ganz neue Allianzen. […] Israel, Zypern und Griechenland haben sich […] darauf verständigt, eine gemeinsame Erdgas-Pipeline in die EU zu bauen.
[…] Vor allem im Libanon hegt man ernsthafte Zweifel daran, dass Tamar und Leviathan tatsächlich in israelischen Gewässern liegen. Im Gegenteil, man ist überzeugt, dass sich die Felder in libanesisches Gewässer erstrecken. Normalerweise gilt, dass jeder den Teil ausbeutet, der auf eigenem Territorium liegt. Da der Libanon die Existenz Israels jedoch nicht anerkennt und Israel den Libanon als feindlichen Staat ansieht, kann man sich darüber schwerlich verständigen. […]
Auch in Israel selbst sorgt die kommerzielle Nutzung der Erdgasvorkommen für Auseinandersetzungen. Nichtregierungsorganisationen kritisieren, dass die israelische Regierung den Rohstoffreichtum Privatinvestoren überlasse und die Bevölkerung bisher kaum davon profitiere. […] Die Investoren haben vor allem ein Interesse daran zu exportieren, um die hohen Kosten für die Erschließung wieder einzuspielen. […]
"Aus unserer Sicht ist aber der Export die schlechteste aller Möglichkeiten", so [die Geschäftsführerin des Israeli Energy Forum (IEF) Yael] Cohen-Paran. Denn aus Gas Strom zu erzeugen, sei zumindest viel "grüner" als Kohle oder Öl zu verbrennen. […] "Aber wir wollen eine Energiewende", so Cohen-Paran. "Warum sollten wir also das Erdgas exportieren, bevor wir selbst Alternativen haben?" Bisher fließen 82 Prozent des Erdgasverbrauchs in Israel in Kraftwerke und 18 Prozent in Industrieanlagen. Es gibt jedoch auch Pläne, Erdgas als Treibstoff für Fahrzeuge einzusetzen, was bisher kaum verbreitet ist. […]
Exporte stark einzuschränken ist nicht ohne Risiko für die Regierung. Es könnte den Anreiz für die auf Bohrung und Erschließung spezialisierten Konzerne, in neue Funde zu investieren, verringern. […]
Silke Mertins, Energie-Revolution, in: IP Länderporträt Nr. 2/2016, Israel, S. 24 ff.
Schatten über Israels Wirtschaft
Trotz des Wachstums der israelischen Wirtschaft ist die Erwerbsquote (der Anteil der Arbeitnehmer an der Erwerbsbevölkerung) nach wie vor niedrig (ca. 60 Prozent im Jahr 2013, verglichen mit etwa 70 Prozent in konventionell entwickelten Ländern). Diese geringe Beteiligungsquote der Erwerbsbevölkerung ist im Wesentlichen auf die Nichtbeteiligung arabischsprachiger Frauen sowie ultraorthodoxer Juden zurückzuführen, von denen viele gar nicht oder nur geringfügig beschäftigt sind. Diese Bevölkerungsgruppen sind allerdings besonders kinderreich und wachsen entsprechend stärker als die nicht-ultraorthodoxe jüdische Mehrheit und die säkularen Araber. Experten prognostizieren deshalb eine starke demografische Veränderung des Landes in den nächsten Jahrzehnten, die möglicherweise auch ökonomische Auswirkungen mit sich bringen werde.
Der dauerpräsente Nahostkonflikt wirft allerdings seinen Schatten über das Land. In den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts gab es Dutzende von Anschlägen auf Busse in Tel Aviv, aber auch andere zivile Ziele wurden von Terroranschlägen getroffen. Durch den Bau der Sperranlagen um das Westjordanland konnte Israel die große Mehrheit der (organisierten) Terroranschläge verhindern. Doch die in den vergangenen Jahren von der Hamas eingesetzten Raketen haben immer größere Reichweiten, die im Verlauf des Gazakrieges von 2014 zum ersten Mal auch das Zentrum Israels bzw. Tel Aviv erreichten. Diese haben das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung beeinflusst, auch wenn sie auf das Schutzpotenzial des "Eisernen Doms" relativ vertrauen.
Die zweite Intifada von 2000 bis 2004 hatte allerdings auch Rückwirkungen auf die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland und im damals noch besetzen Gazastreifen. Schutzmaßnahmen wie die Verstärkung der Sicherheitskontrollen und der Entzug von Passierscheinen machte vielen Palästinensern die Arbeit in Israel unmöglich, was die Wirtschaft in den palästinischen Gebieten, aber ebenso israelische Firmen – beispielsweise im Bauwesen, in der Landwirtschaft oder in der Industrie – vor große Probleme stellte.
Eine "Gastarbeiterpolitik", ähnlich wie die Bundesrepublik Deutschland sie in den 1960er-Jahren betrieben hatte, konnte Israel keine langfristige Lösung bieten. Zudem ist die dauerhafte Zuwanderung von Personen, die nicht jüdisch sind oder keine familiären Bindungen zu Juden bzw. Israelis vorweisen können, in Israel gesetzlich schwierig, sodass zwei Drittel dieser Arbeitskräfte "illegal", so der hebräische Ausdruck, weiter im Land arbeiten. Schließlich führte die Zuwanderung von Arbeitskräften dazu, den ökonomischen Abstand zwischen Israelis und Palästinensern zu verschärfen, was die wirtschaftlich notwendige Komponente eines Friedensprozesses untergräbt.
Neben dieser ökonomischen Asymmetrie erregen der Ausbau der israelischen Siedlungen im Westjordanland und israelische Firmen, die sich dort niederlassen, zunehmend internationale Kritik. Diese führt mitunter zu einer Kennzeichnung ihrer Produkte und zu generellen Boykottaufrufen, die sich nicht nur auf israelische Produkte aus dem Westjordanland beschränken.
Bekannt dafür ist die "Boycott, Divestment and Sanctions"-Bewegung (BDS), eine Gruppierung dutzender palästinensischer Organisationen, die weltweit an Universitäten, in Parlamenten und vor allem in sozialen Netzwerken zum generellen Boykott der israelischen Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft aufruft. Obwohl BDS den Rückzug einiger internationaler Firmen aus dem Westjordanland, teilweise sogar komplett aus Israel, als eigene Erfolge feiert, sind diese Maßnahmen, bis auf vereinzelte Ausnahmen, nicht eindeutig auf die Aktionen dieser Bewegung zurückzuführen. Problematisch ist, dass über BDS allerdings auch israelische und palästinensische Wissenseliten beschädigt werden, die eine friedliche Koexistenz anstreben.
QuellentextLebensmittel Nr. 1
[…] Im Wesentlichen stützt sich Israels blaue Revolution auf die drei Säulen Meerwasserentsalzung, Abwasseraufbereitung und Technikeinsatz bei der landwirtschaftlichen Bewässerung sowie der Vermeidung von Wasserverlusten. Zentrales Element ist die Meerwasserentsalzung, die Israel in seiner Trinkwasserversorgung weniger abhängig von Regenfällen und unterirdischen Wasservorkommen macht. Heute werden rund zwei Drittel des gesamten Trinkwassers durch Entsalzung gewonnen. Zwischen 60 und 90 Minuten dauert es, bis das gefilterte Wasser aus dem Mittelmeer in entsprechender Qualität als Trinkwasser entnommen werden kann – in urbanen Regionen werden so 80 Prozent der Haushalte versorgt. […]
Zudem setzt Israel bereits seit Mitte der neunziger Jahre auf die Wiederaufbereitung von Abwasser aus den Haushalten, das vor allem als so genanntes Grauwasser in der Landwirtschaft zum Einsatz kommt. Aus diesem Verfahren stammen etwa 70 Prozent des im Agrarsektor verwendeten Wassers – das qualitativ nicht den hohen Trinkwasserstandards genügen muss. Israel recycelt über 80 Prozent seiner Haushaltsabwässer und ist damit Spitzenreiter im weltweiten Vergleich […].
Ein weiteres Schlüsselelement der israelischen Wasserversorgung war und ist die Vermeidung von Wasserverlusten, vor allem von Lecks in den Leitungen. In vielen Ländern sind hierbei Verluste von 35 bis 50 Prozent keine Seltenheit. In Israel dagegen werden seit einigen Jahren Sensoren an den Hydranten in größeren Städten installiert, die nachts, wenn es ansonsten vergleichsweise ruhig ist, Wasserschäden und kleine Risse in Wasserleitungen anhand von Geräuschen zuverlässig identifizieren und bis auf einen Meter genau melden. Mit diesem Verfahren hat Israel seine Leitungsverluste auf 10 Prozent gesenkt, in einigen Städten gar auf 7 bis 8 Prozent. […]
Doch diese bemerkenswerte Entwicklung hat auch ihre Schattenseiten; […] etwa der immense Energiebedarf der Entsalzungsanlagen und die damit verbundenen CO2-Emissionen. […]
Hinzu kommt, dass infolge der steigenden Wasserverfügbarkeit strukturelle Grundprobleme oder notwendige Reformen im Wassersektor in den Hintergrund rücken. In Wüsten- und Halbwüstengebieten werden weiterhin sehr wasserintensives Obst und Gemüse, vorwiegend für den Export, angebaut, etwa Zitrusfrüchte, Tomaten und Gurken. Ein höchst unvernünftiges und aus Wasserperspektive unrentables Geschäft: Während die Landwirtschaft über 60 Prozent der Wasserressourcen verbraucht, beläuft sich ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt auf gerade einmal 2 Prozent. […]
Besonders problematisch bleibt auch aufgrund von Wasserfragen das Verhältnis zu Palästina. Im Zentrum der Kritik steht die extrem ungleiche Verteilung und Nutzung der gemeinsamen Wasserressourcen. […] [D]ie palästinensischen Gebiete [profitieren] bislang nicht von der israelischen Erfolgsgeschichte in Sachen Wasserversorgung […]. Israel macht dafür das schlechte Wassermanagement der dortigen Behörden verantwortlich. […] Die Palästinensische Autonomiebehörde führt dagegen an, dass sie gar nicht in die Lage versetzt werde, eine adäquate Wasserversorgung aufzubauen: Infolge der seit 1967 bestehenden Besetzung des Westjordanlands und der seither verhängten Militärgesetzgebung müssten Maßnahmen wie die Bohrung neuer Brunnen oder die Einfuhr von schwerem Gerät und Technologie zur Gewinnung von Trinkwasser genehmigt werden, was Israel in der Regel verweigere. […]
Allen Streitigkeiten zum Trotz hat Israel eine lange Kooperationshistorie im Wassersektor mit seinen Nachbarn vorzuweisen. In den vergangenen 50 Jahren hat man eine Reihe von teils geheimen Vereinbarungen für ein gemeinsames Wassermanagement abgeschlossen. […]
Tobias von Lossow, Blaues Wunder, in: IP Länderporträt Nr. 2/2016, Israel, S. 52 ff.