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Regionales System und Machtbalance | Naher Osten | bpb.de

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Regionales System und Machtbalance

André Bank

/ 24 Minuten zu lesen

Das regionalpolitische System des Nahen Ostens hat seit 1945 mehrere grundlegende Transformationen erfahren. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Arabischen Frühling lassen sich vier Phasen unterscheiden. Heute ist die regionale Ordnung durch eine komplexe Multipolarität gekennzeichnet.

Motorisierte israelische Einheiten während des Sechstagekrieges (Dritter Nahostkrieg) 1967: Bis heute beeinflusst der Ausgang dieser militärischen Auseinandersetzung die geopolitischen Machtverhältnisse in der Region. (© ullstein bild – AP)

Der Arabische Kalte Krieg 1945 bis 1967


Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 wandelte sich die internationale Politik. Anstelle der Multipolarität, also der Konkurrenz einer Vielzahl von Großmächten, trat die Bipolarität der beiden neuen Supermächte USA und Sowjetunion. Die vormaligen Großmächte Großbritannien und Frankreich verloren an Einfluss. Das bedeutete leicht zeitversetzt auch das Ende des "britischen" und "französischen Moments" in der nahöstlichen Regionalpolitik.

In dieser Übergangsperiode veränderte insbesondere der israelisch-arabische Krieg von 1948/49, der als Reaktion auf die Staatsgründung Israels im Mai 1948 begonnen hatte, das regionale System des Nahen Ostens. Die arabische Niederlage im Ersten Nahostkrieg stärkte den neuen jüdischen Staat und bedeutete gleichzeitig eine "Katastrophe" (arab.: nakba) für die palästinensische Bevölkerung. Die Palästinenser hatten auf einen eigenen Staat gehofft, und mussten nun Besatzung und Vertreibung erdulden.

Als Folge des Krieges erweiterte sich das 1946 unabhängig gewordene Transjordanien, unterstützt durch die noch britisch kontrollierte, jordanische Armee, die sogenannte Arabische Legion, um das Westjordanland und Ostjerusalem und wurde so zum neuen, bevölkerungsmäßig fast doppelt so großen Haschemitischen Königreich Jordanien. Die Niederlage der ägyptischen Armee 1948 schwächte die bereits angeschlagene ägyptische Monarchie und ebnete den Weg für die Machtübernahme der "Freien Offiziere" 1952.

Gamal Abdel Nasser, der 1954 neuer Präsident Ägyptens wurde, gab der nahöstlichen Regionalpolitik neue Impulse: Der Antikolonialismus und der Panarabismus, also die politische Einheit der arabischen Nation unter ägyptischer Führung Nassers, rückten ins Zentrum seiner Außenpolitik. Der politische Erfolg in der Suezkrise 1956 (Zweiter Nahostkrieg), als er sich mit der Nationalisierung des Suezkanals politisch gegen Großbritannien, Frankreich und Israel durchsetzte, machte Ägypten zur führenden arabischen Macht im Nahen Osten. Mit dem ägyptischen Radiosender "Stimme der Araber" (arab.: Saut al-Arab), dem zentralen Sprachrohr der Regierung in Kairo, gelang es, die arabischen Bevölkerungen des gesamten Nahen Ostens zu mobilisieren. Mehr noch als die militärische hard power ermöglichte die soft power ideologischer Überzeugung Ägypten in dieser Phase den Aufstieg zur Regionalmacht.

Die konservativen Regierungen in Saudi-Arabien, Jordanien, im Libanon und im Irak wollten sich Ägyptens Führungsanspruch jedoch nicht unterwerfen. Es bildete sich die regionale Machtkonstellation des "Arabischen Kalten Krieges" heraus.

Dieser glich in seiner Zwei-Lager-Bildung zwar äußerlich der Konstellation der Ost-West-Konfrontation. Doch in der arabischen Variante der 1950er- und 1960er-Jahre ging es weniger um die Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Kommunismus als vielmehr um die Fragen, worin genau die "arabischen Interessen" bestanden und wer sie in der Region repräsentieren sollte.

In den konservativ regierten Staaten entstanden um diese Fragen massive innenpolitische Kontroversen, denn die städtischen, gebildeten Schichten sowie weite Teile der politisierten Armeen hegten große Sympathien für panarabische Vorstellungen und die Führungsfigur Nasser. Im Irak trug dies zum gewaltsamen Ende der Monarchie und zur Ausrufung der Republik im Juli 1958 bei. In Jordanien 1957 und im Libanon 1958 wurden ähnliche Umsturzversuche nur durch die militärische Unterstützung der USA verhindert. Washingtons Nahostpolitik war in dieser Zeit geleitet durch die im Januar 1957 erlassene Eisenhower-Doktrin, die allen von der Sowjetunion "bedrohten" Regierungen (Ägypten, Syrien, Irak, Jordanien 1956/57 und Libanon bis 1958), jegliche Form des Beistands zusicherte, auch den Einsatz von Atomwaffen.

Trotz der zahlreichen Konflikte im Nahen Osten eskalierte in den 1950er- und 1960er-Jahren lediglich die Situation im Jemen. Dort standen sich 1962 bis 1967 in einem innerarabischen Krieg ägyptische und saudi-arabische Truppen als externe Bündnispartner lokaler Akteure gegenüber. Im Sechstagekrieg vom Juni 1967 (Dritter Nahostkrieg) erreichte der von Nasser geprägte Panarabismus dann allerdings seinen Höhe- und Wendepunkt: Ab Mitte der 1960er-Jahre hatten sich Ägypten und die seit 1963 in Syrien herrschende Ba’th-Partei (arab.; dt.: Wiedergeburt, Erweckung), die eine gegenüber Nasser radikalere Form des arabischen Nationalismus vertrat, einen ideologischen "Überbietungswettbewerb" in Drohungen gegen Israel geliefert. Israel reagierte auf diese Drohungen mit einem Überraschungsangriff: Binnen kürzester Zeit eroberte es die Sinai-Halbinsel und den Gazastreifen von Ägypten, das Westjordanland und Ostjerusalem von Jordanien und die Golanhöhen von Syrien.

Vom Sechstagekrieg bis zum Ende des Kalten Krieges 1989/90


Der Sechstagekrieg 1967 war ein Debakel für die arabischen Regierungen, da sie sich Israel wiederum militärisch geschlagen geben mussten. Noch schwerer als 1948 wog im Bewusstsein vieler Araber jedoch, dass die nationalistischen Hoffnungsträger versagt hatten und Israel dadurch große arabische Gebiete erobern konnte, die es mit Ausnahme des Sinai, des Gazastreifens sowie Teilen des Golan bis in die Gegenwart besetzt hält. Regionalpolitisch bedeutete der Krieg von 1967 den Aufstieg Israels zur überlegenen Militärmacht des Nahen Ostens – ein Status, der mit massiver militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung der USA und später auch der EU bis in die Gegenwart besteht.

Der Panarabismus unter Nasser erlitt durch die Niederlage von 1967 einen deutlichen Ansehensverlust, und auch König Hussein von Jordanien sowie die Ba’th-Regierung in Syrien gerieten innenpolitisch unter Druck. An ihrer Stelle entwickelte sich die 1964 gegründete, ab 1969 von Jassir Arafat geführte Palästinensische Befreiungsbewegung (PLO) zur einflussreichsten Vertreterin des palästinensischen Nationalismus. Sie rief zum Kampf gegen Israel auf und wandte sich auch gegen die konservative Regierung in Jordanien, die sie vor allem für den Verlust Ostjerusalems und des Westjordanlands an Israel verantwortlich machte.

In Jordanien eskalierte der Konflikt im "Schwarzen September" 1970 in einem Bürgerkrieg, nachdem PLO-Kämpfer Teile des Landes besetzt und die Monarchie politisch und militärisch herausgefordert hatten. König Hussein konnte sich letztlich durchsetzen, weil die neue syrische Ba’th-Regierung unter Präsident Hafiz al-Assad (seit September 1970) nicht auf Seiten der PLO eingriff und die Konfliktvermittlung Nassers misslang. Dieser starb überraschend Ende September 1970. Ihm folgte noch im selben Jahr Mohammed Anwar al-Sadat ins ägyptische Präsidentenamt nach, der bis 1981 regierte.

Im Oktober 1973 wurde Israel erneut von Ägypten und Syrien angegriffen. Der Zeitpunkt dieses Angriffes trug dem nun folgenden Vierten Nahostkrieg in Israel den Namen Jom-Kippur-Krieg (Jom Kippur=Versöhnungstag, höchster jüdischer Feiertag) ein, während er auf arabischer Seite als Ramadan-Krieg (Ramadan = islamischer Fastenmonat) bekannt ist. Dieser Krieg führte zwar militärisch nicht zum Rückgewinn aller besetzten Gebiete, brachte aber den neuen Präsidenten al-Assad in Syrien und al-Sadat in Ägypten sowie dem ägyptischen Luftwaffengeneral und späteren Präsidenten Mohammed Hosni Mubarak (reg. 1981–2011) einen regionalpolitischen Legitimitätsgewinn.

Fast zeitgleich begann sich das regionale Schwergewicht von Ägypten nach Osten zu verschieben: Die Erdölpreisrevolution von 1973/74 verzehnfachte die Weltmarktpreise und spülte binnen kürzester Zeit immense Einnahmen in die Staatskassen der Erdöl produzierenden Länder, vor allem am Persischen Golf. Infolgedessen stieg Saudi-Arabien, das erdölreichste Land der Region, in den 1970er-Jahren zur neuen Wirtschaftsmacht des Nahen Ostens auf. Aber auch die Staaten ohne Erdölvorkommen profitierten von den Erdöleinnahmen. Sie entsandten Arbeitskräfte an den Golf und erhielten von dort finanzielle Unterstützung. Dieses regionale Verteilungssystem der Erdölgelder – "Petrolismus" genannt – stabilisierte die Anfang der 1970er-Jahre autoritär herrschenden Regierungen im Nahen Osten und bewirkte eine grenzüberschreitende Mobilisierung der arabischen Gesellschaften, wie sie bis zum Arabischen Frühling nicht mehr stattfand.

Regionalpolitische Sogwirkung entfaltete noch der grundlegende Positionswechsel Ägyptens unter Sadat: Nach dem Prestigegewinn von 1973 näherte sich Ägypten den USA unter Jimmy Carter (reg. 1977-1981) an und unterzeichnete 1978/79 in Camp David einen bilateralen Friedensvertrag mit Israel unter Ministerpräsident Menachem Begin. Der Friedensvertrag sicherte Ägypten zwar die Rückgabe des Sinai. Doch die Anerkennung Israels und die fehlende Rücksprache mit den arabischen Nachbarn isolierten das Land im nahöstlichen Regionalsystem und führten zum zeitweiligen Ausschluss Ägyptens aus der Arabischen Liga, der 1945 gegründeten Regionalorganisation der arabischen Staaten.

Am 6. Juni 1982 intervenierte Israel im Libanon (Fünfter Nahostkrieg) mit dem Ziel, die dort residierende PLO zu zerschlagen und den syrischen Einfluss im Libanon zu schwächen. Diese Intervention und die Massaker von Sabra und Schatila radikalisierten den bereits seit 1975 andauernden libanesischen Bürgerkrieg. In Sabra und Schatila, zwei hauptsächlich von Palästinensern bewohnten Beiruter Stadtteilen, tötete die christliche Phalange-Miliz vom 16. bis 18. September 1982 vor den Augen des israelischen Militärs nach Schätzungen 800 bis 3300 Menschen, vor allem Zivilisten. Die libanesische Hisbollah (arab.; dt.: Partei Gottes), die 1982 als schiitisch-islamistische Untergrundbewegung gegründet wurde, leistete bis zum israelischen Truppenabzug im Mai 2000 erbitterten militärischen Widerstand gegen die israelische Besatzung des Südlibanons, die sogenannte Sicherheitszone, in die sich die israelische Armee nach der Libanon-Invasion von 1985 bis 2000 zurückgezogen hatte.

Ein weiteres Ereignis, das die regionalpolitische Machtbalance im Nahen Osten nachhaltig erschütterte, war die iranische Revolution von 1978/79. Das Ende der prowestlichen Herrschaft des Pahlavi-Schahs weckte bei vielen arabischen Regierungen Befürchtungen vor einer revolutionären, diesmal islamistischen Dynamik in der Region. Deshalb unterstützten mit Ausnahme Syriens alle arabischen Regierungen den Angriff des Irak auf Iran im September 1980. Dieser Angriff leitete den acht Jahre andauernden Ersten Golfkrieg ein, der bis 1988 hunderttausende Todesopfer kostete und massive Verwerfungen auf beiden Seiten nach sich zog. Als Sicherheitsbündnis gegen den revolutionären Iran unter Ajatollah Khomeini, aber auch gegen die Expansionsbestrebungen des Irak unter Saddam Hussein gründeten 1981 unter der Führung Saudi-Arabiens die arabischen Golfmonarchien den Golfkooperationsrat (Gulf Cooperation Council=GCC).

Ende der 1980er-Jahre war das regionale System des Nahen Ostens stark zersplittert: Israel war zwar die eindeutig stärkste Militärmacht, blieb aber trotz des Friedenvertrags mit Ägypten regionalpolitisch isoliert; auch zu Jordanien und dem späteren militärischen Kooperationspartner Türkei blieben die israelischen Beziehungen distanziert. Ägypten gelang es unter dem neuen Präsidenten Husni Mubarak, der dem 1981 von radikalen Islamisten getöteten Sadat nachgefolgt war, nur langsam, wieder im Nahen Osten akzeptiert zu werden. Die Erdölmacht Saudi-Arabien blieb in erster Linie konservativ an der Bewahrung des politischen Status quo interessiert. Die Islamische Republik Iran schließlich überstand ihren postrevolutionären Überlebenskampf nur deutlich geschwächt.

Zweiter Golfkrieg 1990/91 und Nahost-Friedensprozess


Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 wurden die USA zur einzig verbliebenen Supermacht in der Weltpolitik. Dieser "unipolare Moment" wirkte sich auch unmittelbar auf die Machtbalance im Nahen Osten aus: Als der Irak im August 1990 Kuwait besetzte und dadurch das regionale Gleichgewicht sowie die globale Energieversorgung bedrohte, intervenierte im Januar 1991 eine breite, US-geführte Koalition mit ihren regionalen Unterstützern Ägypten, Saudi-Arabien sowie dem traditionell antiwestlichen, aber eben auch antiirakischen Syrien. Der Zweite Golfkrieg stellte mit einer halben Million US-Soldaten eine der weltweit größten Militärinterventionen eines externen Staates seit Ende des Zweiten Weltkrieges dar.

Nach dem Rückzug der irakischen Truppen aus Kuwait verstärkte sich die sicherheitspolitische Abhängigkeit der arabischen Golfmonarchien von den USA. Saddam Hussein war zwar deutlich geschwächt, doch es gelang ihm, sich trotz massiver UN-Sanktionen im Irak an der Macht zu halten. Die USA wurden durch den Zweiten Golfkrieg gewissermaßen zu einer "regionalen" Macht im Nahen Osten, weil sie dort massiv mit Truppen präsent blieben. In der Folge richteten sich alle nahöstlichen Akteure stark an den USA aus – auch und gerade, wenn sie sich wie der Irak, Iran oder Libyen unter Muammar al-Gaddafi gegen Washington positionierten.

Das Ende des Ost-West-Konflikts und die direkte Intervention der USA im Nahen Osten beförderten den israelisch-arabischen Friedensprozess. Washington hatte seinen arabischen Koalitionspartnern im Zweiten Golfkrieg – namentlich Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien – zugesagt, eine umfangreiche Initiative zur Lösung des Nahostkonflikts anzustoßen.

Bereits seit Ende der 1980er-Jahre war der innenpolitische Druck auf die israelische Regierung ebenso wie auf die PLO-Führung stetig gewachsen. Im Dezember 1987 hatte die erste Intifada (arab.; dt.: "Abschüttelung", Erhebung) begonnen, ein ziviler, palästinensischer Aufstand gegen die israelische Besatzung in Ostjerusalem, im Westjordanland und im Gazastreifen. Während der ersten Intifada entstand die "Islamische Widerstandsbewegung" (arab. abgekürzt: Hamas), die sich für einen islamischen Staat in ganz Palästina – inklusive Israel – einsetzte und als national-religiöse Organisation in Opposition zur säkularen PLO trat. Die PLO stand ihrerseits 1990/91 kurz vor dem finanziellen Bankrott, weil durch ihre allzu Irak-freundliche Haltung im Zweiten Golfkrieg die Budgetüberweisungen der Ölmonarchien ausgeblieben waren und als Strafmaßnahme hunderttausende palästinensische Arbeitsmigranten die Golfstaaten verlassen mussten.

Vor diesem Hintergrund begann im Oktober 1991 die Nahostkonferenz von Madrid, zu der die USA neben den nahöstlichen Konfliktparteien auch Russland, die EU und den damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Javier Pérez de Cuéllar, einluden. Ziel von "Madrid" war es, multilaterale Lösungen in Problembereichen wie der wirtschaftlichen Entwicklung, der Wasserverteilung oder Abrüstung zu erzielen. Daran anknüpfend sollte sich Israel in bilateralen Verhandlungen mit den Palästinensern, Jordanien, Libanon und Syrien den schwierigen, territorialen Konfliktfragen zuwenden. Diese scheiterten, weil Israel unter der rechten Likud-Regierung von Jitzhak Schamir kein wirkliches Interesse an einer Lösung hatte und auch die arabischen Staaten zurückhaltend blieben. Der Status der Palästinenser, die in Madrid lediglich als Teil der jordanischen Delegation teilnehmen durften, blieb unbefriedigend.

Der politische Durchbruch im Friedensprozess gelang erst infolge mehrmonatiger Geheimverhandlungen in Oslo. Am 9. September 1993 akzeptierte die PLO-Führung unter Jassir Arafat Israels Recht auf eine Existenz in Frieden und Sicherheit; im Gegenzug erkannte die israelische Regierung unter Jitzhak Rabin (Arbeitspartei) die PLO als legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes an. Auf die gegenseitige Anerkennung folgte am 13. September 1993 die israelisch-palästinensische Prinzipienerklärung. Diese war kein Friedensvertrag, sondern sah als "Rahmenwerk" einen Fahrplan für zukünftige Verhandlungen vor: Als Übergangsregelung wurde eine, wenn auch deutlich begrenzte, palästinensische Selbstverwaltung über bestimmte Gebiete vereinbart und 1994 die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) als proto-staatliches Gemeinwesen geschaffen. Während der israelisch-palästinensischen Verhandlungen kam es am 26. Oktober 1994 auch zur Unterzeichnung des israelisch-jordanischen Friedensvertrags, während die Verhandlungen zwischen Israel und Syrien allerdings stockten. Ein zentraler Streitpunkt war Israels Weigerung, die seit dem Sechstagekrieg von 1967 völkerrechtswidrig okkupierten Golanhöhen an Syrien zurückzugeben.

Der Oslo-Prozess enttäuschte in der Folge die in ihn gesetzten Hoffnungen: Die palästinensische Seite ging davon aus, dass die Einrichtung der PA 1994 eine wirkliche Autonomie bedeutete und zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensbedingungen beitragen werde. Doch auch wenn die EU die PA substanziell unterstützte, blieb es dabei, dass Israel Ostjerusalem, das Westjordanland und den Gazastreifen politisch und militärisch kontrollierte. Am schärfsten kritisierten die Palästinenser den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten, der unter den israelischen Regierungen des Likud von Benjamin Netanjahu (reg. 1996–99 und seit 2009) sowie der Arbeitspartei von Ehud Barak (reg. 1999–2001) weiter vorangetrieben wurde. Die israelische Seite beanstandete ihrerseits, dass der Friedensprozess nicht die erhoffte Entspannung und Sicherheit gebracht habe. In der Sichtweise vieler Israelis beförderte "Oslo" dagegen geradezu das Aufkommen gewaltbereiter palästinensischer Gruppen. Als Beleg dafür führten sie die Zunahme von Selbstmordattentaten im Laufe der 1990er-Jahre an. Diese Attentate wurden nicht nur von Oslo-Gegnern wie der Hamas durchgeführt, sondern auch von Teilen der Fatah, der größten PLO-Fraktion, der Arafat selbst angehörte.

Ende der 1990er-Jahre dominierten auf beiden Seiten die Gegner von "Oslo". So scheiterten auch die Verhandlungen über einen israelisch-palästinensischen "Endstatus", die im Juli 2000 unter Vermittlung von US-Präsident Bill Clinton (reg. 1993–2001) zwischen Barak und Arafat in Camp David stattfanden und im ägyptischen Taba im Januar 2001 nochmals kurz wiederbelebt wurden. In Camp David wurden noch nicht einmal Teilergebnisse erzielt, doch kamen wenigstens alle strittigen Konfliktfragen – Siedlungen, genauer Grenzverlauf, Status von Jerusalem und Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge – erstmals zur Sprache.

Kurz nach dem Scheitern von Camp David provozierte der israelische Likud-Politiker Ariel Sharon (reg. 2001–2006) die palästinensische Seite mit einem medienwirksamen Besuch des auch für Muslime heiligen Tempelbergs im September 2000. Die Folge war die zweite, sogenannte al-Aqsa-Intifada, benannt nach der Jerusalemer al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg, der nach Mekka und Medina drittwichtigsten heiligen Stätte im Islam. Die Zweite Intifada bedeutete die Rückkehr der Gewalt und eine Verhärtung der israelisch-palästinensischen Beziehungen, die auch über 15 Jahre später noch nicht wieder aufgebrochen ist.

Regionalpolitisch hatten der schnelle Aufstieg und schrittweise Niedergang des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses in den 1990er-Jahren die Folge, dass sich das Verhältnis der nahöstlichen Regierungen und der arabischen Öffentlichkeit gegenüber Israel erneut verhärtete. Insbesondere der Siedlungsbau sowie die Fortdauer von Besatzung und militärischer Kontrolle der palästinensischen Gebiete festigten seither die Wahrnehmung Israels als das Feindbild schlechthin. Auch das arabische "Friedenslager" mit Ägypten unter Mubarak, Jordanien unter Hussein, dem 1999 sein Sohn Abdullah nachfolgte, und Saudi-Arabien, das 2002 eine weitere arabische Friedensinitiative anführte, wurde durch den Niedergang von "Oslo" regionalpolitisch geschwächt. Die USA waren zwar in Folge des Zweiten Golfkrieges 1990/91 zum eigenständigen Akteur im regionalen System des Nahen Ostens geworden, sie sahen sich jedoch durch ihre aus arabischer Sicht einseitige Parteinahme für Israel ebenfalls starken Widerständen ausgesetzt.

Der 11. September 2001 und folgende nahöstliche Kriege


Die vierte und bis zum Arabischen Frühling 2011 letzte Phase in der nahöstlichen Regionalpolitik seit 1945 begann mit den Terroranschlägen auf das Pentagon in Washington D.C. und auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 – später in der öffentlichen Berichterstattung kurz "9/11" (Nine-Eleven) genannt. Zu den Anschlägen, denen etwa 3000 Menschen zum Opfer fielen, bekannte sich al-Qaida. US-Präsident George W. Bush (reg. 2001–2009) rief daraufhin den "globalen Kampf gegen den Terrorismus" aus, und nach der unmittelbaren Intervention in Afghanistan im Oktober 2001 machte er den Nahen Osten zum zentralen Operationsfeld der US-Außenpolitik.

Die Antiterrorismus-Perspektive führte nach 9/11 zu einer nie dagewesenen sicherheitspolitischen Kooperation zwischen den USA, der EU und den arabischen Regierungen in Ägypten, Jordanien, Marokko und Syrien. Sie erlaubte es den zuvor genannten autoritär herrschenden Regierungen im Nahen Osten in diesem Zusammenhang, unliebsame Oppositionelle und insbesondere Vertreter islamistischer Bewegungen per se als "Terroristen" zu bezeichnen und zu verfolgen, ohne dafür von Seiten westlicher Regierungen kritisiert zu werden.

Die Antiterrorismus-Perspektive bildete auch den Hintergrund für den US-Krieg gegen den Irak ab März 2003. Die USA unterstellten dem Irak Verbindungen zu al-Qaida. Nachdem Bagdad aber keine direkte Unterstützung islamistischer Terroristen nachgewiesen werden konnte, wurde die Bedrohung durch vermeintliche irakische Massenvernichtungswaffen zum Kriegsgrund erhoben. Auf den Sturz Saddam Husseins sollte eine externe Demokratisierung des Irak erfolgen und ihn zum positiven Beispiel für den gesamten Nahen Osten erheben. Innerhalb der EU führten die US-Kriegspläne zu einer Spaltung in Befürworter und Beteiligte wie Großbritannien und Polen einerseits und Skeptiker wie Deutschland und Frankreich andererseits. Der Dritte Golfkrieg führte binnen weniger Wochen zum Ende der Herrschaft von Präsident Saddam Hussein, die durch die UN-Sanktionen und die regionalpolitische Isolation seit 1991 ohnehin bereits geschwächt war. Der US-Besatzung gelang es jedoch nicht, im Irak umfassend für Sicherheit zu sorgen und einen nachhaltigen politischen und sozioökonomischen Wiederaufbau einzuleiten.

Stattdessen geriet der Irak durch Selbstmordanschläge von Dschihadisten und eine repressive Aufstandsbekämpfung seitens des US-Militärs in einen Bürgerkrieg, der 2005/06 entlang der innerislamischen Trennlinie von Sunniten und Schiiten ausgetragen wurde. Aus regionalpolitischer Sicht verhalfen das Ende der Herrschaft Saddam Husseins und insbesondere der zunehmende Legitimitätsverlust der USA als Besatzungsmacht der Islamischen Republik Iran zum Aufstieg. Sie wurde zur neuen, einflussreichen Akteurin im Irak und – durch ihre Allianz mit Syrien, der libanesischen Hisbollah und der palästinensischen Hamas – auch im weiteren arabischen Raum.

Der Libanonkrieg im Juli/August 2006 trug ebenfalls zu einer Verschiebung der Machtkonstellation im Nahen Osten bei: In dem auch als "Sommer-Krieg" bezeichneten Waffengang eskalierten die seit 2000 anhaltenden Spannungen zwischen Israel und der schiitisch-islamistischen Hisbollah. Die israelischen Militärschläge kosteten weit über 1000 Zivilisten im Libanon das Leben, und große Teile der Infrastruktur des Landes wurden zerstört. Dennoch gewann die Hisbollah aufgrund ihres fortwährenden militärischen Widerstands immenses regionalpolitisches Ansehen in der arabischen Öffentlichkeit und konnte so einen politischen Sieg davontragen. Viele Araber sahen im Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, gar eine neue charismatische regionale Führungsfigur in Nachfolge des ehemaligen ägyptischen Präsidenten Nasser.

Auf den Dritten Golfkrieg 2003 und den Libanonkrieg 2006 folgte der Gazakrieg. Er begann am 27. Dezember 2008 mit einer massiven Offensive der israelischen Armee, die diese mit dem jahrelangen Raketenbeschuss israelischen Territoriums aus dem Gazastreifen rechtfertigte, und endete gut drei Wochen später am 18. Januar 2009. Ähnlich wie im Libanonkrieg starben auch im Gazakrieg weit über 1000 Menschen – vornehmlich palästinensische Zivilisten. Neben der hohen Anzahl an Toten und Verletzten brachte der Krieg zudem die Zerstörung der zivilen Infrastruktur im Gazastreifen mit sich. Innerpalästinensisch führte der Gazakrieg zu einer Stärkung der islamistischen Hamas, die im Januar 2006 die Parlamentswahlen gewonnen und im Juni 2007 gewaltsam die alleinige Kontrolle über den Gazastreifen übernommen hatte. Zur gleichen Zeit übernahm die Fatah mit Waffengewalt das Gebiet des Westjordanlands. Regionalpolitisch brachten der Gazakrieg 2008/09 sowie der Waffengang vom November 2014 der Hamas einen weiteren, mit der Hisbollah 2006 vergleichbaren Prestigegewinn.

Diese Kriege sowie der Einflussverlust der USA im Nahen Osten und ihr weitgehender Rückzug aus der Regionalpolitik führten nach 2005/06 zu einer Erstarkung regionalpolitischer Akteure. Neben Iran betraten neue Kräfte die nahöstliche Arena, wie etwa die Türkei oder das kleine Golfemirat Katar. Unter der seit 2003 regierenden, moderat-islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) konnte die Türkei ihren diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss im Nahen Osten deutlich ausweiten. So vermittelte sie von Mai bis Dezember 2008 in den letztlich gescheiterten israelisch-syrischen Geheimverhandlungen. Ihre offen propalästinensische Haltung während und nach dem Gazakrieg 2008/09 und in der Krise um die sogenannte Gaza-Hilfsflotte brachte ihr große Sympathien in der arabischen Bevölkerung ein. Im Mai 2010 hatten Schiffe mit Hilfsgütern von der Türkei aus Gaza angesteuert und waren durch das israelische Militär, das versteckte Waffenlieferungen befürchtete, gewaltsam gestoppt worden.

Unterdessen gewann auch die Golfmonarchie Katar unter Scheich Hamad Al Thani regionalpolitisch an Statur. Ein Beispiel dafür ist Katars erfolgreiche Vermittlung im Libanon, wo es den Kompromisskandidaten Michel Sulaiman als neuen libanesischen Präsidenten und die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit im Mai 2008 durchzusetzen half. Damit sah sich Saudi-Arabien erstmals von einem anderen arabischen Golfstaat in seinem Status als dominanter player and payer in der regionalen Konfliktbearbeitung herausgefordert.

QuellentextDie Fußballweltmeisterschaft in Katar

Im Jahr 2022 findet erstmals eine Fußballweltmeisterschaft (WM) im Nahen Osten statt. Ausgerechnet Katar, das gerade einmal halb so groß wie Hessen ist, wird der Gastgeber des neben den Olympischen Spielen wichtigsten internationalen Sportevents sein. Diese Entscheidung der FIFA, des Weltfußballverbandes, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Hauptkonkurrent Katars waren die USA als aufstrebende Fußballnation mit einem wachsenden hispanischen Bevölkerungsanteil und einem großen Absatzmarkt.

Zwar gibt es den generellen Trend, die Welt der Sport-Großveranstaltungen auf neue, bis dahin unerschlossene Gebiete auszuweiten, allerdings unterscheidet sich Katar von Ländern wie China (Gastgeber der Olympischen Spiele 2008), Südafrika (Fußballweltmeisterschaft 2012) und Brasilien (Fußballweltmeisterschaft 2014, Olympische Spiele 2016) erheblich: Während in Katar nur zwei Millionen Menschen leben, wovon gerade einmal elf Prozent mit einem katarischen Pass ausgestattet sind, leben in China mehr als 1,3 Milliarden, in Südafrika über 50 Millionen und in Brasilien mehr als 200 Millionen Menschen. Brasilien, China und Südafrika sind führende Regionalmächte. Diese Rolle haben im Nahen Osten die unmittelbaren katarischen Nachbarländer Saudi-Arabien und der Iran inne.

Zwar ist Katar wohlhabend und seine Staatsbürger haben eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen in der Welt, doch ist der Einfluss des kleinen Emirates trotz seines Wohlstandes begrenzt. Einige Fachleute schließen daraus, dass es Katar bei der Ausrichtung der Weltmeisterschaft um mehr als Fußball geht: Es möchte gute Beziehungen zu Ländern außerhalb des Nahen Ostens aufbauen, um im Fall von Spannungen mit seinen mächtigen Nachbarn Iran und Saudi-Arabien Unterstützung zu bekommen. Als mahnendes Beispiel gilt dabei der Fall Kuwaits, das im Golfkrieg 1990–1991 vom größeren Nachbarn Irak annektiert und erst mit Unterstützung einer von den USA angeführten Koalition befreit wurde.

Die Vergabe der Fußball-WM an Katar traf in westlichen Medien auf Kritik. Dabei wurde unter anderem auf die Situation der Gastarbeiter verwiesen, die nach Ansicht von Amnesty International und anderen internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Sklaven behandelt werden. So wird ihnen der Pass abgenommen, sie arbeiten bei brütender Hitze und kommen dabei teilweise zu Tode. Ferner müssen sie in überfüllten Unterkünften leben.

Ein anderes Problem, die für den Leistungssport ungünstige, extreme Hitze im Sommer, ist insofern entschärft worden, als die Fußball-WM erstmals am Jahresende statt wie sonst üblich im Juni/Juli ausgetragen wird. Das Eröffnungsspiel 2022 soll am 21. November in der katarischen Hauptstadt Doha stattfinden, das Endspiel kurz vor Weihnachten am 18. Dezember 2022.

Eine weitere, viel diskutierte Frage lautet, inwiefern die Fußballweltmeisterschaft Katar verändern wird. Es zeichnet sich bereits ab, dass der Golfstaat, dessen Delegation bei den Olympischen Spielen 2012 in London erstmals auch weibliche Athleten angehörten, inzwischen sehr viel stärker Frauensport fördert als andere Golfstaaten wie Saudi-Arabien. Unter anderem gibt es jetzt eine Frauen-Fußballnationalmannschaft, und Schulsport für Mädchen ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden – wenngleich auch mit Geschlechtertrennung.

Ein anderes Beispiel für mögliche gesellschaftliche Veränderungen dank der Fußball-WM betrifft den arabischen Boykott von Israel. Katar hat bereits im Zusammenhang mit seiner WM-Bewerbung versichert, dass Israel im Fall der Qualifikation zur WM 2022 im Land willkommen wäre. Bereits in der jüngeren Vergangenheit haben israelische Sportler an Wettkämpfen in Katar teilgenommen. Ein Beispiel sind die Kurzbahnweltmeisterschaften im Schwimmen im Dezember 2014 in Doha, an denen vier israelische Athleten und eine Athletin teilnahmen.

Deutschland ist an guten Beziehungen mit Katar gelegen. Unter anderem hält das Emirat 17 Prozent der Anteile am größten deutschen Automobilhersteller Volkswagen. Das Verbot der Homosexualität, die Todesstrafe (unter anderem für Gotteslästerung) und die oft unwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen für Arbeitsmigranten treten jedoch in Gegensatz zu gemeinhin akzeptierten Werten in Deutschland und der westlichen Welt. Daher muss die deutsche Außenpolitik eine Balance finden zwischen wirtschaftlichen Interessen und dem Ziel, zur Verbreitung von Menschenrechten beizutragen.

Danyel Reiche

Dr. Danyel Reiche ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Amerikanischen Universität Beirut (AUB)

Neben diesen staatlichen Akteuren traten in den 2000er-Jahren eine ganze Reihe nichtstaatlicher, "neuer" Akteure wie die Hisbollah und die Hamas auf den Plan. Was die Struktur des regionalen Systems anbelangt, so entwickelte sich zum Ende der 2000er-Jahre eine Art "Neuer Arabischer Kalter Krieg": die klare Blockbildung zwischen einem prowestlichen Lager mit Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien einerseits und einer antiwestlichen "Achse des Widerstands", bestehend aus Iran, Syrien, der libanesischen Hisbollah und der palästinensischen Hamas, andererseits. Lediglich die Türkei und Katar nahmen als regionalpolitische Neulinge eine Mittelposition ein. Diese Zwei-Lager-Konstellation, die sich auch aus dem Einfluss- und Vertrauensverlust der USA und zentraler EU-Staaten ergab, war das zentrale Merkmal des regionalen Systems im Nahen Osten bis zum Beginn des Arabischen Frühlings 2011.

Regionale Dynamik


Die Wandlungsprozesse des regionalen Systems im Nahen Osten seit 1945 lassen sich anhand der vier, zu unterschiedlichen Zeitpunkten einflussreichsten regionalen Staaten Ägypten, Saudi-Arabien, Iran und Israel veranschaulichen. Denn sie weisen Potenziale und Defizite auf, die dem jeweiligen Land zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Status als Regionalmacht im Nahen Osten ermöglichten oder zu anderen Zeiten verwehrten.

Ägypten

Lange Zeit strebte Ägypten nach einer regionalen Führungsrolle im Nahen Osten: In den 1950er- und 1960er-Jahren war das Land der Repräsentant des Panarabismus, in den 1980er-Jahren und danach präsentierte es sich als Anführer des prowestlichen "Friedenslagers". Ägyptens Führungsanspruch stützt sich darauf, das mit Abstand bevölkerungsreichste arabische Land zu sein und über eine große und gut ausgestattete Armee zu verfügen. Die lange Geschichte eines zentralisierten, relativ effektiven Staatswesens und einer starken nationalen Identität verhinderten bislang Versuche externer Staaten und politischer Bewegungen, das Land "von außen" zu destabilisieren. Die zentrale Lage in der Region sowie seine Nähe zu Israel unterstreichen Ägyptens geostrategische Bedeutung.

Ägyptens regionaler Einfluss schwand jedoch de facto mit der Niederlage im Sechstagekrieg gegen Israel 1967 sowie der Verlagerung des regionalpolitischen Gravitationszentrums hin zu den Golfstaaten als Folge der Erdölpreisrevolution 1973/74. Ägyptens Allianzwechsel unter Präsident Sadat hin zu den USA, der im bilateralen Friedensvertrag mit Israel 1978/79 seinen Ausdruck fand, resultierte auch aus der dringenden Suche nach einer neuen Finanzquelle für die geschwächte Wirtschaft. Der weitere ökonomische Niedergang Ägyptens unter Präsident Mubarak sowie seine Haltung als US-Alliierter und "Friedenspartner" Israels, die ihn in den Augen der arabischen Welt delegitimierte, unterstrich den zunehmenden regionalen Bedeutungsverlust des Landes seit Ende der 1990er- und während der 2000er-Jahre.

Saudi-Arabien

Saudi-Arabiens Aufstieg als regionale Führungsmacht geht auf seine immensen ökonomischen Ressourcen zurück. Es setzte seinen mit keinem anderen Flächenstaat in der Region vergleichbaren Wohlstand dazu ein, hochentwickelte Waffensysteme zu erwerben, nicht zuletzt von Deutschland, und – im Sinne einer wahrhaften Scheckbuchdiplomatie – eine Vielzahl von politisch einflussreichen Akteuren direkt oder indirekt zu unterstützen. Spätestens ab den 1970er-Jahren entwickelte sich Saudi-Arabien so vom payer immer mehr zum regionalpolitischen player. Außerdem setzten die saudische Regierung und die Vielzahl religiöser Stiftungen, die sie finanzierte, ihren Reichtum auch ein, um ihre besonders konservative Version des Islam zu propagieren. Zu diesem Zweck finanzierten sie im Nahen Osten und darüber hinaus in West- und Zentralasien, dem Balkan, Europa und Ostafrika Moscheen, islamistische Vereine sowie Veröffentlichungen des Koran und anderer religiöser Schriften. Saudi-Arabien leitet seinen Führungsanspruch auch aus seiner Rolle als Hüterin der heiligen Stätten von Mekka und Medina ab.

Doch gibt es eine Reihe von Defiziten, die Saudi-Arabien eine Führungsrolle als Regionalmacht erschweren. Das saudische politische System ist in hohem Maße autoritär; es basiert auf einer strengen Kontrolle der Gesellschaft, bei der dem religiös-wahhabitischen Establishment eine zentrale Rolle zukommt. Sein umfassendes System der Patronage und der sozialen Wohlfahrt, das saudischen Staatsbürgern eine freie Gesundheitsversorgung und Bildungszugang verspricht, setzt einen kontinuierlich hohen Erdölpreis voraus. Wenn der Ölpreis fällt, bedeutet dies eine potenzielle innenpolitische Destabilisierung.

Saudi-Arabien sah und sieht sich beständig ideologisch herausgefordert, da seine außenpolitische Allianz mit den USA und säkularen arabischen Regierungen immer wieder der selbst propagierten, puristisch-konservativen Islam-Interpretation widerspricht. Innerhalb Saudi-Arabiens fanden im Laufe der vergangenen Jahrzehnte wiederholt radikale, systemoppositionelle Ideologien Gehör und Unterstützung: In den 1950er-Jahren stellte der säkulare Panarabismus Nassers den "Feudalismus" und "religiösen Traditionalismus" des Königshauses infrage. Bereits seit 1979 und dann vermehrt ab den 1990er-Jahren warfen ihm radikal-islamistische Gruppierungen seinen "Abfall" vom Islam vor. Schließlich blieb Saudi-Arabien trotz seiner hohen Ausgaben aufgrund der mangelhaften Ausbildung seiner Truppen lange Zeit ein militärisches "Leichtgewicht", wie sich besonders deutlich im Kontext der irakischen Invasion Kuwaits 1990 zeigte. Damals musste die Regierung in Riad Washington um militärische Unterstützung bitten, und US-Truppen operierten von 1990 bis 2003 von saudischem Territorium aus.

Iran

Iran gilt aufgrund seiner räumlichen Ausdehnung, seiner Bevölkerungsgröße, seiner militärischen Fähigkeiten sowie seiner ökonomischen Kapazitäten als weltweit drittgrößter Erdöl- und zweitgrößter Erdgasexporteur als potenzielle Regionalmacht im Nahen Osten. Nichtsdestotrotz hat es das Land bislang nicht geschafft, seine Machtpotenziale in tatsächliche regionalpolitische Dominanz zu verwandeln. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Iran von den arabischen Regierungen und der Öffentlichkeit gleichermaßen als nicht-arabische, gewissermaßen "fremde Macht" angesehen wird.

In den arabischen Ländern, die über eine große schiitische Gemeinschaft verfügen, aber von sunnitisch dominierten Regierungen geführt werden – wie Bahrain, Irak bis 2003, Kuwait und Saudi-Arabien –, wird Iran vielmehr als Bedrohung wahrgenommen. Dies war sowohl vor als auch nach der Islamischen Revolution von 1979 in Iran der Fall. Vor der Revolution war der iranische Pahlavi-Schah ein wichtiger Alliierter der USA und Israels sowie eine der zentralen Stützen der US-Strategie im Kalten Krieg. Sein Bündnis mit den konservativen Kräften im "Arabischen Kalten Krieg" schränkte die Einflussmöglichkeiten Irans in weiten Teilen der arabischen Staaten ein. Nach der Revolution 1979 fürchteten vor allem die autoritären Regime in den arabischen Staaten, von Iran könne eine islamistische Mobilisierung und der Export der Revolution ausgehen. Im Kontext des Ersten Golfkrieges in den 1980er-Jahren betrieb der Irak unter Saddam Hussein eine von den konservativen Golfmonarchien unterstützte antiiranische und antischiitische Kampagne gegen Iran.

QuellentextIran: Gottessouveränität versus Volkssouveränität

Mit dem Sieg der Revolution von 1979 schickte sich die aus ihr hervorgegangene Islamische Republik Iran an, in der Gegenwart ein Gesellschaftsmodell umzusetzen, das sich an der idealisierten Herrschaftszeit des Propheten Mohammed und des vierten Kalifen Ali orientiert. Da dieser Modellversuch mit einer aggressiven, antiwestlichen und antiisraelischen Außenpolitik einherging, war ihm die dauerhafte Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit sicher.

Allerdings begleitet die Islamische Republik Iran seit ihrer Gründung ein Grundwiderspruch, der schon im Staatsnamen zum Ausdruck kommt. Der Mehrzahl ihrer zahlreichen Konflikte und Richtungskämpfe liegt der bisher unüberbrückbare Gegensatz zwischen "islamischem" und "republikanischem" Staatsverständnis zugrunde. Gottessouveränität steht gegen Volkssouveränität. Auf der einen Seite befindet sich ein Staat, dessen höchste Institution der "Oberste Rechtsgelehrte" ist, ein Theologe, der laut Verfassung auch als Oberbefehlshaber aller Streitkräfte fungiert und der alle gewählten Instanzen, einschließlich des Präsidenten, entlassen kann. Er stützt seine Macht auf spezifische Institutionen, wie die einflussreichen Freitagsprediger, die wirtschaftsmächtigen islamischen Stiftungen und – nicht zuletzt – die Revolutionsgarden (Pasdaran).

Auf der anderen Seite besteht eine republikanische Staatsform mit einem gewählten Präsidenten, einem gewählten Parlament, einer dem Parlament rechenschaftspflichtigen Regierung und allen nachgeordneten staatlichen Organisationsebenen. Da in Iran keine modernen Parteien existieren, werden Kandidaten für Wahlfunktionen von Interessengruppen benannt oder stellen sich individuell zur Wahl. Ein "Wächterrat" kontrolliert die Kandidaten auf ihre "revolutionäre, islamische Gesinnung". Das schränkt die tatsächliche Auswahl an alternativen Programmangeboten und deren Vertretern naturgemäß stark ein.

Den Revolutionären von 1979 war der experimentelle Charakter ihres Staatsbildungsversuchs bewusst. Wie soll ein islamischer Staat in der Gegenwart aussehen, wenn über dessen konkretes Wesen anhand der historischen Quellen nur gemutmaßt werden kann? Andererseits ist die Islamische Republik Iran ein souveräner Staat, Mitglied der Vereinten Nationen und zahlreicher anderer internationaler Organisationen, mithin also dem jetzt geltenden Völkerrecht verpflichtet. In der Folgezeit ergab sich daraus ein ständiger Widerstreit zwischen "islamischen" und "republikanischen" Maßgaben. Je nach Vorherrschen der einen oder der anderen Maxime erklärt dieser Grundwiderspruch die klar voneinander unterscheidbaren Entwicklungsetappen, die die Islamische Republik Iran seit 1979 durchlaufen hat.

So folgte auf eine sich unmittelbar an die Revolution anschließende visionäre Phase, in der die Revolution – auch mit Hilfe ihres charismatischen Führers, Ajatollah Chomeini (1902–1989) – in alle Welt exportiert werden sollte, ein eher pragmatischer Entwicklungsabschnitt, der nach den verheerenden Schäden des achtjährigen Krieges mit Irak (1980–1988) die Fortexistenz des revolutionären Staates als solchen gewährleisten sollte.

Der Machteinfluss der pragmatischen "Republikaner" um Präsident Rafsandschāni (reg. 1989–1997) schwand aber, sobald die unmittelbare Existenzbedrohung Irans gebannt schien. Sie befanden sich bald auf dem stetigen Rückzug vor der "islamischen" Seite in Gestalt von Chomeinis Nachfolger als Revolutionsführer, Ajatollah Chamene’i (seit 1989). Dieser blockierte alle Regierungsentscheidungen, die ihm als "Verrat" an den Idealen der Revolution galten. Die Lähmung bereitete 1997 den Weg für den zweimaligen Erfolg Mohammed Chātamis (reg. 1997–2005) bei Präsidentschaftswahlen, weil er – vor anderen im Regime – unmittelbaren Reformbedarf erkannt hatte. Besonderen Zuspruch fand Chātami bei jugendlichen und weiblichen Wählern mit seinem Versprechen, Menschen- und Frauenrechte zu achten sowie den Menschen mehr und bessere Möglichkeiten der Mitbestimmung zu verschaffen.

Allerdings musste auch Chātami, der exemplarisch für die Reformphase stand, ähnliche Erfahrungen machen wie Rafsandschāni: Jede einzelne Maßnahme musste gegen den Widerstand der geistlichen Führung durchgesetzt werden, zumal die Öffnung bald auch Kritik an der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" ermutigte. Weil auch Chātami das Prinzip nicht in Frage stellte, verlor er seinen Status als politischer Hoffnungsträger und machte den Weg frei für eine Restaurationsphase unter Mahmud Ahmadinedschad, der zwei Amtsperioden (2005–2013) regierte. Nun herrschten wieder, wie in den frühen 1980er-Jahren, egalitärer Populismus im Inneren und missionarisches Sendungsbewusstsein in den Außenbeziehungen, vor allem hinsichtlich der USA und Israels.

Ahmadinedschads unberechenbare Politik führte innenpolitisch zu schweren Zerwürfnissen. Die Inflationsrate "explodierte", die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich. Das leitete die bisher schwerste Legitimitätskrise der Republik ein, die in den Protesten nach den Präsidentschaftswahlen von 2009 ihren Ausdruck fand. Große Teile der Wählerschaft bezweifelten den erneuten Wahlsieg Ahmadinedschads und protestierten gegen das Wahlergebnis. Aus den Protesten erwuchs mit der "Grünen Bewegung" ein breiter Widerstand. Mit dieser Bewegung musste sich das Regime 30 Jahre nach dem Sturz des Schahs zum ersten Mal wieder auf einen Gegner einstellen, der seine Macht grundsätzlich in Zweifel zog. Es reagierte mit massiver Unterdrückung. Tausende Oppositionelle wurden verhaftet, viele gefoltert und getötet.

Außenpolitisch stand die Präsidentschaft Ahmadinedschads im Zeichen der Abwehr eines immer härter werdenden internationalen Sanktionsregimes, das sich gegen den Verdacht richtete, Iran betreibe ein militärisches Nuklearprogramm.
Die durch den internationalen Handelsboykott verschärfte ökonomische Krise erleichterte 2013 den Sieg des Reformers Hassan Rohani bei den Präsidentschaftswahlen. Getragen durch ein starkes Mandat der Bevölkerung und ermutigt von Revolutionsführer Chamene’i gelang Rohanis Verhandlungsführern am 14. Juli 2015 die Unterzeichnung eines Atomabkommens (Joint Comprehensive Plan of Action – JCPOA) mit der von den ständigen UNO-Sicherheitsratsmitgliedern und Deutschland repräsentierten internationalen Gemeinschaft. Es beendete das Sanktionsregime stufenweise und wurde deshalb von der iranischen Bevölkerung enthusiastisch gefeiert. Die Zustimmung zum Reformkurs bestätigte sich bei den Parlamentswahlen vom Februar 2016, bei der die Reformkandidaten die Stimmenmehrheit erzielten. Für viele Beobachter befindet sich die Islamische Republik Iran damit an der Schwelle von der "Revolution" zum "Staat".

Henner Fürtig

Israel

Seit seiner Staatsgründung 1948 bestimmt die ideologische Auseinandersetzung über Identität und Legitimität Israels Position im Nahen Osten. Ebenso wie Iran gelang es auch Israel nicht, seine immense militärische und wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber seinen arabischen Nachbarn in eine nachhaltige und anerkannte regionale Führungsrolle umzumünzen. Seine militärischen Fähigkeiten sind unzweifelhaft; sie reichen vom Besitz modernster Waffensysteme bis hin zu Atomwaffen, auch wenn deren Besitz offiziell nie bestätigt wurde. Israels Wirtschaft ist hoch entwickelt, und es besitzt unter allen nahöstlichen Staaten die bei weitem engsten Beziehungen zu den USA, die Israel fast immer unterstützen. Allerdings bestärkten die Kriege, die es in der Region geführt hat, und die Besetzung der palästinensischen Gebiete in Ostjerusalem, im Westjordanland und im Gazastreifen sowie der syrischen Golanhöhen die Einstellung weiter Teile der arabischen Öffentlichkeit und die Mehrzahl arabischer Regierungen, Israel nicht als legitimen Staat anzuerkennen.

QuellentextDer palästinensische Kampf um Selbstbestimmung

Die verheerende arabische Niederlage im Junikrieg 1967 zerstörte die Vision einer panarabischen "Lösung" des Nahostkonflikts, ermöglichte aber zugleich die Emanzipation der 1964 unter Gamal Abdel Nassers Vormundschaft gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Unter ihrem Vorsitzenden Jassir Arafat gelang es der PLO 1974, von der Arabischen Liga als "einzige legitime Vertretung des palästinensischen Volkes" anerkannt zu werden und über einen Beobachterstatus Aufnahme in die Vereinten Nationen zu finden. Zwar hatte die PLO keine Chance, auf israelischem Territorium Fuß zu fassen, sie verstand es aber, Schwächen der Regime in den besetzten Gebieten und den Nachbarstaaten Jordanien und Libanon zu nutzen.

Bei Lokalwahlen in den besetzten Gebieten hatten die mit Israel kooperierenden Mitglieder der Oberschicht (Notablen) 1976 keine Chance gegen Vertreter eines modernen Nationalismus, die sich zur PLO bekannten. Gestützt auf legitimatorischen Rückhalt bei palästinensischen Flüchtlingen schuf die PLO in Jordanien (bis 1970) und im Libanon (bis 1982) Herrschaftssysteme, die als Staat im Staate wirkten. Vor allem im Globalen Süden, teilweise aber auch in Europa erwarb sich die PLO hohes Ansehen. Obwohl keine der in der PLO agierenden Organisationen je militärische Bedeutung erlangte, vermochten sie unter anderem durch Flugzeugentführungen und Geiselnahmen international sicherheitspolitische Aufmerksamkeit zu erregen.

Der auf eine Zerschlagung der PLO zielende israelische Libanonfeldzug 1982 zwang die PLO-Führung ins Exil nach Tunis. Auf diese existenzielle Krise reagierte die PLO offensiv: Sie vertiefte ihre organisatorische Verankerung in den besetzten Gebieten und konnte die dortige Bevölkerung dergestalt organisieren, dass ein spontaner Aufstand im Dezember 1987 sich in wenigen Wochen als Intifada ("Abschüttelung") institutionalisierte. Dabei erwuchs der PLO-Führung allerdings Konkurrenz durch lokale PLO-Eliten und die Hamas.

Zudem setzte Arafat gegen erhebliche Widerstände innerhalb seiner Organisation 1988 eine Staatsproklamation durch, in deren Rahmen Israel in den Grenzen von 1949 anerkannt wurde. So wurde der Weg für von den USA unterstützte israelisch-palästinensische Verhandlungen in Madrid 1991 geebnet. Da die palästinensische Delegation aus Repräsentantinnen und Repräsentanten der besetzten Gebiete bestand, drohte der Exil-PLO allerdings ein Kontrollverlust.

Doch in den Osloer Geheimverhandlungen 1993 und dem aus ihnen resultierenden Verhandlungsprozess übernahm Arafat wieder klar die politische Führung der Palästinenserinnen und Palästinenser, die davon aber kaum profitierten. Die Osloer Vereinbarungen verpflichteten Israel lediglich, sein Militär aus den palästinensischen Bevölkerungszentren abzuziehen. Jenseits dieses Zugeständnisses wurde die israelische Besatzung keinen wesentlichen Einschränkungen unterworfen, sodass die jüdische Besiedlung des Westjordanlandes und Ostjerusalems, das vollständig unter staatlicher Kontrolle Israels verblieb, fortgeführt werden konnte. Darüber hinaus kontrollierte Israel die Mobilität von Menschen und Waren innerhalb der besetzten Gebiete und an deren Außengrenzen.

Als sich die sozioökonomischen und politischen Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten kontinuierlich verschlechterten, schwand die ursprünglich hohe Legitimität Arafats, während die wichtigste Oppositionspartei, die Hamas, an Rückhalt gewann. Schließlich wurde der Osloer Prozess "von unten" durch die al-Aqsa-Intifada im Jahre 2000 aufgekündigt. Um seinen innenpolitischen Niedergang zu bremsen, ließ Arafat die Teilnahme der von ihm geführten PLO-Fraktion Fatah an der Intifada teilweise zu und setzte die im Osloer Vertragswerk geschaffenen Institutionen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) nur halbherzig ein, um den Aufstand niederzuschlagen. Damit verlor er aus israelischer und amerikanischer Sicht jedoch seine Funktion und wurde durch israelische Militäroperationen und die Belagerung seines Amtssitzes weitgehend entmachtet.

Erst nach seinem Tod 2004 erlebte die PA eine Renaissance: Arafats Nachfolger Mahmud Abbas akzeptierte die Rolle eines Juniorpartners der Besatzung. Er dämmte die Hamas ein, die seit der "Schlacht von Gaza" 2007 den Gazastreifen innenpolitisch beherrscht, und verfuhr ebenso mit anderen Gruppierungen im Westjordanland, die keinen einseitigen Gewaltverzicht gegenüber Israel mitzutragen bereit waren.

In einigen Politikfeldern erzielte Abbas’ Ansatz Vorteile für die Bevölkerung des Westjordanlandes: Während Israel eine sozioökonomische Entwicklung des Gazastreifens durch eine kompromisslose Abriegelung blockierte und Gewaltakten mit massiven Kampagnen begegnete, wurden die Mobilitätsbeschränkungen im Westjordanland ungeachtet der Errichtung einer Sperranlage flexibler gehandhabt und ließen begrenzte ökonomische und politische Entwicklungen zu. Die Grundstrukturen der Besatzung – Kontrolle der Außengrenzen, Besiedlung des besetzten Landes und konsequente Verweigerung einer strukturellen Transformation des Besatzungsregimes zugunsten höherer Selbstbestimmung der palästinensischen Bevölkerung – blieben allerdings unberührt.

Alle von den USA im 21. Jahrhundert initiierten israelisch-palästinensischen Verhandlungen waren zum Scheitern verurteilt: Israel ließ sich von der in bilateralen Verhandlungen hoffnungslos unterlegenen PLO keine innenpolitisch unpopulären Kompromisse abringen. Die von Abbas seit 2011 verfolgte Strategie einer unilateralen Staatsbildung brachte der PLO zwar Verbesserungen ihres diplomatischen Status im internationalen System ein, von der virtuellen Staatlichkeit profitierte aber nur die politische und diplomatische Klasse. Die Chancen, dass das palästinensische Volk in absehbarer Zeit das Recht auf Selbstbestimmung erhält, stehen hingegen schlecht.

Israel hat seine Macht effektiv eingesetzt, um ein Besatzungsregime zu konsolidieren. Die Fatah und die PA unter Führung Mahmud Abbas’, andere PLO-Fraktionen und die Hamas haben es angesichts der Machtfülle Israels nicht vermocht, realistische Alternativen zu entwickeln. Gleichzeitig erscheinen die Erfolgschancen gesellschaftlichen Widerstandes gering: Die von Exilpalästinensern und -palästinenserinnen getragene und von Teilen der globalen Linken unterstützte BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) ist dem mit den USA und weiten Teilen Europas gut vernetzten Israel machtpolitisch ebenso unterlegen wie die durch den "Arabischen Frühling" inspirierten, sporadisch aktiven sozialen Bewegungen im Westjordanland. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Bewegungen sich der Gegnerschaft der etablierten palästinensischen Organisationen ausgesetzt sehen. Ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Besatzung verwehrt diese den Palästinenserinnen und Palästinensern das Recht auf Selbstbestimmung effektiver als zu Beginn.

Martin Beck

Martin Beck ist Professor am Centre for Contemporary Middle East Studies der Süddänischen Universität Odense.

Fazit:

Abschließend lässt sich festhalten, dass es nach 1945 keinem einzigen nahöstlichen Staat gelang, das regionale System allein zu dominieren. Vielmehr haben sich in den vier Phasen bis zum Beginn des Arabischen Frühlings 2011 immer wieder neue Machtkonstellationen ergeben: Ägypten hatte die Führung im Arabischen Kalten Krieg der 1950er- und frühen 1960er-Jahre inne. Israel dominiert die Region seit 1967 militärisch, Saudi-Arabien seit der Erdölpreisrevolution 1973/74 wirtschaftlich. Wie in den vorherigen Epochen blieb auch Irans Aufstieg seit 2003 regionalpolitisch höchst umstritten. Als wichtigster Gradmesser des regionalpolitischen Einflusses hat sich der israelisch-palästinensische "Zentralkonflikt" seit dem ersten Krieg 1948/49 gehalten. Wer im regionalen System des Nahen Ostens eine dominante Rolle spielen möchte, muss deshalb auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine klare Haltung zur "Palästinafrage" entwickeln.

Die Entwicklungen nach dem Arabischen Frühling


Der Arabische Frühling hat nicht nur die Innenpolitik in zentralen arabischen Staaten verändert, er hat auch zur Neugestaltung der regionalen Ordnung im Nahen Osten beigetragen. War die Regionalpolitik vor 2011 noch durch eine klare Blockbildung zwischen einem prowestlichen Lager (Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien und Israel) und einer antiwestlichen "Achse des Widerstands" (Iran, Syrien, libanesische Hisbollah und palästinensische Hamas) gekennzeichnet, so haben die Rückkehr zu einem autoritären Regime in Ägypten und die Kriege in Libyen, im Jemen und insbesondere in Syrien zu einer unübersichtlichen Multipolarität geführt. Entsprechend lassen sich einige regionalpolitische "Verlierer", aber nur wenige "Gewinner" identifizieren.

Konfliktparteien und Allianzen in Syrien (© picture-alliance, dpa-Infografik)

Eindeutige Verlierer nach dem Arabischen Frühling sind Syrien, Ägypten und die Türkei. Syrien ist vom Akteur zur Arena regionalpolitischer Konkurrenz geworden. Der internationalisierte Bürgerkrieg hat hier zu einer humanitären Katastrophe mit circa einer halben Million Toten, über zwölf Millionen Flüchtlingen und der weitgehenden Zerstörung des Landes geführt. Für sein Überleben ist das autoritäre Regime unter Baschar al-Assad essenziell auf die regionale Unterstützung durch Iran, die Hisbollah und, außerregional, durch Russland angewiesen. Als zentrale Unterstützer oppositioneller, weithin sunnitisch-islamistischer Milizen treten Saudi-Arabien, die Türkei, Katar und, außerregional, die USA auf. Beim Syrienkonflikt handelt es sich folglich um einen doppelten Stellvertreterkrieg: Erstens geht es um die regionale Hegemonie im Nahen Osten, zweitens um die globale Vorherrschaft zwischen den einflussreichsten Staaten außerhalb der Region.

Ägypten hat regionalpolitisch ebenfalls an Einfluss verloren. Auf den Sturz von Präsident Husni Mubarak im Februar 2011 folgte eine Phase der innenpolitischen Unsicherheit. Präsident Muhammad Mursi (reg. Juli 2012 bis Juli 2013) von der Muslimbruderschaft erzielte mit der ägyptischen Vermittlung im Gazakonflikt im November 2012 zwar einen diplomatischen Erfolg. Die massive finanzielle Außenabhängigkeit Ägyptens änderte dies jedoch nicht. Sie verringerte sich auch nicht in Folge des Militärputsches unter General Abdel-Fattah al-Sisi im Juli 2013, als Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate Katar und die Türkei als regionale Hauptfinanziers ablösten. Als finanziell abhängige, innenpolitisch repressive Militärdiktatur dürfte Ägypten auf absehbare Zeit keine Vorreiterrolle mehr im Nahen Osten spielen.

Aufgrund ihrer soft power – außenpolitische Unabhängigkeit, Konservatismus der Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), Parteienpluralismus und wirtschaftlicher Erfolg – galt die Türkei zu Beginn des Arabischen Frühlings als aufstrebende Regionalmacht. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan (reg. seit 2002, Präsident seit August 2014) unterstützte in Tunesien, Ägypten und Marokko offen die moderat-islamistische Opposition, was ihm kurzfristig Ansehen verschaffte. Durch den Putsch in Ägypten 2013 verlor die Türkei allerdings nicht nur einen Partner im bevölkerungsreichsten arabischen Land, sondern auch die Beziehungen zu Saudi-Arabien und den VAE verschlechterten sich.

Der Hauptgrund für den regionalen Niedergang der Türkei nach 2011 ergab sich jedoch durch den Syrienkrieg: Zum einen trug die grenzüberschreitende Verflechtung mit der Kurdenfrage dazu bei, dass der Syrienkonflikt Teil der türkischen Innenpolitik wurde. Zum zweiten verlor Erdogan regional an Glaubwürdigkeit, als er sehr schnell einen regime change in Syrien forderte, obwohl er noch kurz zuvor gutnachbarschaftliche Beziehungen zum Assad-Regime gepflegt hatte. Im Herbst 2016 hat die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdogan durch ihre Annäherung an Russland die Forderung nach einem Sturz Assads aufgegeben.

Diesen "Verlierern" stehen mit den kleinen Golfstaaten Oman oder den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) zwei regionalpolitische "Gewinner" gegenüber. Beiden gelang es, auf unterschiedliche Weise wichtige diplomatische und sicherheitspolitische Nischen auszufüllen. Oman spielte als Vermittler in den Atomverhandlungen zwischen Iran und den P5+1 (fünf UN-Sicherheitsratsmitglieder plus Deutschland) sowie im Syrienkonflikt eine wichtige Rolle. Die VAE unterstützen durch ihre Finanzkraft wesentlich die Opposition in Libyen sowie das Militärregime in Ägypten. Zudem gelang es ihnen, den regionalpolitischen Einfluss ihres Nachbarn am Golf, Katar, der den Muslimbrüdern gegenüber freundlich eingestellt ist, zu begrenzen.

Saudi-Arabiens Position in der regionalen Ordnung ist zwiespältig. Einerseits ist es Riad gelungen, trotz massiver Unruhen in Bahrain alle acht arabischen Monarchien gegen Umsturzversuche zu verteidigen. Auch in Ägypten hat es mit Präsident Sisi seit 2013 wieder einen abhängigen Verbündeten – nach dem Schock über den Sturz des vormaligen ägyptischen Partners Mubarak im Februar 2011. Andererseits konnte Saudi-Arabien nicht verhindern, dass der zentrale Gegenspieler Iran mit den P5+1 im Juli 2015 ein Atomabkommen abschloss und somit politisch aufgewertet wurde. Ähnlich sieht es im Syrienkrieg aus, wo das verfeindete Assad-Regime, unterstützt durch Russland und Iran, militärische Fortschritte erzielen konnte. Der Angriffskrieg Saudi-Arabiens im benachbarten Jemen im März 2015, der kurz nach dem Thronwechsel von König Abdullah auf König Salman (reg. seit Januar 2015) begann, hat bislang keine nachhaltigen regionalpolitischen Erfolge gezeitigt.

QuellentextKulturelle Zerstörung im Jemen

[ ... ] [Jemen,] [d]as Armenhaus der Arabischen Welt, steht vor einer humanitären Katastrophe – und einer kulturellen.

Felix – "glückliches Arabien" nannten die Römer einst diese Region. Seit Beginn des Krieges im März 2015 aber überschlagen sich die Berichte über Bombenschäden, Plünderungen und Raubgrabungen. Unesco-Chefin lrina Bokova geißelte öffentlich "die sinnlose Zerstörung einer der reichsten Kulturen der arabischen Welt." Europäische Antikenspezialisten registrierten bei Auktionen einen dubiosen Anstieg von "südarabischen Objekten aus alten Sammlungen".

Die Liste der Verluste durch saudische Luftangriffe und Jihadisten-Attentate wird lang und länger. Eine einzige Rakete vernichtete das Museum von Dhamar im Hochland, welches 12.500 Objekte beherbergte. Das gleiche Schicksal erlitten die beiden antiken Ausgrabungsstätten Baraqisch und Sirwah aus vorislamischer Zeit, wo deutsche Forscher eine große Tempelanlage freilegten. Fünf Häuser der Altstadt von Sanaa, die zum Unesco-Welterbe gehören, fielen den Bomben des superreichen Nachbarn zum Opfer. Auch die beiden antiken Großschleusen am ältesten Staudamm der Menschheit in Marib, der bereits im Koran erwähnt ist, wurden beschädigt.

Die aus dem 3. Jahrhundert stammende Stadtmauer von Saada, der Hochburg der Houthis, liegt in Trümmern genauso wie die tausend Jahre alte Zitadelle von Taizz. Das örtliche Museum, was wertvolle Manuskripte und vorislamische Exponate besaß, brannte aus.

Schibam im Hadramaut, das ebenfalls zum kulturellen Welterbe gehört und mehr als zehn Jahre lang von deutschen Spezialisten restauriert wurde, erlebte ein Bombenattentat des IS. Stadtmauer und Häuser wurden teils stark beschädigt. Das "Manhattan der Wüste" ist berühmt für die ersten Wolkenkratzer der Menschheit, nicht aus Stahl und Beton, sondern aus Lehmziegeln und Holz. Die größten der 500 Exemplare erreichen mit neun Stockwerken fast zwanzig Meter.

Nach dem Urteil von Mohannad ai-Sayan, dem Antikenchef des Jemen, erleidet seine Heimat derzeit die gleiche ideologisch-religiös getriebene Kulturzerstörung wie Syrien und Irak. [ ... ]

Martin Gehlen, "Bomben gegen eine Hochkultur", in: Frankfurter Rundschau vom 22. August 2016 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt.
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Ähnlich wie Saudi-Arabien ist auch die Stellung Irans in der nahöstlichen Regionalpolitik seit 2011 widersprüchlich. Einerseits sind vormalige Kontrahenten wie Mubarak in Ägypten beseitigt und Erdogan in der Türkei deutlich geschwächt. Der wichtigste arabische Partner, das Assad-Regime in Syrien, hat nicht zuletzt wegen des finanziellen und militärischen Engagements Irans überlebt. Schließlich hat das Atomabkommen Iran regional und global aufgewertet. Andererseits hat der Arabische Frühling nach gut fünf Jahren nicht zum von Iran erwarteten "islamischen Erwachen" moderater Islamisten geführt, sondern antischiitische Salafisten und Dschihadisten wie die des "Islamischen Staats" gestärkt und allgemein bewirkt, dass sich die Glaubensrichtungen im Nahen Osten zunehmend feindseliger und radikaler gegenüberstehen. Das Assad-Regime ist massiv geschwächt und regionalpolitisch isoliert.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die nahöstliche Regionalordnung nach dem Arabischen Frühling durch eine komplexe Multipolarität gekennzeichnet ist. Während Saudi-Arabien und Iran ihre regionalen Führungsansprüche aufrechterhalten konnten, ist der Einfluss der Türkei, Ägyptens und Syriens deutlich zurückgegangen. Israel bleibt weithin isoliert. Die Allianzbildung ist wechselhaft und oftmals eine Reaktion auf dynamische Veränderungen in den zentralen regionalen Arenen, vor allem im Syrienkrieg.

Einflusszonen des Irans und Saudi-Arabiens (© picture-alliance, dpa Infografik)

Dr. André Bank ist Politikwissenschaftler und seit 2010 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Autoritarismus und politische Transformation, Kriegs- und Friedensprozesse sowie der Wandel regionaler Ordnung im Nahen Osten.
Kontakt: E-Mail Link: andre.bank@giga-hamburg.de