1800 bis 1850 | Das 19. Jahrhundert | bpb.de

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1800 bis 1850

Jürgen Osterhammel

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1815 endet in Europa eine Epoche permanenter Kriege. Nun soll die Rückkehr zur fürstlichen Territorialherrschaft inneren und äußeren Frieden gewährleisten. Doch die zunehmende Politisierung breiter Bevölkerungskreise, Bevölkerungswachstum und Massenarmut sorgen für revolutionäre Unruhe und Druck zu Reformen. Die Europäer dringen immer mehr in ferne Weltregionen vor. Dort verschieben sich die Gewichte: Während die westliche Hemisphäre erstarkt, gerät Asien unter den zunehmenden Einfluss der Europäer.

Die Reichskrone des Heiligen Römischen Reiches, niedergelegt von Kaiser Franz II. am 6. August 1806. Damit war das seit dem frühen Hochmittelalter bestehende Reich erloschen.

Die Reichskrone des Heiligen Römischen Reiches, niedergelegt von Kaiser Franz II. am 6. August 1806. Damit war das seit dem frühen Hochmittelalter bestehende Reich erloschen. (© Wikimedia, CSvBibra)

Deutschland 1800-1850

Die territoriale Revolution der deutschen Staatenwelt

Der deutsche Nationalstaat ist heute eine Selbstverständlichkeit. Deshalb fällt es schwer, sich ein Europa vorzustellen, in dem es einen solchen Staat noch nicht gab. Der heutige Föderalismus der 16 Bundesländer erinnert an die große Bedeutung, die Länder, Landschaften und unabhängige Städte – davon geblieben ist der Status von Berlin, Hamburg und Bremen als Bundesländer – als eigenständige politische Einheiten in Deutschland von jeher gehabt haben. Die föderale Struktur der heutigen Bundesrepublik vermittelt allerdings einen nur schwachen Eindruck von der kleinstaatlichen Zersplitterung, die um 1800 das hervorstechende Kennzeichen der politischen Landkarte Mitteleuropas war. Viele der Mini-Staaten bestanden nur aus einer größeren Stadt und ihrer ländlichen Umgebung. Durch den Tod des Herrschers, die Spaltung einer Dynastie, durch Vererbung oder eine militärische Niederlage konnten sie von heute auf morgen den Besitzer wechseln.
Diese fragmentierte Staatenwelt war nicht nach außen abgeschottet. Sie stand an ihren Rändern in einer Vielzahl von Beziehungen zu ihren zahlreichen Nachbarn. Im Inneren wurde sie in erster Linie durch eine gemeinsame Sprache zusammengehalten. Um 1800 war „Deutschland“ zwar kein Nationalstaat, aber eine ziemlich klar identifizierbare Kulturnation, zu der im allgemeinen Verständnis auch die vorwiegend deutschsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (ab 1804: „Kaisertum Österreich“) gehörten.
Die politische Landkarte Mitteleuropas um 1800, das Ergebnis Jahrhunderte langer Prozesse der Teilung und neuerlichen Zusammenführung politischer Einheiten durch Erbgang, Verheiratung, Schenkung oder Krieg, war extrem uneinheitlich. Kein Staat war im heutigen Sinne territorial abgerundet. Selbst ein großflächiges Gebilde wie das Königreich Preußen besaß Streubesitz weit entfernt von seinen hauptsächlichen Landesgrenzen. So gehörte das niederrheinische Kleve bis zu seiner Besetzung durch französische Revolutionstruppen 1794 als Enklave zu Preußen; auch die fränkischen Gebiete um Ansbach und Bayreuth waren preußisch, ebenso das französischsprachige Neuchâtel in der Schweiz. Noch stärker zersplittert war zum Beispiel das Herrschaftsgebiet des Kurfürsten von Mainz. Zu ihm gehörten der Bischofssitz Erfurt sowie kleine Gebietsstücke in Westfranken, an der Lahn, in Nordhessen und sogar nördlich der Werra. Herrschaft wurde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland nicht als Herrschaft über zusammenhängende Territorien gedacht, sondern als Geltungsbereich von Rechtsordnungen. „Kurmainz“ lag dort, wo Mainzer Recht galt. Im Nachbardorf konnte es schon nassauisches oder sächsisches Recht sein. Zollschranken waren allgegenwärtig. Maße, Gewichte und die Uhrzeit unterschieden sich von Ort zu Ort, und ein extrem uneinheitliches Geld- und Münzwesen erschwerte schon im Nahbereich den Wirtschaftsverkehr.
Eine wichtige Nebenwirkung solch komplizierter Gemengelagen war das Fehlen eines nationalen kulturellen Zentrums oder auch mehrerer solcher Zentren. Die Geschichte der deutschen Hochkultur ist bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine Geschichte bürgerstädtischer oder fürstlich-höfischer Kulturförderung und Kulturentfaltung gewesen. War das kulturelle Leben Frankreichs auf Paris, das englische auf London konzentriert, so gab es im deutschsprachigen Raum neben Wien, Berlin oder München eine Vielzahl kultureller Brennpunkte, deren Aufstieg und Fall in Residenzstädten eng mit dem Engagement einzelner fürstlicher Mäzene zusammenhing. In den Jahren um 1800 waren Kleinstädte wie Weimar oder Jena erstrangige Zentren von weiter Ausstrahlung.
Die zahlreichen, oft winzigen autonomen Herrschaftsgebiete auf „deutschem“ Territorium wurden durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation überwölbt. Es war kein Staat im modernen Sinne, sondern eine damals in Europa einzigartig gewachsene, niemals systematisch entworfene Konstruktion, „ein Personenverband, der im Kern bis zum Schluss auf gegenseitigen persönlichen Treueverpflichtungen beruhte“ (so die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger). Daher gab es beim Kaiser in Wien, der außerhalb der habsburgischen Lande keinerlei „absolute“ Macht ausübte, keine deutsche „Regierung“; es gab keine Reichsarmee und keine Reichsverwaltung, kein einheitliches Finanzwesen, kein allgemeines Recht für alle Bewohner des Reiches, nur Ansätze zu einer gemeinsamen Außenpolitik. An Anhängern fehlte es dem Reich bis zum Ende nicht. „Reichspatrioten“ priesen die Vorteile eines lockeren Zusammenhalts, aber die Unfähigkeit des Reiches zu Reformen war vielen Kritikern schon im 18. Jahrhundert aufgefallen.
Den Test eines neuen großen Krieges bestand es nicht. Seit 1792 rückten die Truppen des revolutionären Frankreich gegen den Westen Deutschlands vor, unterstützt durch sympathisierende Aufstände in Mainz und in anderen Städten und Landregionen des Rheinlandes. Dass der Kaiser Anfang 1793 den „Reichskrieg“ erklärte, hatte wenig Bedeutung, da die größeren Länder ihre jeweils eigene Politik betrieben. Angesichts des vehementen französischen Vordringens musste jeder sehen, wie er seine Interessen vertrat, etwa durch separate Friedensschlüsse. Zudem machte Frankreich Angebote der territorialen Neuordnung, die für manche ihrer Adressaten verlockend waren.
In dieser Situation beschlossen einige der mächtigsten Fürsten die Selbsttransformation des Reiches. Der Reichsdeputationshauptschluss vom Februar 1803, das Ergebnis einer Kombination von deutschem Reformwillen und französischem Druck, bedeutete eine revolutionäre Vereinfachung der politischen Landkarte, eine territoriale „Flurbereinigung“ größten Stils. Der Rhein wurde als Grenze zu Frankreich endgültig anerkannt. Die meisten der geistlichen Fürstentümer wurden aufgehoben; im Zuge der „Säkularisation“ wurden kirchliche Hoheitsrechte und umfangreicher Kirchenbesitz (etwa Klöster und Stifte) an die weltlichen Fürstenstaaten verteilt. Sie waren auch die wichtigsten Nutznießer der sogenannten Mediatisierung: 45 der noch bestehenden 51 Freien Reichsstädte, die bis dahin direkt dem Kaiser unterstanden hatten, wurden von benachbarten oder sie umgebenden fürstlichen Territorien annektiert. Hunderte bis dahin juristisch autonome Adelsherrschaften wurden aufgehoben und landesherrlicher Regierung unterstellt. Vor allem Bayern, Baden und Württemberg konnten ihren Territorialbesitz dramatisch vermehren und ihre Grenzen abrunden. 1803 änderte das Heilige Römische Reich seinen Charakter derart radikal, dass es de facto aufhörte zu bestehen. Die ohnehin schwachen Institutionen des Reiches, vor allem der Kaiser und der Reichstag (im Grunde eine Fürstenversammlung), wurden überflüssig. Franz II. proklamierte 1804 erstmals ein „österreichisches“ Erbkaisertum. Im Juli 1806 erklärte er unter dem Druck des siegreichen Eroberers Napoleon das Reich für aufgelöst.
Der territoriale Umbau Mitteleuropas war zu diesem Zeitpunkt bereits im Wesentlichen abgeschlossen. Er gelang, weil die Neuordnungspläne Frankreichs, dessen Politik ab 1799 vom Ersten Konsul, ab 1804 Kaiser Napoleon Bonaparte (1769-1821) bestimmt wurde, mit den Interessen der größeren deutschen Fürsten übereinstimmten. Napoleon stellte den beiden mächtigsten deutschen Staaten, Österreich und Preußen, einen westlichen Block des „Dritten Deutschland“ entgegen, der politisch als Allianzpartner, militärisch als Puffer und wirtschaftlich als Ressourcenquelle Frankreichs dienen sollte. Seine Organisationsform war ab 1806 der „Rheinbund“ unter französischem Protektorat, in dem es zahlreiche Abstufungen der Nähe zu und Abhängigkeit von Frankreich gab. Die territoriale Revolution von 1803/06 überdauerte den Sturz Napoleons im Jahre 1815. Auf dem Wiener Kongress von 1814/15 wurde sie von sämtlichen europäischen Großmächten bestätigt. Napoleons ehemalige deutsche Verbündete, vor allem die Königreiche Bayern und Württemberg, wurden nicht geschwächt. Preußen erhielt große Gebiete im Rheinland und in Westfalen zugesprochen; Österreich, das sich nun ganz aus den Niederlanden und vom Oberrhein zurückzog, gewann Norditalien hinzu. Die damals vereinbarte politische Landkarte blieb im Prinzip bis 1866 bestehen. Sie war gekennzeichnet durch drei Machtpole: Preußen im Norden, Österreich im Südosten, das Dritte Deutschland in der Mitte und im Südwesten. An der Polyzentralität Deutschlands änderte sich wenig.

Restauration, Beamtenherrschaft und früher Konstitutionalismus

Als übergreifende Organisationsform dieser vereinfachten, aber immer noch fragmentierten Staatenwelt wurde 1815 der Deutsche Bund mit erst 38, später 41 Mitgliedern geschaffen. Er war zwar kompakter organisiert als das Reich vor 1806, jedoch eher eine Institution der gemeinschaftlichen Beratung und Abstimmung unter selbstständigen Staaten als ein Quasi-Nationalstaat mit starken Regierungsfunktionen. Politik wurde weiterhin in und zwischen den Fürstenstaaten gemacht. Diese Politik war während der folgenden Jahrzehnte noch nicht primär nationale Politik. Doch hatten die Befreiungskriege gegen Napoleon, vor allem 1813/14, sowie die Idee einer auch staatlich geeinten deutschen Kulturnation viel Zustimmung gefunden. In propagandistisch geschürter Franzosenfeindschaft schien sich eine gesamtdeutsche Identität zu stärken.
Dass die Fürsten und die „von unten“ aus der bürgerlichen Gesellschaft organisierte Nationalbewegung am gleichen Strang ziehen würden, erwies sich nach dem Ende der Kriege allerdings als Illusion. Der österreichische Staatsminister Klemens Wenzel Fürst von Metternich (1773-1859), der einflussreichste Architekt der nachnapoleonischen Ordnung in Deutschland und Europa, war nicht der Einzige, der verstand, dass die deutsche Nationalbewegung, so schwach sie noch war, letztlich eine liberale Verfassung anstrebte und damit die Einschränkung der Fürstenherrschaft, deren Sicherung wiederum Metternichs höchstes Ziel war. Das Wartburgfest vom Oktober 1817, überwiegend von Studenten bestritten, markierte die Abwendung der enttäuschten deutschen Patrioten vom Deutschen Bund. Im September 1819 setzte Metternich gegen Widerstände auch unter den Fürsten mit den „Karlsbader Beschlüssen“ harte Repressionsmaßnahmen durch. Was bis dahin in den deutschen Staaten bereits an Meinungs- und Pressefreiheit erreicht war, wurde weitgehend rückgängig gemacht. Die Zensur von Gedrucktem aller Art spielte eine größere Rolle als je zuvor. Kritiker der Fürstenherrschaft und Anhänger von Nationalideen wurden ins Gefängnis geworfen, aus staatlichen Ämtern entlassen, von Agenten bespitzelt. In dieser Zeit, die in Literatur und Malerei vom „Biedermeier“ geprägt war, dem Beschwören unpolitischer und unheroischer kleiner Lebenskreise, wie sie etwa Carl Spitzweg (1808-1885) darstellte, zogen sich Viele eingeschüchtert oder resignierend ins Privatleben zurück. Einige der klügsten Köpfe wie Heinrich Heine (1797-1856), Ludwig Börne (1786-1837) oder Karl Marx (1818-1883) gingen ins Exil.
Dennoch wäre es übertrieben, in Deutschland eine Friedhofsruhe anzunehmen. Die Politisierung größerer Teile der Gesellschaft, wie sie in den 1790er-Jahren begonnen hatte, ließ sich nicht vollkommen rückgängig machen. Institutionen der Öffentlichkeit wie Presse, Buchmarkt, Lesegesellschaften und ein aufblühendes Vereinswesen konnten sich auch im engen Rahmen polizeilicher Überwachung fortentwickeln. Eine im Juli 1830 von Paris ausgehende Revolution stürzte in den deutschen Ländern zwar kein einziges Herrscherhaus, äußerte sich aber bis 1834 als „revolutionsähnliche Erregung gesellschaftlicher Kräfte“ (so der Historiker Wolfram Siemann) und führte in einer ganzen Reihe von Ländern des Dritten Deutschland zu verfassungspolitischen Fortschritten. Der nun beginnende „Vormärz“ (1830-47) wurde zu einer Zeit der Entstehung politischer Programme und Parteiströmungen. In Süddeutschland, vor allem im Großherzogtum Baden, hatten es die Fürsten und ihre Regierungen als Folge reformerischer Zugeständnisse erstmals mit gewählten Landtagen zu tun, in denen liberale Mehrheiten selbstbewusst für größere Freiheiten stritten.
Diese beginnende Parlamentarisierung und Konstitutionalisierung – von der Preußen und Österreich einstweilen unberührt blieben – sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass während der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wichtigsten politischen Initiativen „von oben“ ausgingen, von einer modernisierungsorientierten Staatsbürokratie. Sowohl im Rheinbund als auch in Preußen wurden nach 1806 große Reformprogramme umgesetzt, die an frühere Formen eines „aufgeklärten Absolutismus“ anschlossen und sich zugleich das napoleonische Frankreich zum Vorbild nahmen. In Staatsverwaltung und Militär, im Bildungswesen und in der Wirtschaftspolitik wurden die Strukturen und Praktiken des vornapoleonischen Ancien Régime überwunden. Dies geschah in den Rheinbundstaaten, besonders durchgreifend im Königreich Bayern unter dem Minister Maximilian Graf Montgelas (1759-1838), in enger Anlehnung an Frankreich und mit der Absicht, den monarchischen Staat auf Kosten verbliebener ständischer Sonderrechte zu stärken. In Preußen entstand der Reformimpuls umgekehrt aus der Abwehr Frankreichs. Nach der ungeschickt provozierten Schlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 war der preußische Staat zusammengebrochen. Der Königshof floh, französische Besatzungstruppen zogen in Berlin ein. 1807 sah sich Preußen nach Fläche wie Bevölkerung auf die Hälfte reduziert. In dieser extremen Notlage entwarf ein kleiner Kreis von Angehörigen der Elite – Karl vom und zum Stein (1757-1831), Karl August von Hardenberg (1750-1822), Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und andere – ein Rettungsprogramm für Preußen, das zumindest teilweise verwirklicht wurde.
Ob Rheinbund oder Preußen, ob pro- oder anti-französisch: Die Resultate waren ähnlich. Die Staatsverwaltung wurde zentralisiert, hierarchisiert, nach Fachressorts geordnet, von Patronage- und Pfründenwirtschaft befreit, stärker für nichtadlige Karrierebeamte geöffnet. Aus Fürstendienern wurden Staatsbedienstete. Durch die Zurückdrängung des bis dahin auch politisch dominierenden Adels und überhaupt von „ständischen“ Zwischengewalten aller Art gewann der Staat – wie gleichzeitig im napoleonischen Frankreich – eine beispiellose Machtfülle. Diese wiederum weckte mit der Zeit aus der Gesellschaft heraus Forderungen nach Mitsprache und Kontrolle.
Der gestärkte Staat nahm zahlreiche Reformprojekte in Angriff. Von besonders nachhaltiger Wirkung war zum Beispiel die Bildungsreform, die ein kleiner Kreis um den Gelehrten Wilhelm von Humboldt ab 1809 in Preußen initiierte und die rasch auch außerhalb Preußens Nachahmer fand. Statt Drill und Wissensansammlung sollte „Bildung“ die optimale Entfaltung individueller Begabungen ermöglichen. Auf die Ideen der Humboldt-Gruppe gingen Neuerungen wie das dreigliedrige Bildungssystem, das auf Alten Sprachen und Mathematik beruhende humanistische Gymnasium, die wissenschaftliche Ausbildung von Gymnasiallehrern und das Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre an den Universitäten zurück.



Gesellschaftliche Veränderungen in Stadt und Land

Andere Reformen hatten Auswirkungen auf Sozialstruktur und Wirtschaftsleben. Manchmal zeigten sich ihre Ergebnisse erst nach Jahren oder gar Jahrzehnten. Dazu zählten gesetzlich verordnete Änderungen der Agrarverfassung („Bauernbefreiung“), die zahlreiche Einschränkungen der Mobilität und der persönlichen Entscheidungsfreiheit der bäuerlichen Bevölkerung aufhoben und es ihr ermöglichten, Landeigentum zu erwerben und sich durch Ablösezahlungen von Arbeitsdiensten für den Grundherrn freizukaufen. Keiner der größeren deutschen Staaten war auf diesem Gebiet so fortschrittlich wie Preußen. Ähnliches gilt für die Einführung der Gewerbefreiheit. Sie garantierte Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit für jeden, der einen Handwerksbetrieb, eine Fabrik oder ein Handelsgeschäft eröffnen wollte – ein Grundpfeiler einer liberalen, den freien Wettbewerb erleichternden Wirtschaftsordnung. Ein weiteres Reformfeld war die Judenemanzipation. Sie folgte dem Vorbild des revolutionären Frankreich und beseitigte zunächst ab 1808 im Königreich Westfalen, einem französischen Satellitenstaat um die Hauptstadt Kassel, später in Preußen und anderen deutschen Staaten die vielfältigen Beschränkungen, die der jüdischen Minderheit (etwa ein Prozent der Bevölkerung) seit Jahrhunderten auferlegt worden waren. Bis zur Revolution von 1848/49 war die rechtliche Gleichstellung der Juden im Wesentlichen überall in Deutschland erreicht, auch wenn in der Praxis gewisse Diskriminierungen fortbestanden. Die Judenemanzipation ist ein gutes Beispiel dafür, dass der Staat durch Gebote und Verbote Freiräume schaffen konnte, in denen sich gesellschaftliche Kräfte dann selbsttätig entfalteten. Denn die zunehmende Integration der jüdischen Bevölkerung in die deutsche Gesellschaft konnte nicht staatlich verordnet werden; sie beruhte auf dem Verdienst der juristisch Emanzipierten.
Überhaupt sollte man die staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten nicht überschätzen. Viel mehr als heute müssen für das 19. Jahrhundert gesellschaftliche und auch wirtschaftliche Prozesse als nur wenig durch Politik gesteuert betrachtet werden. Fundamental unter diesen Prozessen war in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eine Bevölkerungsexplosion. Zwischen 1800 und 1850 nahm die Bevölkerung auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches (ab 1871) von etwa 23 auf über 35 Millionen zu. Dieses Wachstum erklärt sich aus einem Zusammenwirken mehrerer Faktoren, unter anderem dem Rückgang von medizinisch unkontrollierbaren Seuchen, der Verbesserung der öffentlichen Hygiene (etwa durch Kanalisation und Frischwasserversorgung), der Aufhebung älterer rechtlicher Ehebeschränkungen und der Ausweitung von Erwerbschancen vor allem in der ostdeutschen Landwirtschaft. Doch nicht überall verbesserten sich die Beschäftigungsmöglichkeiten. Das Bevölkerungswachstum war daher kein Anzeichen steigenden Wohlstandes. Im Gegenteil: Bis zur Mitte des Jahrhunderts wurde immer wieder die „Überfüllung“ einzelner Gewerbezweige beklagt. Auch die Zunahme der Auswanderung, vor allem nach Nordamerika, lässt sich auf den Mangel an Lebenschancen zu Hause zurückführen.
Es gab weiterhin Gegenden in Deutschland, in denen etwa die Hälfte der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums lebte. In manchen Regionen verschlechterte sich die materielle Lage vor allem der Landbevölkerung; man spricht hier von „Pauperismus“ (von lat.: pauper = arm). Wanderarbeit und Bettelei blieben verbreitet. Wie viele andere Teile des europäischen Kontinents, so war auch Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem heute schwer nachvollziehbaren Maße ein Land der Massenarmut. Die ersten Ansätze der Industrialisierung genügten noch nicht, um in hinreichendem Umfang Beschäftigung und Wohlstand zu schaffen. Im Vergleich zur zweiten Jahrhunderthälfte stagnierte die Wirtschaft, und das Tempo gesellschaftlicher Veränderungen blieb begrenzt.
Dennoch gab es Inseln der Dynamik, die in die Zukunft wiesen. Dazu gehörte die „agrarkapitalistische“, also mit Lohnarbeitern für den Markt produzierende Landwirtschaft auf den großen Gutshöfen im ostelbischen Preußen und die bäuerliche Familienlandwirtschaft überall dort, wo Agrarreformen die Stellung des selbstständigen Bauern stärkten, oft auf Kosten der landlosen Dorfbevölkerung und des Gesindes.
Ein zweites Feld wirtschaftlicher Dynamik war die zaghaft beginnende Industrialisierung ab Mitte der 1830er-Jahre. Sie wurde einerseits durch die Baumwollspinnerei getragen (die aber niemals eine solch fundamentale Bedeutung erlangte wie in der englischen industriellen Revolution), andererseits durch den Eisenbahnbau, der in den 1840er-Jahren seinen ersten Boom erlebte. Die Eisenbahn hatte eine doppelte Wirkung: Einerseits erleichterte sie als Verkehrsmittel den Transport von Personen und Gütern. Andererseits wurde sie zum Wachstumsmotor, indem sie selbst eine riesige Nachfrage nach Investitionen und Arbeitsleistungen schuf. Die charakteristische Erfolgsformel der deutschen Industrialisierung bildete sich schon damals heraus: Eisen- und Stahlindustrie plus Steinkohlebergbau plus Maschinenbau. In kurzer Zeit war Deutschland in der Lage, sich vom Import britischer Lokomotiven unabhängig zu machen und das nötige Eisenbahninventar selbst herzustellen.
Noch war die Industrie zu schwach und regional zu wenig verbreitet, um eine neuartige „Industriegesellschaft“ hervorzubringen. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Zeit des Übergangs. Der Adel, durchweg politisch konservativ eingestellt, vermochte überall in Deutschland seine Stellung zu bewahren, nicht selten durch Nutzung neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten. Die Agrarreform schwächte seine direkte Kontrolle über die Bauern, leitete auf dem Wege über Ablösezahlungen aber flüssiges Kapital in die Kassen der adligen Herren. Zur gleichen Zeit gewann ein städtisches Wirtschaftsbürgertum an Einfluss und Reichtum, das zunächst noch seine Geschäfte eher im Handel als in der Industrie tätigte. Weitsichtige Kaufleute investierten aber auch früh in neu entstehende Wachstumsbranchen wie den Maschinenbau. Besonders charakteristisch für Deutschland waren die Verbreitung und das Prestige jener „gebildeten Stände“, die sich nun mehr denn je durch anspruchsvolle nicht-manuelle – anders gesagt: akademische – Fähigkeiten als Mediziner, Juristen, Theologen, Wissenschaftler oder philologisch geschulte Gymnasialprofessoren definierten und die sich vom örtlichen Adel durch intellektuellen Ehrgeiz und durch Selbstvervollkommnung in den Künsten und populären Wissenschaften abgrenzten. Diese lesende und musizierende Gesellschaftsschicht, oft im Staatsdienst tätig, haben Historiker „Bildungsbürgertum“ getauft.
Insgesamt stellt sich bei einem Blick auf die Soziallandschaft zwischen dem Rheinland und Ostpreußen, zwischen der Nordsee und Tirol die Frage, ob man überhaupt von einer einzigen „deutschen Gesellschaft“ sprechen kann. „Zutreffender dürfte es sein, von einer Vielzahl regionaler und städtischer Gesellschaften auszugehen.“ (so der Sozialhistoriker Jürgen Kocka).



Die Revolution von 1848/49

Zwischen etwa 1800 und 1820 erlebte Deutschland politische Umwälzungen von größter Tragweite. 1830 wurde es von den Impulsen der Pariser Julirevolution erfasst. Aber eine Revolution, die in Gestalt einer Volksbewegung eine etablierte politische Elite stürzte und zu einem unumkehrbaren Systemwandel führte, gab es bis 1848 nicht. In jenem Jahr wurden die deutschen Länder Teil einer beinahe gesamteuropäischen Revolutionswelle. Die Revolution in Deutschland begann Anfang März 1848 mit Protestversammlungen und Unruhen in Baden und anderen Gebieten Südwestdeutschlands. Sie endete im Juli 1849 mit dem Sieg von Bundestruppen über die letzten Aufständischen in Baden und in der Pfalz. Die Revolution erfasste nahezu alle deutschen Staaten. Sie war zugleich eine konstitutionelle, eine nationale und eine soziale Revolution. Sie erschütterte die preußische Hohenzollernmonarchie, die bis dahin kaum Zugeständnisse an liberale Verfassungsforderungen gemacht hatte, und trieb die Herrschaft der Habsburger in Wien an den Rand des Zusammenbruchs. Mit der Krise seiner beiden Vormächte schien vorübergehend das Schicksal des Deutschen Bundes besiegelt zu sein.
Die Revolution führte zu den ersten gesamtdeutschen Wahlen für eine Nationalversammlung. Dieses gesamtdeutsche, überwiegend mit Vertretern des Bürgertums besetzte Parlament, das erste in der deutschen Geschichte, trat im Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Nach sorgfältigen Beratungen verkündete es im März 1849 eine deutsche Reichsverfassung, gültig für das gesamte Territorium des Deutschen Bundes, jedoch unter Ausschluss der im Deutschen Bund vertretenen Teile der Habsburgermonarchie („kleindeutsche Lösung“). Die Verfassung sah eine erbkaiserliche Spitze vor, eine durch das allgemeine und direkte Männerwahlrecht gewählte Zweite Kammer des Reichstags („Volkshaus“) sowie eine Erste Kammer („Staatenhaus“), die aus Vertretern der Einzelstaaten bestehen sollte, davon die Hälfte von den Regierungen entsandt, die andere Hälfte von den Landtagen gewählt. Obwohl die Paulskirchenverfassung niemals in Kraft trat, wurde sie zu einem Basisdokument der deutschen Demokratie. Sie enthielt einen ausführlichen Grundrechtekatalog, in dem die politischen Bestrebungen des deutschen und europäischen Liberalismus einen gültigen Ausdruck fanden. Ebenso neuartig und wegweisend waren die Überlegungen, die die Verfassungsväter zur Frage der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Zentralstaat („Reich“) und Einzelstaaten anstellten. Die Verfassung stärkte das Reich in einem solchen Maße, dass der Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat konstitutionell vollzogen wurde. Der nationale Einheitsstaat auf föderaler Grundlage, wie er 1871 mit größerem Gewicht der Einzelstaaten realisiert wurde und wie wir ihn im Prinzip heute noch kennen, wurde 1849 erstmals entworfen. Damit verstärkte sich auch ein nationalistisches Denken, das die Frage, wer und was „deutsch“ sei, mit einer neuen Bedeutung versah.
In der Modellhaftigkeit der Verfassung von 1849 liegt die wichtigste Fernwirkung einer Revolution, die ihre Ziele selbst nicht verwirklichen konnte. Das Scheitern der Revolution warf die Demokratisierung Deutschlands um Jahrzehnte zurück und schwächte republikanische und sozialrevolutionäre Kräfte; es stärkte den preußischen Anspruch auf Vorherrschaft in Deutschland und verhinderte eine Dezentralisierung oder gar Auflösung der Habsburgermonarchie. Manche politischen Vorhaben der Revolutionszeit sollten erst wieder nach dem Ersten Weltkrieg aktuell werden. Die Revolution bündelte die politischen Themen, die während der ersten Jahrhunderthälfte intellektuelle Minderheiten beschäftigt hatten: Einschränkung von Fürstenherrschaft und Regelung des politischen Lebens durch Verfassungen, Schutz des Individuums durch liberale Freiheitsrechte, Schaffung von Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsorientierte und kapitalistische Marktgesellschaft, Neuordnung der politischen Geografie Mittel- und Südosteuropas nach nationalen Gesichtspunkten. Alle diese Themen wurden umfassend diskutiert und blieben nach 1849 auf der politischen Tagesordnung.
Die Revolutionäre waren sich untereinander nicht einig. Bei allen Unterschieden ihrer Ziele und ihres radikalen Temperaments gingen sie jedoch miteinander ziviler um, als dies bei anderen europäischen Revolutionen davor und danach der Fall war. Terror wurde weniger von den Revolutionären praktiziert als von ihren Gegnern – und auch dort vergleichsweise maßvoll. Die Revolution von 1848/49 fand von Anfang an eine Massenbasis, über die die liberalen Honoratioren an ihrer Spitze erstaunten und zum Teil erschraken. Sie war eine Revolution für „bürgerliche“ Werte und Ideale, jedoch, sozial gesehen, keine Revolution ausschließlich der Bürger. Es gab zugleich Revolutionen von Bauern und von städtischen Unterschichten. Wenn sie auch politisch fehlschlug, so setzte die Revolution doch nachhaltige Lernprozesse in Gang, auch bei den konservativen Siegern.

Europa 1800-1850

Das napoleonische Imperium und seine Gegner

Die Herrschaft Napoleons in Frankreich und das napoleonische Imperium in Europa waren etwas historisch ganz Beispielloses und insofern der Beginn einer neuen Epoche. Napoleon Bonaparte, ab 1804 als Napoleon I. der erste Kaiser, den Frankreich je hatte, besaß keinerlei dynastischen Hintergrund. Er hatte durch Begabung und Protektion im Militärdienst des revolutionären Frankreich Karriere gemacht. Im Sommer 1794 war der revolutionäre Terror beendet worden. Unter der neuen Regierung des „Direktoriums“ formierten sich Institutionen; es bildeten sich Ansätze einer liberalen Republik; die Wirtschaft kam wieder in Gang. Seit 1792 stand Frankreich jedoch im Krieg mit wechselnden Koalitionen der Großmächte. In dieser Situation schlug die Stunde des Militärs. Der erfolgreichste unter den Generälen, Bonaparte, putschte im November 1799 und machte sich in zielstrebigen Schritten zum Alleinherrscher Frankreichs. Damit war nach zehn Jahren die Revolution beendet.
Obwohl Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Stellung mehr Macht auf sich vereinigte als jeder frühere französische Monarch, bedeutete seine politische Ordnung keine Rückkehr zum Ancien Régime; die französische Gesellschaft behielt ihren nachrevolutionären Charakter. Napoleon setzte die entmachteten Eliten nicht wieder in ihre alten Positionen ein; er restaurierte die seit 1789 schrittweise zertrümmerte Eigentumsordnung nicht. Frankreich blieb fortan unter den großen Ländern Europas dasjenige mit dem schwächsten grundbesitzenden Adel. Das napoleonische politische System stützte sich teils auf „Notabeln“, das heißt eine sozial angesehene besitzbürgerliche Oberschicht in den Städten, teils auf neue Leute, die auf der Grundlage weniger ihrer Herkunft als vielmehr ihrer persönlichen Fähigkeiten in Militär und Zivilbürokratie Karriere machten. In zahlreichen Schlüsselpositionen wurden auch Mitglieder von Napoleons umfangreicher korsischer Familie untergebracht. Das Ideal Napoleons und seiner Mitstreiter war ein leistungsorientierter, rational organisierter, auf Paris hin zentralisierter Verwaltungsapparat. Das 1800 eingeführte Präfektursystem besteht in seinen Grundzügen noch heute. Eine straffe Befehlskette reichte vom Kaiser an der Spitze bis hinunter zu lokalen Amtsinhabern. Der autokratische Verwaltungsstaat unterlag zwar keinerlei demokratischer Kontrolle; Volksabstimmungen – die nun zum ersten Mal abgehalten wurden – waren manipuliert. Doch die Funktionäre waren angehalten, gewisse Rechtsnormen zu beachten. Das Recht der napoleonischen Zeit wurde zwar nicht von Parlamenten beschlossen, aber von vorzüglichen Juristen systematisch ausgearbeitet. Sein Kern war ein modernes, den Erfordernissen der Zeit gerecht werdendes Zivilrecht (Code civil, 1804), das fortan, obwohl keineswegs überall eingeführt, für die Rechtsentwicklung auf dem europäischen Kontinent von größter Bedeutung werden sollte.
Die napoleonische Ordnung war die erste nationale Entwicklungsdiktatur der Neuzeit. Anders als die vorrevolutionäre Königsherrschaft setzte sie sich das Ziel, reformierend in die Gesellschaft einzugreifen. Frankreich sollte nach den Vorstellungen einer Modernisierungselite umgestaltet werden; ein großer Teil der Ziele, für die im 18. Jahrhundert die Denker der Aufklärung geworben hatten, wurde nun realisiert. National war ein solches Programm deshalb, weil es ausdrücklich der Stärkung und dem Ruhm der französischen Nation dienen sollte, nicht mehr allein dem Glanz des Herrschers.
Eine solche Ordnung hätte sich in Friedenszeiten möglicherweise bewähren können. Friedenszeiten blieben jedoch aus. Zunehmend wurde der napoleonische Staat zu einer riesigen Maschinerie, die Rekruten, Waffen und Nahrungsmittel für das Militär zu besorgen hatte. Europa stand zwischen 1792 und 1815 mit einigen kurzen Unterbrechungen – vor allem 1802 bis 1805 – permanent im Krieg. Daher spricht man zusammenfassend von den „Kriegen der Revolution und Napoleons“. Frankreich sah sich wechselnden Koalitionen von Gegnern gegenüber. Die für Napoleon gefährlichsten waren Großbritannien, das Frankreich 1805 – in der Seeschlacht von Trafalgar, nahe der Straße von Gibraltar – als Seemacht ausschaltete, sowie das Zarenreich, das Napoleon schließlich zum militärischen Verhängnis werden sollte. Österreich und Preußen, beide militärisch schwächer als die „großen Drei“ Eurasiens, kamen von Fall zu Fall hinzu, wurden aber zeitweise von Napoleon deklassiert.
Die Frage, wer die verschiedenen Kriege verursachte, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Am Anfang standen sich einerseits die Absicht der alten Monarchien, die Revolution in Frankreich einzudämmen oder zu unterdrücken, andererseits der französische Übergang von der Defensive zum befreienden Revolutionsexport gegenüber. Später nährte sich der Krieg aus Konstellationen des Augenblicks. Er gewann eine Eigendynamik, auch wenn immer wieder einsame Entschlüsse Napoleons eine entscheidende Rolle spielten, vor allem bei der Invasion des Zarenreiches im Sommer 1812. Der Höhepunkt von Napoleons militärischen Erfolgen war mit einer Serie von Blitzkriegen während der Jahre 1805 bis 1810 erreicht. Um 1810 war auf dem europäischen Kontinent ein beispielloses Großreich entstanden. Napoleon hatte keinen früh entworfenen Eroberungsplan systematisch umgesetzt, aber doch immer wieder Expansionschancen genutzt und sich um die Integration unterworfener Gebiete in das entstehende Reich gekümmert.
Mit den Soldaten kamen die Zivilverwalter, die das Imperium konsolidieren sollten. Das Reich wurde indes keineswegs einförmig regiert. Man kann es sich in drei konzentrische Zonen gegliedert vorstellen. Den inneren Ring, den die Herrschaftszentrale fest im Griff hatte, bildeten Frankreich, die Niederlande, das heutige Belgien, Oberitalien sowie die deutschen Satellitenstaaten (zum Beispiel das Königreich Westfalen). In einem mittleren Ring, in dem Frankreich eine weniger direkte Kontrolle ausübte, befanden sich die deutschen Rheinbundstaaten (Baden, Württemberg, Bayern, Frankfurt), Sachsen, Mecklenburg, Dänemark, Polen (genauer: das Großherzogtum Warschau) sowie Süditalien (das Königreich Neapel). Schwächer und kurzfristiger war der französische Einfluss im „äußeren Imperium“, zu dem sich Mittelitalien, Spanien und der nördliche Balkan zählen lassen. Die modern anmutenden Tendenzen, dieses insgesamt riesige Gebiet administrativ und wirtschaftlich zu integrieren, schwächten sich in dem Maße ab, wie Napoleon militärisch in die Defensive geriet. Begrenzte Aufstände, etwa in Tirol, konnten das Regime nicht schwächen, aber gefährlich wurde es, als sich das große Land Spanien ab 1808 seiner Unterwerfung widersetzte. 1812 scheiterte Napoleons Grande Armée (die überwiegend aus Soldaten der nichtfranzösischen Verbündeten bestand) nicht nur am russischen Winter, sondern auch am Geschick der zarischen Militärführung. Von 655 000 Soldaten, die die Weichsel ostwärts überschritten hatten, kehrten nur 93 000 zurück. An vier blutigen Tagen im Oktober 1813 unterlag Napoleon dann seinen vereinten Gegnern in der „Völkerschlacht“ bei Leipzig. War das Imperium nun verloren, so hätte der Kaiser noch an diesem Punkt seine Herrschaft in Frankreich retten können. Doch er kämpfte weiter. Von seinen Marschällen im Stich gelassen, dankte er am 6. April 1814 ab und ließ sich von den Großmächten zum Exil auf der Insel Elba vor der toskanischen Küste verurteilen.



Friedenssicherung: Die Ordnung des Wiener Kongresses

Die Kriege zwischen 1792 und 1815 hatten zahlreiche Regionen Europas verwüstet. Mindestens 2,5 Millionen, nach anderen Schätzungen sogar bis zu fünf Millionen Bewohner des Kontinents hatten ihr Leben verloren, prozentual etwa derselbe Anteil von Opfern, den später der Erste Weltkrieg fordern sollte. Der große Gewinner der Kriege war das Vereinigte Königreich. Es war einer französischen Invasion entgangen und hatte Napoleons Kontinentalsperre, die seinen Handel mit dem Festland treffen sollte, gut überstanden.
Es hatte keine einzige seiner Kolonien verloren, aber einige neue hinzugewonnen, vor allem Südafrika und Ceylon (das heutige Sri Lanka). Mit dem Zusammenbruch des napoleonischen Imperiums war Frankreich, seit dem 17. Jahrhundert der größte weltpolitische Rivale der Briten, für viele Jahrzehnte geschwächt.
Weder die britische Politik noch die der anderen Siegermächte wollte Rache an Frankreich üben. Wenige Tage nach der Abdankung Napoleons wurden Frankreich, nun wieder unter einem Bourbonenkönig, großzügige Friedensbedingungen gewährt, im Osten sogar die Rheingrenze. Doch Ende Februar floh Napoleon von Elba, sammelte Truppen und traf am 20. März 1815 in Paris ein. Nun erklärten die Mächte der Koalition Napoleon für vogelfrei und organisierten einen neuen Krieg gegen ihn. Mit seiner Niederlage in der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815 endete Napoleons Hundert-Tage-Herrschaft über Frankreich und damit eine Epoche.
Nach dem Friedenskongress von Münster und Osnabrück (1648) war der Wiener Kongress von 1814/15 der zweite große Versuch, die Verhältnisse unter den Staaten Europas so zu ordnen, dass neue Kriege erschwert würden. Das Vierteljahrhundert der Kriege schien auf den ersten Blick die europäische Staatenwelt nicht verändert zu haben. Die fünf Großmächte waren dieselben wie vor 1792: Russland, Preußen, Österreich, Frankreich sowie Großbritannien mit seiner insularen Sonderstellung. Die ersten drei genehmigten sich gegenseitig Landgewinne auf Kosten kleinerer Nachbarn, insbesondere Polens. Preußen profitierte durch den Zugewinn von Provinzen in Westfalen und am Rhein und wurde damit insgesamt „westeuropäischer“. Frankreich wurde strenger behandelt als im Jahr davor, rettete aber seinen Status als Großmacht. Das alte System des Gleichgewichts der Mächte, wie es vor der Französischen Revolution bestanden hatte, schien wiederhergestellt zu sein.
Tatsächlich aber war während der neun Monate, die man sich für den Wiener Kongress gönnte, eine Ordnung neuer Art geschaffen worden. Der Deutsche Bund stabilisierte die politische Geografie Mitteleuropas. Von ungefähr 300 selbstständigen politischen Einheiten in Deutschland um 1789 waren 1815 nur noch 39 übrig geblieben, durch einen lockeren Bundesrahmen zusammengehalten. Wichtiger: Die Wiener Ordnung ruhte auf neuen ideologischen Grundlagen. Die leitenden Staatsmänner der Großmächte erkannten den Zusammenhang zwischen Revolution und Krieg. Revolution konnte leicht zu Krieg führen, und deshalb, nicht nur wegen der Gefährdung der herrschenden Dynastien, musste sie so früh wie möglich verhindert werden. Umgekehrt war Krieg zu vermeiden, da er die bestehenden Verhältnisse in Unruhe versetzen und Revolutionen Vorschub leisten würde.
Aus diesem Grunde entstand in Wien eine Ordnung mit einem doppelten Gesicht: Einerseits war sie antirevolutionär und legitimierte die militärische Intervention einzelner oder mehrerer Mächte gegen Umsturzversuche. Andererseits sah sie erstmals so etwas wie Vertrauensbildung unter den Großmächten vor. Niemals zuvor war der Wille zur Kriegsvermeidung in Europa größer gewesen. Das Bewusstsein, einem einheitlichen europäischen Völkerrechtsraum anzugehören, und die Bereitschaft, Streitfragen nicht gleich durch Krieg, sondern zuerst durch Konsultationen zu lösen, waren neue Elemente der europäischen Politik. Diese „Wiener Ordnung“ bestand bis zum Beginn des Krimkrieges 1853. In diesen vier Jahrzehnten blieben Kriege zwischen den europäischen Großmächten aus – ein bedeutender Schritt über die militärische Anarchie hinaus, die bis 1815 geherrscht hatte. Selbst wenn man die Kriege, die einzelne Großmächte zwischen 1854 und 1871 gegeneinander führten, hinzurechnet, war das Jahrhundert zwischen 1816 und 1913 das friedlichste der neueren europäischen Geschichte. Insgesamt gab es im 18. Jahrhundert siebenmal mehr Kriegstote im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Europas als im 19. Jahrhundert. Und dies, obwohl die Kriegführung seit etwa der Mitte des Jahrhunderts von der Industrialisierung der Rüstungsproduktion erfasst wurde und dadurch die Zerstörungskraft von Waffen stieg; die Kriege von 1792 bis 1815 waren noch mit vorindustrieller Militärtechnologie geführt worden.
Nach dem Zusammenbruch von Napoleons europäischer Ordnung gab es auf dem europäischen Kontinent nur noch ein einziges expansives Imperium: das Reich der russischen Zaren. Es war neben Großbritannien und Preußen der dritte große Gewinner der napoleonischen Kriege. Indem sich das Zarenreich den größten Teil Polens („Kongresspolen“) einverleibte, schob es den russischen Einfluss weiter nach Westen vor. Sein diplomatisches Gewicht war erheblich gestiegen. In der europäischen Außenpolitik war Russland fortan, anders als noch im 18. Jahrhundert, ein ständig präsenter Faktor.



Ordnungsmodelle: zwischen Liberalismus und Autokratie

Im 18. Jahrhundert hatte es in Europa nur eine begrenzte Vielfalt staatlicher Herrschaftsformen gegeben. Die meisten Länder waren absolute Monarchien. Nur in Großbritannien war als Folge der Revolutionen des 17. Jahrhunderts das Parlament zu einem mächtigen Rivalen und später Partner der Krone aufgestiegen. Daneben gab es noch unabhängige Stadtstaaten (Venedig oder die Hansestädte) und die kleinen Republiken der Schweiz und der Niederlande. Die Französische Revolution und die Monarchie neuen Typs, wie Napoleon sie einführte, erweiterten das Spektrum politischer Möglichkeiten. Die Revolution hatte zunächst, aber nur für kurze Zeit, zu einer liberalen, parlamentarischen und rechtsstaatlichen Republik geführt, einem Staatstyp, der in Frankreich erst ab den späten 1870er-Jahren dauerhaft etabliert werden würde. Bald hatte sich die Revolution zur intoleranten und gewalttätigen Alleinherrschaft einer einzigen politischen Richtung, der Jakobiner, weiterentwickelt. Sie fand im 19. Jahrhundert (mit Ausnahme der „Pariser Commune“ von 1871, die unter Kriegsbedingungen entstand) keine Nachfolger, nahm aber manche Züge dessen vorweg, was im 20. Jahrhundert als „Totalitarismus“ in großem Stil wieder aufleben sollte.
Napoleon schuf ab 1799 eine moderne Diktatur, die auf drei Säulen ruhte: dem Militär, der Bürokratie und einer pseudodemokratischen Bestätigung durch Scheinwahlen; man spricht daher von „Bonapartismus“. Napoleons Neffe Louis Bonaparte, ab 1852 Kaiser Napoleon III. (1808-1873), errichtete 1851 in Frankreich abermals ein solches System, das bis 1870 bestand.
Zwischen 1815 und 1917/18 blieb die „legitime“, das heißt sich auf dynastische Erblichkeit gründende Monarchie in Europa die vorherrschende Regierungsform. Aber sie wandelte nach 1815 ihren Charakter. Überall, wo die napoleonische Besatzung die bis dahin herrschenden Kräfte ausgeschaltet oder in den Hintergrund gedrängt hatte, kam es nach dem Wiener Kongress zu einer Restauration. Die alten Fürstenhäuser wurden wieder eingesetzt, Vertreter liberaler Forderungen nach Grundrechten und der Beteiligung größerer Gruppen der Bevölkerung am politischen Prozess verfolgt und drangsaliert. Dennoch wurden nur selten, vor allem in Spanien und im Süden Italiens, die politischen Uhren auf die Zeit vor 1789 zurückgestellt. Überall sonst begann ein Prozess der schleichenden Erosion von Königsherrschaft, der sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts fortsetzte. Die Form der konstitutionellen Monarchie, bei der auch der dynastische Herrscher als ein Staatsorgan unter mehreren galt und nicht länger als der „Besitzer“ seines Staates, wurde nicht von heute auf morgen eingeführt. Sie gewann aber zunehmend an Boden. Verfassungen wurden gewährt, Parlamente bei der Steuerbewilligung und Gesetzgebung mehr und mehr beteiligt, Spielräume für freie Meinungsäußerung erweitert, Gerichte im Sinne des Prinzips der Gewaltenteilung von politischem Druck entlastet. Das Wahlrecht wurde von einer winzigen Minderheit der Besitzenden Schritt für Schritt auf größere Bevölkerungskreise ausgedehnt.
Im frühen 19. Jahrhundert begannen in Europa drei langwierige politische Prozesse, die in den einzelnen Ländern unterschiedlichen Zeitabläufen folgten und nicht überall mit gleicher Gründlichkeit durchgesetzt wurden: Konstitutionalisierung (Unterstellung sämtlicher politischer Organe unter ein überpersönliches Staatsgrundgesetz), Parlamentarisierung (Kontrolle der Exekutive durch gewählte Repräsentativversammlungen) und Demokratisierung (maximale Ausweitung der wahlberechtigten Aktivbürgerschaft).
Eine Sonderrolle kam dabei den beiden weltpolitisch stärksten Akteuren zu, die beide erhebliche Interessen außerhalb Europas hatten: Großbritannien und dem Zarenreich. Russland blieb zwischen 1815 und 1905, dem Jahr einer ersten russischen Revolution, eine absolute Monarchie ohne konstitutionelle Einschränkung. Der Zar regierte mit Hilfe seiner Bürokratie im Wesentlichen allein. Großbritannien verkörperte das andere Extrem: eine in ganz Europa als fortschrittlich betrachtete Ordnung. Sie war in ihren Grundzügen bereits in der Glorious Revolution von 1688 entstanden, hatte sich aber seither fortentwickelt. Ein wichtiger Einschnitt war eine Modernisierung des politischen Systems durch das Reformgesetz des Jahres 1832, das britische Gegenstück zur Revolution von 1830, die in Frankreich einen „Bürgerkönig“ auf den Thron brachte. Obwohl auch danach die Macht des Land besitzenden britischen Adels kaum herausgefordert wurde, war ein System, das auf rechtsstaatlichen Grundlagen beruhte und bei dem das Parlament und die ihm – und nicht dem Monarchen – verantwortliche Regierung die zentralen Staatsorgane bildeten, flexibel genug, um neue politische Kräfte einzubeziehen. So wurde Großbritannien zum Vorbild für die Liberalen des Kontinents. Mit seiner freiheitlichen Ordnung bot es den politisch Verfolgten aller Länder Zuflucht.
Was die Monarchie an tatsächlicher Macht verlor, gewann sie an symbolischem Prestige. Auch hier ging Großbritannien anderen europäischen Ländern voran. Als die junge Prinzessin Victoria 1837 den Thron bestieg, war das Ansehen der britischen Monarchie auf einem Tiefpunkt angelangt. Während Victorias langer Regierungszeit (bis zu ihrem Tod 1901) entstand dann aber eine loyale Bindung der britischen Bevölkerung an die Krone, wie sie noch im heutigen Kult um die „Royals“ nachwirkt. In ganz Europa blieb das 19. Jahrhundert bis zu seinem Ende eine Epoche der Monarchie, die – außerhalb des Zarenreiches – schwindende Macht durch erhöhten Glanz kompensierte.
Die vier oder fünf Jahrzehnte nach der Französischen Revolution waren auch eine Zeit, als in der politischen Theorie jene Lehren formuliert wurden, die bis weit in das 20. Jahrhundert fortwirken sollten: Liberalismus, Konservativismus und Sozialismus. Wichtige Grundlagen waren bereits von Denkern der Aufklärung formuliert worden, vor allem von dem Engländer John Locke (1632-1704), dem Franzosen Charles-Louis de Montesquieu (1689-1755) und dem Nordamerikaner Thomas Jefferson (1743-1826) samt seinen Mitstreitern. Doch erst die Französische Revolution gab den Anstoß zur Ausarbeitung ganzer politischer Weltbilder.
Der Liberalismus lehnte die Radikalisierung der Revolution ab und knüpfte an deren moderate Anfänge an. Er forderte einen in seiner Machtfülle begrenzten, von der gesellschaftlichen Elite kontrollierten Staat, der privates Eigentum garantierte, Freiheiten wie die der öffentlichen Meinungsäußerung, der Religionsausübung und der Berufswahl gewährleistete und den Einzelnen einen möglichst großen Spielraum zur Ausbildung und Entfaltung individueller Talente eröffnete. Auf einem ungeregelten Markt sollten die Individuen mit ihren Angeboten frei und friedlich konkurrieren können. Der Staat solle dafür den gesetzlichen Rahmen schaffen. Leistung müsse sich lohnen, der Aufstieg in der Gesellschaft möglich sein. Kleinstaaterei solle zu Gunsten eines größeren Zusammenhangs überwunden werden, den man „die Nation“ zu nennen begann.
Die Konservativen zogen ganz andere Lehren aus der Erfahrung der Revolution. Sie misstrauten den ungeregelten Aktivitäten von Individuen. Die Menschen müssten ihren Platz in Hierarchien kennen und bewährte Autoritäten respektieren. Sie bedürften der Führung durch den monarchischen Staat, die Kirche und die überkommene aristokratische Elite. Ein nachrevolutionärer Konservativismus verabschiedete sich allerdings von antiquierten Lehren wie dem Gottesgnadentum der Fürsten. Auch Konservative gingen mit der Zeit.
Der Sozialismus schließlich war die jüngste der politischen Strömungen, zunächst noch ohne Einfluss auf konkrete Politik. Er stellte das revolutionäre Schlagwort der „Gleichheit“ (egalité) über das der „Freiheit“ (liberté) und war in seiner Frühphase vor 1848 eine Utopie der Solidarität (fraternité), Gütergemeinschaft und genossenschaftlichen Produktion in kleinen Einheiten. Erst mit dem Fortschreiten der Industrialisierung in der zweiten Jahrhunderthälfte wurde er zum kämpferischen Weltbild der Arbeiterklasse.

Gesellschaft im Übergang

Obwohl die Industrielle Revolution in England bereits in den 1770er-Jahren begonnen hatte und die Wirtschaft in England und Südschottland (aber nicht in Irland) um die Jahrhundertmitte schon stark von der industriellen Produktionsweise geprägt war, beschränkte sich die Industrialisierung auf dem Kontinent noch für mehrere Jahrzehnte auf kleine Enklaven. Außerhalb Deutschlands waren dies Belgien (das als selbstständiger Staat erst 1830 entstanden war), einzelne Regionen Frankreichs, die Nordschweiz oder Katalonien. Die meisten Bewohner Europas waren um 1850 noch nicht mit der Fabrikindustrie in Berührung gekommen. Neugierige Besucher vom Kontinent reisten in die Industriestadt Manchester, um dort eine neue Welt der Dampfmaschinen und der Massenproduktion zu bestaunen, die es zu Hause nicht gab. Um 1850 überstieg in Europa insgesamt die Zahl der handwerklichen Schuster, Schneider oder Weber diejenige der Kohlebergleute, Maschinisten und Bediener dampfgetriebener Spinnmaschinen. Wenn von „Arbeitern“ die Rede war, dachte man weniger an ein industrielles Proletariat als an Tagelöhner, herumziehende Handwerksburschen oder Frauen, Kinder und Männer, die auf dem Lande für städtische „Verleger“ weiterverarbeitende Tätigkeiten verrichteten. Im Englischen nennt man dies anschaulich als Gegensatz zur Fabrikindustrie cottage industry, also eine nicht-handwerkliche, keine besonderen Fähigkeiten verlangende Produktion in „Hütten“ und Privathäusern. Eine solche „Proto-Industrie“ konnte zur Fabrikindustrie hinführen, musste dies aber nicht zwangsläufig tun.
Die junge Schwerindustrie war stark standortgebunden, da sie auf Kohle- und Eisenerzvorkommen angewiesen war. Die herkömmliche Energiegewinnung, zum Beispiel aus Holzkohlemeilern oder der Verbrennung von Torf, reichte nicht aus, um jene Temperaturen zu erzeugen, die für die neuen Eisentechnologien erforderlich waren. Vor 1850 finden sich auf dem Kontinent allein in Belgien Ansätze zu einer solchen „modernen“ Schwerindustrie.
Obwohl sich die vorindustriellen Verhältnisse der Frühen Neuzeit bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts fortsetzten und obwohl Millionen von Menschen an der Armutsgrenze lebten und weiterhin von Hungersnöten bedroht blieben, war die erste Hälfte des Jahrhunderts keineswegs bloß eine Zeit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stagnation. In Frankreich und in manchen Gebieten, die unter seinen Einfluss geraten waren, hatten sich die Eigentumsverhältnisse drastisch gewandelt. Aristokratischer Landbesitz und das Grundeigentum der Kirche waren an Bauern umverteilt worden. Frankreich wurde zu einem Land selbstständiger Kleinbauern. „Bauernbefreiungen“ unterschiedlicher Art hatten alte Feudalprivilegien wie etwa Arbeitsdienste für den Herrn und Sonderabgaben zu zahlreichen Anlässen abgeschafft und die Rechtsstellung der Bauern insgesamt verbessert, jedenfalls in einer breiten Zone, die von der Elbe und den Pyrenäen begrenzt war. Europa lebte weiterhin überwiegend von der Landwirtschaft; vor allem auf der iberischen Halbinsel, dem Balkan und in Osteuropa blieb sie dominant. Doch war Bewegung in den Charakter der ländlichen Gesellschaft gekommen. Dazu trug auch bei, dass kommerzielle Beziehungen auf dem Lande zunahmen und sich verdichteten. Immer weniger Bauern produzierten allein für den Eigenbedarf der Familie oder des Dorfes, immer mehr versorgten über Zwischenhändler entfernte Märkte. Dies traf nicht nur auf freie Bauern zu. Auch dort, wo weiterhin Leibeigenschaft vorherrschte oder verbreitet war (in Spanien bis in die 1830er-Jahre, in der Habsburgermonarchie bis 1848, in Russland bis 1861), gewann die Produktion für den Markt an Bedeutung.
In der Landwirtschaft wie im Hausgewerbe und sogar in der Fabrikindustrie (jedenfalls der Textilproduktion) teilten sich Männer und Frauen die Arbeit. In Baumwollfabriken stellten Frauen und Kinder sogar 50 bis 80 Prozent der Arbeitskräfte. Auch im frühen englischen Kohlebergbau wurden Frauen und Kinder so lange und so intensiv eingesetzt, dass Kritiker dies als Skandal anprangerten und erste Schutzgesetze erlassen wurden. Insgesamt veränderten sich die Geschlechterrollen unter der Mehrheit der Bevölkerung nicht dramatisch. Die allgemeine Arbeitsbelastung in dieser Phase des Übergangs scheint jedoch zugenommen zu haben, vermutlich überproportional zu Lasten von Frauen.
Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs der relative Anteil von nichtadligen Mittelschichten in den europäischen Gesellschaften. Sie prägten zunehmend das allgemeine kulturelle Klima, auch wenn ihr politischer Einfluss in vielen Ländern ihrem zunehmenden gesellschaftlichen Gewicht nicht entsprach. Diese Mittelschichten, ebenso wie zuvor schon die „Bürger“ der Frühen Neuzeit, fanden sich vor allem in den Städten. Aktivisten der neuen Wirtschaftsformen, also Fabrikbesitzer, Bankiers oder Reeder, bildeten europaweit innerhalb dieses Bürgertums noch eine Minderheit. Vielmehr trafen in dieser höchst uneinheitlichen gesellschaftlichen Gruppierung Leute aus verschiedenartigen Herkunftskreisen zusammen: erstens Kaufleute, die von der Zunahme der Kommerzialisierung profitierten; zweitens nichtadlige – oft aber dann aufgrund ihrer Verdienste geadelte – Staatsdiener, die infolge des Ausbaus der Verwaltung Karriere machten; drittens Anbieter gehobener nichtmanueller Dienstleistungen, etwa Anwälte, Ärzte, Professoren. Was sie alle gemeinsam hatten, war die symbolische Abgrenzung nach unten, vom handarbeitenden, in finanziell unsicheren Verhältnissen lebenden „Volk“ (zu dem auch das „Kleinbürgertum“ gehörte), und nach oben, von einer Aristokratie, die aus der Sicht einer bürgerlichen Leistungsethik als passive Konsumentin ihres ererbten Reichtums fragwürdig legitimiert war.
Allerdings gab es vielfältige Berührungen zwischen Bürgertum und Aristokratie und nur noch selten, wie im Ancien Régime, eine unüberwindliche Klassenschranke. In Frankreich, aber auch in deutschen Städten oder in Norditalien bildete sich eine einflussreiche Elitenschicht der „Notabeln“ oder städtischen Honoratioren. Nicht nur in den deutschen Ländern, wo Oberschulen und Universitäten zu einem bevorzugten Objekt staatlichen Reformeifers geworden waren, gewann das Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts sein Selbstbewusstsein und seine Identität aus dem Genuss von Kultur und der Selbstvervollkommnung durch Erziehung und Bildung. Der Bürger und die Bürgerin schlossen sich in Lesegesellschaften zusammen und besuchten die Oper, die erstmals außerhalb Italiens ein breites Echo fand. Sie legten großen Wert auf eine sorgfältige Ausbildung ihrer Kinder, und sie wurden selbst zunehmend zu Gegenständen der Romanliteratur und der Malerei. War die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts noch kein eindeutig „bürgerliches Zeitalter“, so drängte diese neue gesellschaftliche Klasse, überwiegend wirtschaftlich erfolgreich, doch schon nach einer kulturellen Vormachtstellung. In Paris, das der Philosoph und Kulturhistoriker Walter Benjamin die kulturelle „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ nannte, in Manchester, Frankfurt oder Hamburg gab sie um 1850 bereits den Ton an.

Die Welt 1800-1850

Transatlantische Verbindungen und Trennungen

Um 1800 waren die einzelnen Teile der Erde noch sehr weit voneinander entfernt. Von einem Kontinent zum anderen gelangte man nur durch gefährliche und beschwerliche Seereisen. Von England aus war ein Schiff nach China vier bis fünf Monate unterwegs. Bis nach Australien, das erst ab 1788 systematisch von Europäern besiedelt wurde, zunächst als britische Sträflingskolonie, dauerte es sogar sieben bis acht Monate. Nirgendwo, auch nicht über den Nordatlantik hinweg, gab es einen fahrplanmäßigen Schiffsverkehr, von Tourismus ganz zu schweigen. Das meeresferne Innere von Asien, Afrika und Südamerika war in der Außenwelt so unbekannt, dass europäische Kartografen die berühmten weißen Flecken ließen. Die Welt von 1800 war eine Welt ohne Hotels. Nachrichten waren ebenso lange unterwegs wie Schiffe, denn es gab keine andere Methode, sie zu befördern. Die Gouverneure in den europäischen Überseekolonien konnten daher kaum von ihren Zentralen in London, Paris oder Amsterdam kontrolliert werden. Diese aus heutiger Sicht unvorstellbar schwierigen Kommunikationsverhältnisse verhinderten indes nicht, dass sich intensive Fernkontakte knüpften.
Diese Kontakte waren geografisch sehr ungleich verteilt. Die Initiative zu ihnen ging vorwiegend von Europäern aus. Seit 300 Jahren hatten die Europäer – erst Spanier und Portugiesen, dann Holländer, Engländer und Franzosen – als ungebetene Gäste andere Teile der Welt militärisch erobert und unter ihre Kontrolle gebracht. Dies war selten ohne die Mitwirkung von Einheimischen geschehen, die oft die Fremden als Verbündete in lokalen Machtkonflikten schätzten. Um 1800 hatten die europäischen Mächte keineswegs schon den überwiegenden Teil der Erdkugel unter ihre Herrschaft gebracht. In Afrika war nur die Südspitze des Kontinents niederländisches, dann britisches Kolonialgebiet. In Asien hielten sich winzige portugiesische Küstenenklaven (Goa in Indien, Macau in China) als Reste eines verschwundenen Handelsimperiums. Bedeutenden Kolonialbesitz, der ebenfalls ein Nebeneffekt von Handelsinteressen war, unterhielten nur die Niederlande im heutigen Indonesien sowie die Briten, deren halboffizielle East India Company seit den 1760er-Jahren Territorialherrin in Bengalen (mit der Hauptstadt Kalkutta) war und um 1800 erfolgreich Kriege zur Ausweitung ihres Herrschaftsbereichs führte. Französische Versuche, sich in Asien festzusetzen, waren gescheitert. Spanier saßen in der Stadt Manila und auf einigen der größeren philippinischen Inseln, denen aber wenig eigener kolonialer Wert beigemessen wurde, dienten sie doch vor allem als Zugang nach Ostasien.
Viel tiefer hatte sich der europäische Kolonialismus in der westlichen Hemisphäre eingewurzelt. Dort war er aber in den 1760er-Jahren in eine tiefe Krise geraten. Diese Krise hatte 1776 dazu geführt, dass 13 der britischen Kolonien in Nordamerika ihre Unabhängigkeit erklärten. Sie siegten in einem Krieg gegen das vormalige Mutterland und gaben sich 1787 eine gemeinsame Verfassung. 1789, im Jahr der Französischen Revolution, nahmen die Organe eines neu gegründeten Staates – Präsident, Senat und Repräsentantenhaus – ihre Arbeit auf: die der Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA waren durch Sezession ohne verbleibende Bindung aus dem British Empire ausgeschieden.
Die imperiale Krise der 1760er-Jahre hatte auch das große spanische Reich in der Neuen Welt erfasst. Damals hatte Spanien versucht, den Zugriff auf seine Vizekönigtümer in Amerika zu verstärken, und damit den Widerstand der Kreolen, also der in Amerika geborenen Nachfahren spanischer Eltern, geweckt. Diese Gruppierung sah ihre wirtschaftlichen Interessen und politischen Privilegien bedroht. Eine scharfe Eskalation wie in Nordamerika blieb jedoch einstweilen aus. Der hispano-amerikanische Unabhängigkeitskampf begann erst, nachdem Napoleons Invasion Spaniens 1808 das Ancien Régime in Madrid gestürzt und ein südatlantisches Machtvakuum geschaffen hatte. Zwischen 1810 und 1826 wurde mit wechselnden regionalen Brennpunkten auf dem ganzen Subkontinent gekämpft. Trotz eines gewaltigen Militäreinsatzes musste sich Spanien geschlagen geben. Aus dem riesigen spanischen Imperium wurde ein Mosaik von 16 souveränen Staaten: großen wie Mexiko, Venezuela oder Argentinien, kleinen wie Panama oder Honduras. Unter anderen Umständen löste sich Brasilien 1822 von Portugal und machte sich zu einem selbstständigen Kaiserreich. Nur die Inseln Kuba und Puerto Rico verblieben bis 1898 in spanischer Hand.
Die Unabhängigkeit Lateinamerikas war die umfassendste Veränderung der politischen Landkarte in der gesamten Neuzeit. Fügt man hinzu, dass Napoleon 1803 die riesigen französischen Besitzungen in Nordamerika, die sich heute auf 15 Bundesstaaten verteilen, an die USA verkaufte, so zeigt sich, dass zwischen 1783 – als die späteren USA nach ihrem militärischen Sieg über Großbritannien de facto selbstständig wurden – und 1826 aus einem vom arktischen Norden bis in den tiefen Süden von Europa kolonisierten Kontinent eine Welt post-imperialer Nationalstaaten geworden war; nur Kanada blieb britisch. Die spanischsprachigen Republiken fanden aber nicht – wie die 13 britischen Kolonien – zu einer Union zusammen. Auch war es zunächst unter der Herrschaft von Militärführern und kleinen Oligarchien von Großgrundbesitzern mit ihrer inneren Stabilität und demokratischen Entwicklung nicht gut bestellt. Wirtschaftlich wurden sie von Großbritannien abhängig, gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend von den USA.
Die Inselwelt der Karibik ging einen anderen Weg als das Festland. Dort behauptete sich der europäische Kolonialismus. Eine Ausnahme bildete die französische Kolonie Saint-Domingue, die westliche Hälfte der Insel Hispaniola. Saint-Domingue war die wirtschaftlich produktivste und profitabelste Kolonie des französischen Ancien Régime. Hunderttausende von Sklaven, die aus Afrika herbeigeschleppt worden waren, bauten dort für französische Pflanzer Zucker und Tabak an, „Kolonialwaren“ für europäische Kunden. Nachrichten vom Ausbruch der Französischen Revolution weckten Freiheitshoffnungen in allen Teilen der Bevölkerung. Die französischen Plantagenbesitzer hofften auf eine größere Autonomie vom Mutterland; eine ethnisch gemischte Mittelschicht von Mulatten und freigelassenen Sklaven wollte sich von der Vormundschaft der weißen Pflanzer befreien; die Sklaven, die die große Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, erstrebten ein Ende von Sklaverei und Plantagensystem. Später wurde Saint-Domingue in die weltpolitische Auseinandersetzung zwischen Napoleon und der britischen Krone hineingezogen. Frankreich verfolgte einen Zickzack-Kurs: 1794 wurde die koloniale Sklaverei abgeschafft, 1802 führte Napoleon sie wieder ein. Vorübergehend schien sich die Möglichkeit eines autonomen Sonderstatus innerhalb des französischen Staatsverbandes abzuzeichnen. Sie wurde verspielt. Am Ende eines blutigen Tumults, der insgesamt von 1791 bis 1804 dauerte, stand die Gründung des neuen Staates Haiti – das erste Beispiel für einen erfolgreichen anti-kolonialen Befreiungskampf von Nicht-Weißen. Die Haitianische Revolution bildet eine wichtige Episode in der Geschichte revolutionärer Wechselwirkungen über den Atlantik hinweg in den Jahrzehnten um 1800.

Agrarische Imperien und ihr Niedergang

Während in Amerika europäische Kolonialreiche zerfielen und unabhängige Staaten entstanden, liefen in Asien die historischen Prozesse in andere Richtungen. Asien war vor 1800 auch nicht annähernd so ausgedehnt und intensiv kolonisiert worden wie Amerika einschließlich der Karibik. Das bevölkerungsreichste Land des Kontinents, China, war im 18. Jahrhundert selbst noch ein machtvolles Imperium, das sich nach Zentralasien ausdehnte und dabei erstmals Mongolen und Tibeter in die Grenzen des Reiches einschloss. Zur selben Zeit nahm China als Exporteur von Tee, Seide und Porzellan in großem Umfang am Welthandel teil. Auch viele andere Küstenregionen Asiens wurden in den interkontinentalen Warenverkehr einbezogen. In beschränktem Maß galt dies sogar für Japan, das sich bewusst von der Außenwelt isolierte. Nirgendwo in Asien gab es um 1850 auch nur Spuren einer Industrie modernen, also „englischen“ Typs. Dabei waren die Ökonomien der dicht besiedelten Kernländer keineswegs primitiv oder rückständig, sondern besaßen ein leistungsfähiges Handwerk, das oft zur Massenproduktion fähig war, sowie eine Landwirtschaft, der es immerhin gelang, vor der Erfindung des Kunstdüngers die Versorgung einer stetig wachsenden Bevölkerung auf kargem Niveau sicherzustellen. Alle diese Länder waren als mehr oder weniger absolute Monarchien auf agrarischer Grundlage organisiert.
Während sich in Amerika die europäischen Kolonialreiche auflösten, gerieten in Asien die seit langem etablierten agrarischen Monarchien in eine tiefe Krise. In Indien war bereits im frühen 18. Jahrhundert das vordem riesige und mächtige Mogulreich in Teilstaaten zerfallen. Erst diese Zersplitterung hatte es den Briten erlaubt, in Bengalen Fuß zu fassen und von dort aus – dies war bis 1818 geschehen – große Teile des Subkontinents zu erobern. So weit kam es in anderen Teilen Asiens einstweilen noch nicht. Der im 17. Jahrhundert starke und kulturell blühende Iran wurde Opfer nicht europäischer, sondern afghanischer Invasionen. Dennoch war die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Wendezeit für Asien, denn das bis dahin bestehende ungefähre Gleichgewicht zwischen Asien und Europa verschwand.
Europa, vor allem vertreten durch das wirtschaftlich dynamische Großbritannien, konfrontierte Asien mit militärischen und kulturellen Herausforderungen, auf die eine Antwort schwerfiel. Keine der agrarischen Monarchien erwies sich als reformfähig genug, um dem Westen Widerstand leisten zu können. Indien konnte erobert werden, weil sich die Briten die indische Zerstrittenheit zu Nutze machten und weil sie fähig waren, ihren quantitativ keineswegs überwältigenden Militärapparat besser zu organisieren als ihre indischen Gegner. Das Fußvolk der britischen Truppen in Indien bildeten Inder, sodass man sagen kann, die Briten hätten eine Methode gefunden, Indien sich selbst erobern zu lassen. Japan fiel es dank seiner Insellage relativ leicht, Ausländer von seinen Küsten fernzuhalten. Aber die Bedrohung nahm unverkennbar zu, und der streng hierarchisch geordneten japanischen Feudalordnung fehlte die Flexibilität, sich auf eine neue Zeit einzustellen. Als im Juli 1853 vier Schiffe der US-Marine in der Bucht von Tokio aufkreuzten, war die japanische Machtelite überrascht und ratlos. Da sie wenig Widerstand leistete, wurde Japan ohne einen Krieg für Kontakte mit der Außenwelt „geöffnet“. An dieser Öffnung, die bald positiv als eigener Anschluss an die „Zivilisation“ interpretiert wurde, beteiligten sich viele Japaner bereitwillig oder sogar mit Enthusiasmus.
Ein Grund für dieses aktive Interesse am Westen, der in Japan von Anfang an doppelt als Europa und die USA auftrat, war das Schicksal Chinas, an dessen Ausbeutung auch Japan Interesse hatte. An der südchinesischen Küste hatte sich seit etwa 1820 ein Konflikt um Opium zusammengebraut. Das Rauschgift wurde in Britisch-Indien produziert und zunehmend statt des früher dafür verwendeten Silbers zur Bezahlung chinesischer Tee-Exporte benutzt. Die Weigerung der chinesischen Regierung, diese Praxis weiter zu dulden, wurde unter britischen Diplomaten und Handelsfirmen als willkommener Anlass gesehen, das bis dahin selbstbewusst verschlossene China zur Öffnung seiner Häfen für Ausländer zu zwingen. Dies geschah im britisch-chinesischen Opiumkrieg von 1840-42, dem 1856-60 ein zweiter Krieg folgte. Zwar wurde China vor 1895 noch nicht in nennenswertem Umfang kolonisiert, doch war erstmals in der Geschichte seine militärische Unterlegenheit gegenüber Europa offenbar geworden. Die Europäer nutzten diese Schwäche, um die Tür für ihre Geschäftsleute und Missionare zu öffnen.
Im Nahen Osten war um 1800 – wie bereits seit vier Jahrhunderten – das Osmanische Reich, das vom Sultan in Istanbul regiert wurde, die beherrschende politische Kraft. Anders als Japan und erst recht als China hatte es seit Jahrhunderten im feindseligen Kontakt mit Europa gestanden. An ein langsames Zurückweichen vor Russland und Österreich auf dem Balkan hatte man sich einigermaßen gewöhnt, doch es war ein großer Schock, dass Bonaparte 1798 in einer militärischen Aktion die Provinz Ägypten unter seine Kontrolle brachte. Auch wenn die Franzosen den Nil bereits nach wenigen Jahren verließen und Ägypten nicht zu ihrer Kolonie machten, so zeigte dies doch die außerordentliche Verwundbarkeit des Reiches. Sie erwies sich erneut, als die Großmächte England und Russland in den 1820er-Jahren mit ihrer Seemacht eine schwache griechische Unabhängigkeitsbewegung unterstützten und den Sultan zwangen, 1830 der Errichtung eines griechischen Staates unter gesamteuropäischer Protektion zuzusehen. Im selben Jahr begann Frankreich mit der Unterwerfung Algeriens, das zumindest nominell dem Sultan untertan war. Die osmanische Elite reagierte auf diese Kette von Niederlagen mit einem ehrgeizigen Reformprogramm (Tanzimat, „Neuordnung“), das, 1839 beginnend, das Reich effektiver gestalten und näher an die westlichen Vorbilder England und Frankreich heranrücken sollte. Damit wurde das Osmanische Reich zur ersten der agrarischen Monarchien Asiens, die sich selbst ein Modernisierungsprogramm verordnete. Das oberste Ziel all dieser Programme war es, das eigene Land – wie es damals oft hieß – „reich und stark“ zu machen und auf diese Weise dem Schicksal der Kolonisierung zu entgehen, das man in Gestalt Indiens mahnend vor Augen sah. Im Falle des Osmanischen Reiches wurde dieses Minimalziel erreicht.

Die eigenständige Entwicklung der USA

Zu den erstaunlichsten und folgenreichsten Entwicklungen während des 19. Jahrhunderts gehörte der langsame Aufstieg der USA zum reichsten Land der Erde und schließlich zur politisch-militärischen Großmacht. Innerhalb des British Empire hatten die nordamerikanischen Kolonien keine herausgehobene Rolle gespielt. Wirtschaftlich war lange Zeit aus Londoner Sicht die Zucker produzierende Karibik (wie beispielsweise Jamaika, Barbados und andere Inseln) wichtiger gewesen. Nur wenige Beobachter in Europa sagten den neu gegründeten USA eine glanzvolle Zukunft voraus.

Die Union startete indes sehr erfolgreich ins 19. Jahrhundert. Die republikanische Regierungsform, die noch niemals in einem der großen Flächenstaaten praktiziert worden war, erwies sich als stabil und handlungsfähig. Eine Gruppe herausragend talentierter Politiker – die Gründerväter um George Washington (1732-1799) und Thomas Jefferson – löste die Probleme, die sich stellten. Die ehemaligen Kolonien, nunmehr Bundesstaaten, wuchsen trotz großer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturunterschiede zusammen. Bäuerliche Landwirtschaft, Schifffahrt und Fernhandel in den nördlichen Staaten, die Produktion von Baumwolle und anderen Agrarprodukten auf Sklavenplantagen im Süden bildeten die Grundlagen einer sich schnell entwickelnden Prosperität. Trotz der politischen Trennung von Europa, die 1823 durch die Monroe-Doktrin („Amerika den Amerikanern!“) bekräftigt wurde, integrierten sich die USA erfolgreich in den Welthandel.

Sie gehörten zur zweiten Generation der Industrialisierer, die unmittelbar auf den Pionier Großbritannien folgte. Bereits in den 1820er-Jahren entstand in den Neuenglandstaaten eine fabrikmäßige Textilproduktion. Ende der 1840er-Jahre erlebte die US-Wirtschaft dann einen spektakulären take-off zur Industrialisierung, etwa gleichzeitig mit Frankreich und noch vor Deutschland. Ebenso wie Europa waren auch die USA damals noch von der Landwirtschaft geprägt, doch wies die Tendenz zumindest im atlantischen Nordosten in Richtung auf eine Gesellschaft, die durch Industrie zu Wohlstand kam. Die USA verfügten über einzigartig günstige Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung. Sie besaßen, anders als Länder wie China, Japan oder Indien, fruchtbares Land in unbegrenzter Fülle, dazu alle nötigen Rohstoffe und den für die Industrialisierung unerlässlichen Energieträger Kohle. Arbeitskräfte strömten aus Europa herbei, viele von ihnen qualifizierte junge Leute. Keine alten feudalen Strukturen behinderten die Dynamik einer Gesellschaft neuen Typs; es gab keine parasitäre Autokratie wie in einigen Teilen Europas. Die republikanischen Institutionen wirkten als Rahmen, der eine „Marktrevolution“ zur Entfaltung kommen ließ. Wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Aufstieg des Einzelnen waren in den USA viel weniger von seinem Familienhintergrund abhängig als in der Alten Welt.

Zum Zeitpunkt der Gründung der USA 1789 wusste man an der Atlantikküste so gut wie nichts über das Innere und den Westen des eigenen Kontinents. Erst Forschungsexpeditionen, die in die „Wildnis“ entsandt wurden, brachten Nachrichten von riesigen Wäldern, Grasländern, Gebirgen und Flüssen und von den „Indianern“, den Bewohnern des Westens. Auf die Entdeckungsreisenden folgten Pioniere und agrarische Siedler in stetig zunehmender Zahl. Die Erschließung des Westens dauerte bis zum Ende des Jahrhunderts und wurde zu einem der großen Themen des US-amerikanischen Selbstverständnisses. Dieses Voranschieben einer Siedlungsgrenze, der frontier, war mit brutalem Vorgehen gegenüber der indianischen Bevölkerung verbunden. Viele Indianer wehrten sich; als geschickte Reiterkrieger leisteten sie Widerstand, der aber die Siedlerwelle nicht aufhalten konnte. Die Indianer verloren ihr Land und ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage, sie wurden deportiert und schließlich zwangsweise in Reservaten untergebracht. Die Erschließung des Westens führte nicht nur zur Ausdehnung der landwirtschaftlichen Flächen, die für Weizenanbau und Rinderzucht genutzt wurden, sondern auch zur Anlage zahlreicher Städte, allen voran Chicago, das nach 1833 innerhalb kurzer Zeit von einer kleinen Siedlung zur zweitgrößten Metropole der Union aufstieg. Die USA wurden zu demjenigen Teil der Welt, in dem die Industrialisierung am schnellsten voranschritt.

Kalifornien wurde anfangs nicht durch die Ost-West-Bewegung der agrarischen Frontier besiedelt, sondern von Abenteurern, die nach der Entdeckung von Gold im Jahre 1848 in diese Region strömten. Durch einen Angriffskrieg gegen Mexiko hatten die USA zu Beginn desselben Jahres den mittelamerikanischen Nachbarstaat zur Abtretung des größten Teils Kaliforniens gezwungen. Das Staatsgebiet der USA wurde seit der Unionsgründung kontinuierlich erweitert. Immer neue Gebiete kamen hinzu: durch Besiedlung, militärische Eroberung und Annexion oder durch Kauf (wie 1803 „Louisiana“ oder 1867 Alaska, das von Russland erworben wurde). Die Einbeziehung der neuen Territorien in den Zusammenhang der Föderation gehört zu den erstaunlichsten Leistungen politischer Organisation in der Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts. So wurde verhindert (was durchaus denkbar gewesen wäre), dass sich auf nordamerikanischem Boden, ähnlich wie in Süd- und Mittelamerika, mehrere unabhängige Staaten bildeten.

Die territoriale Expansion schuf aber mindestens ein zentrales Problem: die Ausdehnung der Sklaverei in die neu angeschlossenen Gebiete. Die Einfuhr neuer Sklaven in die USA war 1808 durch Bundesgesetze verboten worden. Die Sklaverei jedoch blieb weiterhin erlaubt. Sie wurde mehr denn je zur wirtschaftlichen Grundlage einer boomenden Plantagenproduktion, vor allem von Baumwolle, in den Südstaaten und zur zentralen gesellschaftlichen Institution in diesen Teilen der USA. Da sich die Sklavenbevölkerung in den USA, anders als in der Karibik, ohne neuen Zustrom selbst vermehrte, herrschte an schwarzen Arbeitskräften kein Mangel. Im Norden, das heißt nördlich von Virginia und Kentucky, war die Sklaverei nach 1780 durch einzelstaatliche Gesetzgebung schrittweise abgeschafft worden. Den neu an die Union angeschlossen Staaten wurde es nicht länger anheimgestellt, sich selbst für oder gegen die Sklaverei zu entscheiden („Missouri-Kompromiss“ von 1820). Da jeder neue Staat die Machtbalance zwischen freien Staaten und Sklavenstaaten in der nationalen Politik, etwa in der Zusammensetzung des Senats, veränderte, wurde die Förderung oder Einschränkung der Sklaverei zu einem permanenten Streitpunkt in der amerikanischen Innenpolitik. Jeder Schritt zur Erweiterung der Union schuf neue Ungleichgewichte und Risiken.



Pax Britannica als Weltordnung

Trotz Ausdehnung, schnell wachsender Bevölkerungszahl und wirtschaftlichem Aufschwung waren die USA das ganze 19. Jahrhundert hindurch noch nicht die Weltmacht, die sie durch ihren Eintritt in den Ersten Weltkrieg 1917 werden sollten. Sie führten einen Angriffskrieg gegen Mexiko, erweiterten stetig ihren Einfluss in Mittel- und Südamerika und im pazifischen Raum und gingen bei der Öffnung Japans voran. Aber sie betrieben keine Weltpolitik. Die einzige wirkliche Weltmacht im 19. Jahrhundert war Großbritannien. Wie schon in den Jahrhunderten zuvor unterhielt es keine stehenden Heere. Seine Möglichkeiten zur Landkriegführung waren begrenzt; um 1830 war sogar die österreichische Armee doppelt so groß wie die britische.
Vor dem Zeitalter von Luftkrieg und militärischer Raketentechnologie war eine weltweit aktionsfähige Kriegsmarine das wirksamste Instrument globaler Politik. Bereits seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 war die britische Flotte sämtlichen Gegnern überlegen. Die Vernichtung von Napoleons Seemacht bekräftigte nach 1805 die maritime Vorrangstellung des Vereinigten Königreichs. Die Royal Navy diente der Verteidigung der Heimatgewässer, mehr noch aber dem Zweck, die Verbindungslinien innerhalb des British Empire offen zu halten. Das britische Weltreich unterschied sich von allen anderen zeitgenössischen Reichen dadurch, dass es (beim Stand von etwa 1850) neben Flächenkolonien wie Kanada, Australien, Neuseeland, Indien oder Südafrika ein weltweites System von Hafenstützpunkten unterhielt, die unter anderem der Proviantierung der Schiffe dienten. Auf diese Weise kontrollierte es einen großen Teil der für die Schifffahrt bedeutsamen Meerengen (zum Beispiel das Kap der Guten Hoffnung, die Straße von Gibraltar oder die Straße von Malakka, an der die Hafenkolonie Singapur lag). Dabei verfolgte Großbritannien keineswegs die Politik, Verkehr und Handel auf den Ozeanen für sich zu monopolisieren.
Nachdem das britische Parlament mit Wirkung ab 1808 den Sklavenhandel verboten hatte, wurden das Aufbringen von Sklavenschiffen und die Befreiung der Sklaven zu einer weiteren, quasi-polizeilichen Daueraufgabe der Navy. Schließlich war die Flotte auch zu Kriegseinsätzen fähig. Nach der Einführung dampfgetriebener Kanonenboote, wie sie erstmals im Opiumkrieg gegen China eingesetzt wurden, besaß sie die Kapazität, im außereuropäischen Raum zur Durchsetzung imperialer Interessen lokal zu intervenieren und Druck auszuüben. Dampfschiffe hatten dabei den Vorteil, dass sie flussaufwärts fahren und Städte im Landesinneren bedrohen konnten.
Der Begriff des britisch durchgesetzten Friedens, der Pax Britannica, umfasst noch mehr. Zum einen bezieht er sich auf die Tatsache, dass die Briten nach der Eroberungsphase in vielen ihrer Kolonien für einen inneren Landfrieden sorgten. In Indien zum Beispiel hörten die großen Kriege des 18. Jahrhunderts nach der Errichtung der britischen Vorherrschaft 1818 auf. Zum anderen bedeutete Pax Britannica, dass die britische Seeherrschaft durch die leistungsfähigste Ökonomie der Welt untermauert war. Die britische Wirtschaft war dabei in hohem Maße auf ihre weltwirtschaftliche Einbindung angewiesen. Ihre wichtigsten Rohstoffe, vor allem Baumwolle, bezog sie aus Übersee; ihre einträglichsten Absatzmärkte lagen außerhalb der heimatlichen Inseln. Auch die britische Handelsflotte war führend in der Welt. Mehr durch Abschreckung als durch tatsächlichen Einsatz sorgte die Royal Navy dafür, dass Großbritannien seine wirtschaftliche Überlegenheit als Industrieproduzent, Finanzzentrum und Betreiber eines globalen Handelsnetzwerks optimal nutzen konnte. Der Wiener Ordnung auf dem europäischen Kontinent entsprach keine per Konferenz und Verträge abgesicherte internationale Ordnung. Die Pax Britannica, gegen die vor den 1880er-Jahren keine der anderen Großmächte ernsthaften Protest anmeldete, fungierte als eine Art von Ersatz für eine solche Ordnung.