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Entwicklung Großbritanniens seit 1945 | Großbritannien | bpb.de

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Entwicklung Großbritanniens seit 1945

Roland Sturm

/ 7 Minuten zu lesen

Die britische Premierministerin Margaret Thatcher im September 1980. (© AP)

Einleitung

Das Vereinigte Königreich aus Großbritannien und Nordirland hat seit 1945 sein Gesicht grundlegend verändert. Nicht nur Nordirland, sondern auch Wales und Schottland, die beiden Nationen, die mit England zusammen als Großbritannien bezeichnet werden, sind zu relativ eigenständigen politischen Gemeinschaften geworden. Ökonomisch hat sich das Land ganz der Globalisierung geöffnet. Die soziale Spaltung in Ober- und Unterschicht ist zwar nicht überwunden, wird aber von der Multikulturalität der Gesellschaft überlagert. Und außenpolitisch wurde aus der ehemaligen Weltmacht eine europäische Mittelmacht und ein Mitglied der Europäischen Union.

Nachkriegskonsens

Die Kriegsanstrengungen hatten 1945 das Land zwei Drittel seines Außenhandelsvolumens gekostet und die Staatsverschuldung verdreifacht. Großbritannien war von amerikanischer Finanzhilfe abhängig, und die Währung des Landes verlor stetig an Wert. Ein Zurück zur früheren Weltmachtrolle war aus wirtschaftlichen Gründen ebenso wenig möglich wie aus politischen. Viele der britischen Kolonien verlangten nach Selbstbestimmung. Auch zuvor gesellschaftlich benachteiligte Gruppen forderten ihre Rechte ein. Innenpolitisch stand für alle Nachkriegsregierungen die Versorgung der Bevölkerung und später die Verbesserung ihres Lebensstandards sowie die Wiederherstellung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft im Vordergrund. Auch wenn die großen Parteien des Landes, die Arbeiterpartei (Labour Party) auf der politischen Linken und die Konservative Partei (Conservatives) auf der politischen Rechten, nicht in allen Einzelheiten übereinstimmende Strategien zum Erreichen dieser Ziele verfolgten, so lässt sich dennoch von einem Nachkriegskonsens in der britischen Politik sprechen.

Grundlage der gemeinsam verfolgten Politik, die ihre theoretische Begründung in den Schriften des britischen Nationalökonomen John Maynard Keynes (1883-1946) fand, war der Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Das heißt konkret: der Aufbau eines alle Bürgerinnen und Bürger einbeziehenden staatlich finanzierten Systems der sozialen Sicherung und die Übernahme staatlicher Verantwortung für die Wirtschaft. Der Staat versuchte nicht nur, durch Konjunkturpolitik Wirtschaftskrisen zu vermeiden, sondern engagierte sich auch durch entsprechende Vorgaben und Kontrollen bei der Gestaltung der Preise und der Löhne.

Vor allem in Regierungszeiten der Labour Party übernahm der Staat zudem Schlüsselsektoren der Wirtschaft wie die Elektrizitätswirtschaft, die Fluglinien, das öffentliche Transportwesen, die Gasversorgung oder die Eisen- und Stahlindustrie. Die britische Wirtschaftsordnung war bis in die Mitte der 1980er Jahre eine Mischwirtschaft (mixed economy): Sie beruhte auf dem Zusammenspiel von in Staatsbesitz und in Privatbesitz befindlichen Unternehmen.

Der Lebensstandard der britischen Bevölkerung verbesserte sich bis Anfang der 1970er Jahre merklich. Es gelang aber nicht, die Wirtschaftskraft und Konkurrenzfähigkeit des Landes im internationalen Vergleich entscheidend zu stärken. Großbritannien galt in den 1970er Jahren als der "kranke Mann Europas", der von der "britischen Krankheit" geschüttelt wurde. Als Symptome dieser Krankheit wurden hohe Inflationsraten, ein Dauerdefizit im Außenhandel, zu hohe Löhne (gemessen an der wirtschaftlichen Produktivität), häufige Arbeitsniederlegungen, veranlasst durch mächtige Gewerkschaften sowie eine generelle Feindseligkeit gegenüber wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuerungen angesehen. Die Labour-Regierungen dieser 1970er Jahre versuchten vergeblich, durch die Einbindung der Gewerkschaften in wirtschaftspolitische Entscheidungen die Anzahl der Streiks zu begrenzen und die Effizienz staatlicher Lohn- und Preispolitik zu erhöhen.

Thatcherismus

Der Wahlsieg der Konservativen Partei, geführt von Margaret Thatcher, im Jahre 1979 war eine Konsequenz dieses Scheiterns. Er markierte das Ende des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nachkriegskonsenses. Während die oppositionelle Labour Party in den 1980er Jahren weiter an dem alten wohlfahrtsstaatlichen Ideal festhielt, wandten sich die konservativen Regierungen von ihm ab. Premierministerin Margaret Thatcher sah es nicht als Aufgabe des Staates an, Lohn-, Einkommens- oder Konjunkturpolitik zu betreiben. In ihrer ersten Amtszeit vertraute sie auf eine Politik der Inflationsbekämpfung durch eine Kontrolle der für die Wirtschaft zur Verfügung stehenden Geldmenge (Monetarismus), und sie begann die Staatsausgaben zu begrenzen. Sie griff damit den internationalen Wandel wirtschaftspolitischer Leitideen auf, der auf die Theorien des amerikanischen Ökonomen Milton Friedman zurückging. Margaret Thatcher setzte sich offensiv mit der Macht der Gewerkschaften auseinander und schränkte diese durch eine umfassende Gesetzgebung drastisch ein. Die Niederlage der Bergarbeiter im erbittert geführten Streik der Jahre 1984/85 war zugleich Höhe- und Schlusspunkt des politisch motivierten Protestes der Gewerkschaften gegen die konservative Regierung, als dessen Speerspitze sich die Bergarbeitergewerkschaft verstand.

Die mixed economy wurde in den Regierungsjahren Margaret Thatchers durch eine umfassende Privatisierungspolitik zu einer fast ausschließlich privatwirtschaftlich organisierten Marktwirtschaft umgebaut. Maßstab in der Sozialpolitik war nicht länger der Bedarf an Leistungen, sondern deren Finanzierbarkeit. Arbeitslosigkeit wurde nicht mehr als gesellschaftliches Problem, sondern als individuelles Schicksal verstanden. Die Verantwortung für die Suche nach Beschäftigung hatten nun in erster Linie die Betroffenen. Ein soziales Netz, das Arbeitsunwillige und Arbeit Suchende in gleicher Weise auffing, sollte nicht mehr aufrechterhalten werden.

Wo immer dies der Regierung möglich schien, zog sich der Staat aus der Gesellschaftspolitik zurück und machte der Eigeninitiative bzw. der Privatwirtschaft Platz. Die Disziplin der Märkte sollte Wirtschaft und Gesellschaft modernisieren. Ziel dieser Politik war es, die britische Wirtschaft von nicht wettbewerbsfähigen Strukturen zu befreien, die unternehmerische Initiative zu fördern und die Menschen aus der vermeintlichen Passivität von Empfängern sozialer Leistungen herauszuholen.

Begleiterscheinungen wie größere Armut, Obdachlosigkeit, die wachsende Ungleichheit in der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums oder die Unzufriedenheit in denjenigen Regionen des Landes, die der Wirtschaftsboom der späten 1980er Jahre nicht erfasste, wurden von den konservativen Regierungen als zeitweise unvermeidlich hingenommen. Einsparungen im Sozialbereich sollten nicht die wirklich Bedürftigen treffen, wohl aber diejenigen, die unberechtigt von den Leistungen des Wohlfahrtsstaates profitierten. Soziale Probleme sollten wieder stärker als Probleme der Gesellschaft und weniger als Probleme des Staates gesehen werden. Die Sparpolitik der Regierung Thatcher wurde auch mit der Notwendigkeit begründet, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen und die Inflation zu bekämpfen, die aus Regierungssicht in engem Zusammenhang mit staatlicher Verschuldungspolitik stand.

Die wirtschaftspolitischen Ziele der Regierung Thatcher waren am Ende ihrer Amtszeit 1990 zum großen Teil verwirklicht. Der Anteil der Arbeitslosen an der Erwerbsbevölkerung war auf unter sechs Prozent gesunken, die Inflationsrate war mit circa vier Prozent so niedrig wie noch nie seit den 1960er Jahren. Auch dank der von der Regierung Thatcher erzielten Privatisierungserlöse und dank der Einnahmen des Landes aus der Besteuerung der Nordseeölförderung waren die britischen Staatshaushalte Ende der 1980er Jahre nicht nur ausgeglichen. Es konnten sogar Haushaltsüberschüsse erzielt werden, die zum Abbau der im europäischen Vergleich hohen staatlichen Schuldenlast genutzt wurden. Die Steuerreform von 1988 vereinfachte das Steuersystem und senkte den Spitzensteuersatz auf ein Niveau, das außer in den USA nirgendwo erreicht wurde. Dies erhöhte die Attraktivität des Landes für die in der Regierungszeit Thatcher boomenden ausländischen Direktinvestitionen.

Die Politik Margaret Thatchers war so prägend für die 1980er Jahre, dass "Thatcherismus" weltweit zu einem Schlagwort für eine Politik wurde, die sich rigoros für eine möglichst staatsfreie Form der Marktwirtschaft einsetzt. Wie Meinungsumfragen in der Regierungszeit Margaret Thatchers und ihres ebenfalls der Konservativen Partei angehörenden Nachfolgers John Major aber immer wieder zeigten, fehlte es einigen zentralen politischen Initiativen der 1980er Jahre, wie der Privatisierung von Staatsunternehmen, der Reform des Gesundheitswesens oder der Reform der Gemeindesteuern, an Unterstützung in der Bevölkerung. Auch wenn in der Gesellschaft die Einsicht wuchs, dass der Staat eine bescheidenere Rolle für das Gemeinwesen spielen sollte und jeder bzw. jede Einzelne mehr Eigenverantwortung übernehmen müsse, war diese gesellschaftliche Neuorientierung nie sehr populär. Vor allem war die große Mehrheit der britischen Bevölkerung nicht bereit, die negativen sozialen Folgen des Thatcherismus zu akzeptieren. Die Wahlerfolge Margaret Thatchers sind sicherlich nicht auf die Popularität ihrer Sozialpolitik, sondern auf andere Faktoren situativer Art (zum Beispiel ihren Triumph im Falkland-Krieg gegen Argentinien 1982), ihre Führungskraft, ihre Steuer- und Finanzpolitik und die Schwäche der Opposition zurückzuführen.

Blairs "Dritter Weg"

Die Labour Party griff in ihrem Wahlkampf 1997 die ambivalente Grundstimmung der Bevölkerung erfolgreich auf. Sie argumentierte, dass sie zwar keine Rückkehr zur Politik der 1970er Jahre wolle, es aber nicht hingenommen werden könne, dass Teile der Gesellschaft bzw. die außerhalb des südöstlichen Wachstumspols um London liegenden Regionen des Vereinigten Königreiches von den wirtschaftlichen Erfolgen des Landes ausgegrenzt blieben. Ein "Dritter Weg" zwischen den Extremen eines "kaltherzigen Kapitalismus" einerseits und eines zu sehr in die gesellschaftlichen Belange eingreifenden Wohlfahrtsstaats andererseits sollte vom neuen, der Labour Party angehörenden Premierminister Tony Blair gegangen werden. Niemand sollte aus der Wirtschaft und aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Ziel war es, durch ein effizientes Bildungssystem jedem bzw. jeder Einzelnen, unabhängig von der jeweiligen Herkunft, ähnliche Startchancen in der Gesellschaft zu gewähren und alle, die dazu bereit waren, durch Arbeit am gesellschaftlichen Erfolg zu beteiligen. Anders als der Wohlfahrtsstaat garantierte der "Dritte Weg" keine soziale Absicherung ohne eigene Leistung und die Wahrnehmung eigener Verantwortung. Der frische Wind im Land, den die Regierung Blair durch ihre überzeugende Selbstdarstellung in den Medien zu erzeugen schien, sicherte Tony Blair zwei weitere Wahlsiege. Trotz ökonomischer Erfolge erhob sich aber immer lauter die Frage, wo denn die versprochenen Verbesserungen im Bildungs-, Gesundheits- und Verkehrswesen blieben. Als dann auch noch die britische Beteiligung am Irak-Krieg ab 2003 die Popularität Tony Blairs in der britischen Bevölkerung massiv beschädigte, machte dieser 2007 für seinen Nachfolger an der Spitze der Regierung und der Labour Party, Gordon Brown, Platz. Schon in den letzten Regierungsjahren Tony Blairs wurde es still um den "Dritten Weg". Geblieben ist von ihm der absolute Vorrang der britischen Wirtschaft in der Politik des Landes und ein pragmatisches, unideologisches Herangehen an politische Probleme.

QuellentextBilanz einer Amtszeit

[...] Tony Blair ließ und lässt bis heute seine Labour-Leute rätseln. [...] Die Linke verdächtigte Blair von Anfang an, ein "Tory Blair" zu sein, dessen Modernisierer-Image ein äußerst konservatives Weltbild verdeckte. Die Rechte fürchtete, dass Blair bürgerliche Kreise bezirzte, um heimlich Umverteilung und Europäisierung Englands durchzusetzen. [...] Gegen einen Taktiker wie diesen, einen Meister der Kommunikation mit den Massen, einen politischen Akteur der ersten Klasse war nicht anzukommen mit den alten Methoden. In drei Wahlsiegen seit 1997 setzte Blair die Konservativen matt. [...]Blair wusste fast immer die richtigen, die angemessenen Worte zu finden. Er konnte, wenn er wollte, seinen Charme spielen lassen, sein Gegenüber mit bübischem Grinsen entwaffnen.
Dem Mittelstand vermochte er die Angst vor seiner Regierung zu nehmen. Mit "Old Labour", Sozialismus, Gewerkschaftsstaat hatte er schließlich nichts im Sinn. Sozialismus bedeutete für ihn schlicht, "dass alle zusammenarbeiten, damit wir voran kommen". Blair zog beide Lager, progressive wie konservative Zeitgenossen, in sein "großes Zelt". Sozialen Forderungen (nach einem nationalen Mindestlohn, nach Akzeptanz der EU-Sozialcharta) kamen er und sein Schatzkanzler Gordon Brown unverzüglich nach. Business-Erwartungen (auf Steuererleichterungen für britische Betriebe, auf ein günstiges Klima fürs große Geld) wurden gleichermaßen erfüllt.
Was auch immer Blair in den ersten Jahren anpackte, geschah in der klaren Erinnerung daran, wie ohnmächtig die britische Linke in ihrer eigenen Diaspora zwei Jahrzehnte lang gewesen war, wie fern sie der Bevölkerungsmehrheit gestanden hatte mit ihrem Programm dramatischer Verstaatlichungen, ihrer Abhängigkeit von den Gewerkschaften, ihrem üblen Ruf, was wirtschaftspolitisches Management betraf.
Mit dem Versprechen, noch eiserner als die Tories zu sparen, suchten Blair und Brown Vertrauen zu gewinnen. Reformen waren genehm, wo sie nichts kosteten. Die Liberalisierung der Gesellschaft, der Anstrich "Cool Britannia", setzte New Labour von den muffigen Tories ebenso ab wie von den altmodischen Genossen. Die Verfassung wurde, wie versprochen, renoviert mit Bürgerrechts-Gesetzen, Parlamenten für Schottland und Wales, Selbstverwaltung für London, der Ausweisung des Erbadels aus dem Oberhaus. Nur wo es teuer wurde, bei den im Grunde überfälligen Milliarden-Investitionen in die notleidende Infrastruktur, in Krankenhäuser und Schulen des Landes, zögerte man, um nicht wieder als "Geldverschwender" geziehen zu werden.
Auch gab es kein klares Reformkonzept, mit dem die Modernisierung der öffentlichen Dienste angegangen werden konnte. Später sollte Blair erklären, wie sehr er bedauere, fast die gesamte erste Amtszeit, "verloren" zu haben, "nicht radikal genug" gewesen zu sein bei der Umsetzung der ihm in die Hände gefallenen Macht. [...] Je weniger die reizvolle Verpackung mit dem gelieferten Gehalt übereinstimmte, desto weniger trauten die Briten all dem Polit-Glitzer, der Feuerwerk-Dynamik der selbsternannten Erneuerer. [...] In einer Art Zweier-Herrschaft mit Gordon Brown, in stetem Dialog und gelegentlich frostigem Ringen zwischen Premier und Schatzkanzler, wurden in der Ära Blair die Geschicke der Nation entschieden. [...] Nur in einem Bereich, bei der Lösung des Nordirland-Knotens, durfte der Regierungschef Exklusivität für sich in Anspruch nehmen. Hier gab er alles und konnte dafür zur Vollendung seiner Amtszeit die Früchte eines hart errungenen Erfolgs ernten.
Als Friedensstifter, als idealer Mittler daheim wie auf der internationalen Szene, hatte sich Blair noch gesehen, als er das Amt übernahm. Dass er fast schon als Kreuzzügler endete, als eine Art britischer Filialleiter eines US-Weltkriegs gegen "Terror", gehört zu den Widersprüchen, die die Ära Blair charakterisieren. Blair, der als Student Uniformen hasste und noch 1997 zu politischem Konsens mahnte, entwickelte sich in Downing Street zum einsamen Verfechter harscher militärischer Mittel im Dienste der "Menschlichkeit". "Humanitäre Intervention" war das Losungswort für die militärischen Einsätze, in die Blair das Land führte.
Kosovo bildete - noch zu Zeiten Bill Clintons - den Anfang. Die Ereignisse auf dem Balkan verfestigten missionarische Instinkte und die Überzeugung von der Notwendigkeit bewaffneter Einflussnahme in der Welt. Als Al-Kaida-Piloten die Twin Towers in Schutt und Asche legten, brauchte es gar keinen US-Druck, um Blair zum Beistand zu bewegen. [...] Er tat es aus freiem Willen, im festen Glauben, dass man tun müsse, "was richtig ist" - auch wenn nicht jeder eine solche Handlungsweise billige. Falls er je Zweifel an der Irak-Invasion gehabt haben sollte, hat er sie bis heute niemandem anvertraut. [...]Irak wurde zur großen Katastrophe seiner Amtszeit und zur Katastrophe für Blair persönlich. Irak kostete ihn den internationalen Ruf, den er aufgebaut hatte und im eigenen Land den Rest des Respekts der Bevölkerung. Es machte vollends seine Bemühungen um einen Ausgleich mit Europa zunichte. Es überschattete seine innenpolitischen Projekte, untergrub seine Autorität, führte ihn an den Punkt, an dem er unter dem Druck Browns aus dem Amt gehen musste. [...]
Noch streiten seine Zeitgenossen über den Stellenwert seiner Ära. Von Scheitern könne keine Rede sein, sagen ihm Wohlgesonnene. Blair habe mit Brown früh Erfordernisse der Globalisierung erkannt, das Land darauf vorbereitet, aus Wohlfahrts-Empfängern arbeitswillige, besser gerüstete Bürger gemacht. Er habe Neues ausprobiert, die öffentlichen Dienste verbessert, Armut verringert, Verbrechen reduziert, die Gesellschaft zusammen gehalten, für ein pluralistischeres Britannien gesorgt.
Blair habe, halten seine Kritiker dagegen, den dreifachen Vertrauensbeweis seiner Wähler schlicht verschwendet. Er habe weder die Interessen der Mächtigen angetastet, noch echte, radikale Veränderungen zustande gebracht. Er lasse eine Gesellschaft zurück, die nur auf Pump existieren könne, und deren Mitglieder sich von einem zunehmend autoritären Staat sagen ließen, wie sie sich zu verhalten hätten. Die versprochene Normalisierung im Verhältnis zu Europa sei er schuldig geblieben. Die Frauen im Kabinett habe er kaum gefördert. Und grüne Themen habe er erst sehr spät entdeckt.
Man wird wohl einige Zeit weiter streiten im Königreich über Tony Blair. [...] Aber dass Blair einer der bemerkenswertesten Premierminister der letzten hundert Jahre war, im Guten wie im Schlimmen - daran bestehen wenig Zweifel.

Peter Nonnenmacher, "Strahlemann, Missionar, Schurke - die Ära Blair" in: Frankfurter Rundschau vom. 11. Mai 2007