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Festung Europa Zur Flüchtlingspolitik der EU

Dr. Hendrik Cremer Hendrik Cremer

/ 8 Minuten zu lesen

Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. So viele wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Ein Teil von ihnen versucht, nach Europa zu gelangen – in die Länder der EU, die sich den Flüchtlingsschutz auf die Fahnen geschrieben haben. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede, was den Umgang mit geflüchteten Menschen angeht. Ein solidarisches, gemeinsames "Europäisches Asylsystem" ist bisher nicht realisiert.

Bootsflüchtlinge vor der spanischen Insel Teneriffa (© AP)

Umfassende menschenrechtliche Verpflichtungen

Nach Angaben des Interner Link: Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) befinden sich gegenwärtig 65,3 Millionen Männer, Frauen und Kinder auf der Flucht. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es nicht mehr so viele Menschen wie in den vergangenen Jahren, wobei dieser Anstieg zu einem großen Teil auf die hohe Zahl syrischer Flüchtlinge zurückzuführen ist, die vor dem Krieg in ihrem Land fliehen.

Die Europäische Union (EU) und deren Mitgliedstaaten haben mit Blick auf die Situation von Menschen, die in Europa Zuflucht suchen, zahlreiche Menschenrechtsabkommen zu beachten. Dazu zählen Abkommen, die auf UN-Ebene vereinbart wurden, wie beispielsweise der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 oder die UN-Kinderrechtskonvention von 1989, die die Rechte von Kindern und Jugendlichen konkretisiert. Die EU ist außerdem verpflichtet, internationales Flüchtlingsrecht einzuhalten, welches insbesondere in der Genfer Flüchtlingskonvention vertraglich kodifiziert worden ist. Darüber hinaus ist die Interner Link: Europäische Menschenrechtskonvention als wichtiges Instrument im Bereich des Flüchtlingsschutzes zu nennen. Alle Mitgliedstaaten der EU sind Vertragsstaaten der genannten menschenrechtlichen Verträge und haben sie somit anerkannt. Zudem hat die EU, die im Bereich der Asylgesetzgebung über weitreichende Kompetenzen für ein "Gemeinsames Europäisches Asylsystem" verfügt, das Recht auf Asyl im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention explizit in die EU-Grundrechte-Charta (Artikel 18) aus dem Jahr 2000 aufgenommen. Damit bekennt sich die EU zu einem menschenrechtlich begründeten Flüchtlingsschutz.

Trotz der umfassenden menschenrechtlichen Verpflichtungen gibt es innerhalb der EU bis heute erhebliche Unterschiede, was den tatsächlichen Umgang mit Menschen betrifft, die in der EU Zuflucht suchen. Dies betrifft etwa Fragen von Standards bei ihrer Unterbringung oder den Zugang zu medizinischer Versorgung. Auch verfahrensrechtliche Standards bei der Bearbeitung von Asylanträgen und die Anerkennungsquoten von Asylanträgen unterscheiden sich in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU teilweise erheblich.

Menschenrechte schränken Zuwanderungskontrolle ein

Menschenrechte gelten grundsätzlich für alle Menschen, unabhängig davon, ob sie die Voraussetzungen eines rechtmäßigen Aufenthalts erfüllen. Auch die allgemeinen Diskriminierungsverbote, die in menschenrechtlichen Verträgen enthalten sind, schützen jeden Menschen. Zu begründen ist diese umfassende Reichweite menschenrechtlichen Schutzes mit der gleichen Würde eines jeden Menschen. So heißt es bereits in Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948: "Alle Menschen sind frei und an Würde und Rechten gleich geboren."

In einem Spannungsverhältnis dazu steht der völkerrechtliche Grundsatz, dass die Gestattung der Einreise wie auch die Beendigung des Aufenthaltes von Nicht-Staatsangehörigen nach allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts zu dem Bereich gehört, der den Staaten beziehungsweise der EU kraft ihrer Souveränität zur freien Regelung zusteht. Diese Souveränität wird allerdings begrenzt durch die Genfer Flüchtlingskonvention und weitere menschenrechtliche Bestimmungen, die vor besonders gravierenden Menschenrechtsverletzungen schützen sollen.

Dabei resultiert aus der Genfer Flüchtlingskonvention das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren, in dem Menschen ihr Recht auf Schutz vor Verfolgung geltend machen können. Nach dieser Konvention müssen die Staaten dafür Sorge tragen, dass kein Mensch an der Grenze abgewiesen oder abgeschoben wird, wenn die Person dadurch gezwungen wäre, sich in einem Staat aufzuhalten, in dem ihr Verfolgung droht. Die Zurückweisung an der Grenze oder die Abschiebung einer Person ist demnach etwa unzulässig, wenn der Person im Herkunftsstaat aus rassistischen Gründen, aufgrund ihrer Religion, ihres Geschlechts oder aufgrund ihrer politischen Meinung gravierende Menschenrechtsverletzungen drohten. Überdies verstößt eine Zurückweisung oder Abschiebung in einen anderen Staat auch dann gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, wenn nicht gewährleistet ist, dass die Schutzsuchenden von dort aus nicht weiter in den Verfolgerstaat abgeschoben werden ("Kettenabschiebung").

Auch nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) muss es Menschen möglich sein, einen Schutzantrag zu stellen, in dessen Folge geprüft wird, ob die Person im Falle einer Zurückweisung an der Grenze oder einer Abschiebung gravierenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre. Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist es laut EMRK verboten, eine Person an der Grenze zurückzuweisen oder aus dem Land abzuschieben, wenn sie dadurch einem tatsächlichen Risiko der Folter oder einer unmenschlichen Behandlung unterliegt oder eine "Kettenabschiebung" droht.

Außerdem müssen den Betroffenen im Falle einer Ablehnung ihres Schutzantrages effektive Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der EU (Interner Link: EuGH) dürfen die EU-Mitgliedstaaten Schutz suchende Menschen auch nicht in andere EU-Mitgliedstaaten zurückweisen, ohne dass effektive Rechtsschutzmöglichkeiten hiergegen bestehen.

Die Realität sieht anders aus

Die EU bekennt sich zu einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem unter Beachtung des internationalen Flüchtlingsrechts und der Menschenrechte. Die Realität sieht indes anders aus. Hierzu gehört etwa, dass Mitgliedstaaten der EU Maßnahmen treffen, um Schutzsuchenden erst gar nicht Zutritt zum Hoheitsgebiet der EU zu gewähren. Dazu wurden bereits patrouillierende Schiffe im Mittelmeer eingesetzt, die Menschen auf schiffbrüchigen Booten auf Hoher See abfingen und daran hinderten, die EU-Außengrenzen zu erreichen. Eine solche Praxis – dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2012 in einer Grundsatzentscheidung klargestellt –, verletzt flüchtlingsrechtliche Garantien wie das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren und das Recht, einen Antrag auf Schutz vor Zurückschiebung und Abschiebung gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention zu stellen. Denn Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz beginnt nicht erst auf dem Territorium der EU. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben menschenrechtliche Verpflichtungen auch dann zu beachten, wenn sie außerhalb ihres Territoriums, auf Hoher See, Schiffe einsetzen und damit Hoheitsgewalt ausüben.

Einige Mitgliedstaaten der EU haben zur Abwehr von Menschen, die auf dem Landweg Schutz suchen, Grenzvorrichtungen, insbesondere Zäune, errichtet, die zusätzlich durch den Einsatz von staatlicher Gewalt abgesichert werden. Bei einer solchen Praxis tritt deutlich zutage, dass die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention aus dem Blick geraten sind. Die verantwortlichen Staaten nehmen dabei auch in Kauf, dass Frauen, Männer und Kinder im Zuge von Zurückweisungen an der Grenze in ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt werden.

Mit den flüchtlings- und menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten ebenfalls nicht in Einklang zu bringen ist die Vereinbarung, wie sie die EU im März 2016 mit der Türkei getroffen hat. Darin ist vorgesehen, dass Menschen, die die Türkei auf ihrer Flucht als Transitland genutzt und auf den griechischen Inseln erstmals das Territorium der EU betreten haben, um dort Schutz zu suchen, wieder in die Türkei abgeschoben werden sollen. Die Vereinbarung ist aus flüchtlings- und menschenrechtlicher Perspektive etwa deswegen nicht haltbar, weil in der Türkei, beispielsweise nach Berichten von Amnesty International, kein ausreichender Schutz vor weiteren Abschiebungen gewährleistet ist. Es besteht mithin die Gefahr von "Kettenabschiebungen".

Alle fliehen nach Europa?

Die EU und ihre Mitgliedstaaten begründen die beschriebenen Abschottungsmaßnahmen vor allem mit der hohen Anzahl von Menschen, die Schutz in Europa suchen. Die hierbei zugrunde liegende und weit verbreitete Einschätzung, dass Menschen auf der Flucht vor allem nach Europa fliehen würden, erscheint indes fragwürdig.

Denn nach Angaben des UNHCR handelt es sich bei den meisten Flüchtlingen weltweit um Binnenflüchtlinge, die innerhalb ihres eigenen Landes verbleiben. Ein Großteil von Geflohenen verbleibt zudem in Nachbarländern. Dies lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass die Menschen dort eventuell soziale, kulturelle und sprachliche Gegebenheiten vorfinden, die denen in ihren Heimatorten ähneln. Zum anderen sind kürzere Fluchtwege häufig weniger gefährlich und bieten die Möglichkeit, schnell wieder in die Heimat zurückzukehren, wenn sich dort die Bedingungen ändern. Außerdem haben viele Menschen nicht genug finanzielle Mittel für eine längere Flucht. Deshalb nehmen die Länder der EU auch insgesamt relativ wenig Geflüchtete auf. Die weitaus größte Anzahl von Flüchtlingen wird von den sogenannten Entwicklungsländern aufgenommen.

Von den syrischen Flüchtlingen etwa, die vor dem Krieg in ihrem Land geflohen sind, haben allein Jordanien, Libanon und die Türkei weit mehr als vier Millionen aufgenommen, die gesamte EU etwa eine Million. Kein Land hat in Relation zur einheimischen Bevölkerungszahl so viele Geflohene aufgenommen wie der Libanon, kein Land in absoluten Zahlen so viele wie die Türkei – weit über zwei Millionen.

Europa trägt Mitverantwortung für Fluchtursachen

Zweifellos ist die Anzahl von Menschen, die in Europa Schutz suchen, in jüngster Vergangenheit stark gestiegen. In der politischen Debatte wird vor diesem Hintergrund zunehmend die Forderung laut, stärker die Ursachen zu bekämpfen, die dazu führen, dass sich Menschen gezwungen sehen, ihr Herkunftsland zu verlassen. Tatsächlich zeichnet sich die Politik der EU und ihrer Mitgliedstaaten derzeit aber auch dadurch aus, dass grundsätzliche Probleme wie Armut, Perspektivlosigkeit oder Umweltzerstörung, die neben anderen Gründen wie kriegerische Auseinandersetzungen Migration bedingen können, nicht ausreichend angegangen werden. Hierfür wäre nicht nur ein verstärkter Einsatz finanzieller Ressourcen notwendig, sondern auch die Überprüfung und Korrektur europäischer Handelspolitiken.

Gegenwärtige Politiken der EU und ihrer Mitgliedstaaten tragen dazu bei, dass Menschen in anderen Staaten in ihren wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten beeinträchtigt werden. So finden sich immer wieder Beispiele, in denen die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftsmacht in den Handelsbeziehungen mit afrikanischen Staaten nutzen und dadurch z.B. die eigenständige Entwicklung einer nachhaltigen Ernährungsbasis in diesen Staaten behindern. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind mithin für solche Faktoren mitverantwortlich, die dazu führen, dass Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren und sich deshalb mitunter auch dazu entscheiden, ihre Heimat zu verlassen.

Im Zuge der europäischen Fischereipolitik werden etwa afrikanische Fischer vom eigenen Markt verdrängt. Riesige Trawler aus Europa beuten die Küstengewässer afrikanischer Staaten aus. In Staaten wie Senegal, Mauretanien oder Guinea haben zahlreiche einheimische Fischer die negativen Auswirkungen europäischer Fischereipolitik bereits zu spüren bekommen. Ihre Erträge sanken, viele haben ihre Fischereitätigkeit aufgegeben, teilweise haben sie ihr Land verlassen.

Dazu im Widerspruch stehen die Verpflichtungen zur internationalen Zusammenarbeit, welche die EU-Mitgliedstaaten im Rahmen menschenrechtlicher Verträge wie etwa dem Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und der UN-Kinderrechtskonvention eingegangen sind. Demnach haben sie zur Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte in den so genannten Entwicklungsländern beizutragen. Diesen Grundsätzen wird die EU nach ihren gegenwärtigen Politikansätzen nicht gerecht.

Fazit

Eine der zentralen Herausforderungen bei der Etablierung eines gemeinsamen Europäischen Asylsystems besteht darin, ein solidarisches und funktionierendes System bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu schaffen. Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten ist eines der Grundprinzipien der EU. Damit dieses Prinzip in der EU verwirklicht werden kann, müsste insbesondere das "Dublin-System" abgelöst werden, nach dem in erster Linie derjenige Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, in dem eine Person erstmals das Territorium der EU betreten hat. Dies hat zur Folge, dass einige EU-Staaten im Vergleich zu anderen EU-Staaten mehr Flüchtlinge aufnehmen. Davon betroffen sind etwa EU-Außenstaaten wie Griechenland oder Italien, die eine solidarische Verteilung der Schutz suchenden Menschen innerhalb der EU fordern. Für einen auch von weiteren Mitgliedstaaten angestrebten permanenten Verteilungsmechanismus der Flüchtlinge innerhalb Europas gibt es aber bisher keinen Konsens, zumal sich andere Mitgliedstaaten dagegen zur Wehr setzen, (mehr) Flüchtlinge aufzunehmen.

Vor diesem Hintergrund verfolgt die EU derzeit vor allem das Ziel, die "Sicherung der Außengrenzen" zu intensivieren, wenngleich dieser Ansatz auf systematische Menschenrechtsverletzungen hinausläuft, indem Schutz suchende Menschen an der jeweiligen Grenze zurückgewiesen und der Zugang zu einem Asylverfahren verweigert wird. Damit besteht zugleich die Gefahr, dass Europa seine Glaubwürdigkeit im Bereich der Menschenrechte nachhaltig verliert.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. jur. Hendrik Cremer ist seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin. Veröffentlichungen in den Bereichen Migration, Rassismus, Diskriminierungsschutz, Folterprävention und Kinderrechte. In seiner Promotion hat er das Thema unbegleitete Flüchtlingskinder behandelt.