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Nothilfe und Konfliktbearbeitung | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Nothilfe und Konfliktbearbeitung

Katrin Radtke

/ 7 Minuten zu lesen

In fast allen innerstaatlichen Konflikten wird humanitäre Hilfe geleistet. Ziel dieser Hilfe ist es, die Not der betroffenen Bevölkerung zu lindern. Nicht immer wirkt sich die Hilfe automatisch auch positiv auf die bestehenden Konflikte aus.

Immer wieder wird Hilfsorganisationen der Zugang zu umkämpften Gebieten versagt - so etwa in Syrien. Zahlreiche syrische Städte werden belagert und sind von Hilfe abgeschottet. Anfang Februar 2016 kam ein Hilfskonvoi des Internationalen Roten Kreuzes in der syrischen Stadt Moadamiyeh an. (© picture-alliance/dpa)

Seit dem Jahr 2005 ist die Anzahl der Menschen, die humanitäre Hilfe benötigen, um mehr als das Doppelte gestiegen. Kurz nach der Jahrtausendwende waren nach Schätzungen von UN-OCHA – dem Büro für die Koordinierung weltweiter humanitärer Hilfe – rund 40 Mio. Menschen hilfsbedürftig. Im Jahr 2016 sind es 87 Mio. Menschen. Der wichtigste Treiber hinter dieser Entwicklung sind bewaffnete Konflikte. Millionen von Menschen sind in Konfliktgebieten Gewalt und schlimmsten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt oder sie sind auf der Flucht (UN OCHA 2015).

Tausende lokale und internationale humanitäre Organisationen unterstützen in Kriegs- und Konfliktsituationen die Bevölkerung – etwa bei der Ernährungssicherung, der medizinischen Versorgung oder dem Zugang zu sauberem Trinkwasser und sicheren Unterkünften. Zu den wichtigsten Organisationen zählen die internationale Rotkreuzbewegung und die zahlreichen nationalen Rotkreuz- und Roter-Halbmond-Gesellschaften, die verschiedenen Hilfswerke der Vereinten Nationen, darunter das Kinderhilfswerk UNICEF, der Flüchtlingsrat UNHCR und das Welternährungsprogramm WFP sowie tausende lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen (NRO), wie zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen, Caritas, Diakonie Katastrophenhilfe, Welthungerhilfe und Islamic Relief.

Gerade in Konfliktgebieten stehen die Helfer häufig vor großen Herausforderungen, denn die Hilfe muss dort ankommen, wo sie auch wirklich gebraucht wird: Der Zugang zur Bevölkerung muss trotz bewaffneter Auseinandersetzungen gewährleistet werden. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass die Hilfe nicht in die falschen Hände gerät. Denn leider ist die Geschichte der humanitären Hilfe geprägt von einer schmerzlichen Erkenntnis: Obwohl gut gemeint, hat sie in vielen Fällen dazu geführt, dass Hilfsgüter von Konfliktparteien zweckentfremdet und dadurch Konflikte verschärft oder verlängert wurden (von Pilar 2013).

Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Biafra Konflikt (1967-1970). Der Konflikt verursachte den Hungertod von rund einer Million Menschen. Grund war ein Embargo der nigerianischen Regierung gegen die nach Unabhängigkeit strebende erdölreiche Region Biafra. Die große internationale Aufmerksamkeit hatte eine bis dahin nie da gewesene Spendenbereitschaft zur Folge. Doch die Hilfe kam nie vollständig an, denn die politischen Führer in Biafra hielten bewusst Hilfsgüter zurück. Ihr Kalkül: Je schlechter es der Bevölkerung in Biafra geht, desto mehr Druck entsteht auf die nigerianische Regierung und desto mehr internationale Unterstützung fließt in die Region.

Während der großen Hungersnot in Äthiopien 1984 und nach dem Genozid in Ruanda 1994 hatte die humanitäre Hilfe nicht-intendierte Nebenwirkungen. In Äthiopien erhob Diktator Mengistu nicht nur Zölle auf die gelieferten Hilfsgüter, sondern nutzte auch die Logistik der internationalen Hilfswerke, um ganze Bevölkerungsgruppen zu deportieren. Tausende verloren so ihr Leben. Nach dem Völkermord in Ruanda versteckten sich zahlreiche Verantwortliche in den Flüchtlingslagern des benachbarten Zaires und konnten sich im Schutz des Lagers neu organisieren. Hilfsgüter wurden massenhaft "abgezweigt" und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Die Erlöse flossen in die Kassen der Milizen.

Solche Situationen stellen Hilfsorganisationen vor schwerwiegende Entscheidungen: Ist es besser die humanitäre Hilfe auszusetzen? Welche Maßnahmen können getroffen werden, um Konflikte durch die humanitäre Hilfe nicht weiter zu befeuern? Eine Orientierung bei der Beantwortung dieser Fragen bieten die Arbeitsgrundsätze humanitärer Organisationen, die teilweise schon anlässlich der Begründung der modernen humanitären Hilfe durch den Gründer der Rotkreuz-Bewegung Henry Dunant im Jahr 1864 formuliert wurden und inzwischen auch im Völkerrecht verankert sind.

Die humanitären Prinzipien

Eine der wichtigsten Arbeitsgrundlagen für viele humanitäre Organisationen stellen in Konflikten die sogenannten humanitären Prinzipien – Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität – dar. Durch diese Prinzipien soll die bewusste Einflussnahme auf einen Konflikt ausgeschlossen werden und der Zugang zur notleidenden Bevölkerung sichergestellt werden.

Das Prinzip der Menschlichkeit beruht auf der allgemeinen Überzeugung von der grundsätzlichen Würde eines jeden Menschen. Aus diesem Prinzip leitet sich ab, dass überall dort, wo Menschen von Katastrophen oder Konflikten betroffen sind, Maßnahmen ergriffen werden sollten, um Leid vorzubeugen oder zu verhindern. Dieses Prinzip hat für humanitäre Organisationen oberste Priorität.

Unparteilichkeit bedeutet, dass Hilfe allein nach dem humanitären Bedarf geleistet wird. Ethnische Herkunft, Geschlecht oder religiöse und politische Zugehörigkeit sollten keine Rolle bei der Vergabe spielen. Hilfe sollte sich stattdessen auf die Menschen oder Gruppen konzentrieren, die am bedürftigsten sind und sich am wenigsten aus eigener Kraft helfen können.

Das Prinzip der Unabhängigkeit besagt, dass humanitäre Organisationen frei und ohne äußere Einflussnahme ihre Arbeit durchführen können. Insbesondere, wenn es sich um Konfliktparteien handelt, halten viele Organisationen eine entsprechende Distanz für angemessen. Auf finanzieller Ebene versuchen viele humanitäre Akteure, ihre Unabhängigkeit dadurch zu gewährleisten, dass sie möglichst viele private Spender oder möglichst viele unterschiedliche Geber, z.B. Regierungen, internationale Organisationen, Unternehmen, Stiftungen, private Spender, gewinnen.

Neutralität schließlich besagt, dass humanitäre Organisationen sich nicht in den Konflikt einmischen und sich nicht für oder gegen eine Konfliktpartei aussprechen.

Zwar werden diese Prinzipien von den Hilfsorganisationen zum Teil unterschiedlich ausgelegt. Sie stimmen aber darin überein, dass nur durch die Befolgung dieser Prinzipien die Akzeptanz für ihre Arbeit und der Zugang zu allen Gebieten und zu den Hilfebedürftigen gewährleistet werden kann. Die humanitären Prinzipien finden sich unter anderem im "Code of Conduct" der internationalen Rotkreuz- und der Roter-Halbmond-Bewegung und der NRO, die in der Not- und Katastrophenhilfe tätig sind wieder sowie im neu entwickelten "Core Humanitarian Standard" (2014).

Die humanitären Prinzipien sind allerdings nicht immer ausreichend, um eine möglichst positive Wirkung von humanitärer Hilfe sicherzustellen. Dies gilt besonders dann, wenn, wie in den oben genannten Fällen, Hilfe von Konfliktparteien bewusst für ihre eigenen Ziele missbraucht und instrumentalisiert wird. Aus diesem Grund verfolgen viele Organisationen inzwischen explizite Regeln für ihr Handeln in bewaffneten Konflikten bzw. konfliktsensitiven Kontexten. Diese Regeln folgen dem Grundsatz "Richte keinen Schaden an" (englisch: "do no harm").

Do no harm

Der sogenannte Do no harm-Ansatz wurde in den 1990er Jahren unter der Leitung von Mary B. Anderson auf der Basis von Erfahrungen hunderter humanitärer Helfer entwickelt. Er wird heute von fast allen großen humanitären Organisationen im Rahmen ihrer Arbeit angewandt. Was sich wie eine Selbstverständlichkeit anhört, ist in Wahrheit ein hoch anspruchsvolles Projekt. Denn die Voraussetzung ist eine äußerst genaue Kenntnis und Analyse der Konfliktsituation vor Ort und des gesamten Konfliktkontextes.

Der Ansatz beruht auf der Grundidee, dass humanitäre Hilfe – trotz erklärter Absicht – nicht automatisch neutral ist. Jegliche Intervention von außen setzt neue Impulse für das Konfliktgeschehen. Laut Do no harm-Ansatz ist es deshalb wichtig, strikt darauf zu achten, dass diese Impulse nicht konfliktverschärfend wirken. Im Do no harm-Ansatz geht es darum herauszufinden, wie sich negative, konfliktfördernde Praktiken vermeiden und positive, konfliktreduzierende Einflüsse im Rahmen der Hilfe stärken lassen.

Die Konflikt- und Kontextanalyse soll sich besonders darauf konzentrieren, trennende und verbindende Faktoren innerhalb der jeweiligen Gesellschaft zu identifizieren. Der Ansatz geht davon aus, dass in jedem Krieg oder gewaltsam ausgetragenen Konflikt auch ein gewisses Maß an Alltag stattfindet, in dem sich Menschen begegnen können. Zu den verbindenden Elementen gehören zum Beispiel Märkte, die trotz Konflikt und Gewalt weiter abgehalten werden, aber auch gemeinsame Werte, eine gemeinsame Sprache oder Erfahrungen, die geteilt werden, beispielsweise Arbeitserfahrungen in verschiedenen Bereichen.

Zu den trennenden Faktoren gehören unter anderem historisch gewachsene Strukturen von Diskriminierung, Rechtlosigkeit und Exklusion, die mit ungleichem Zugang zu Ressourcen einhergehen. Ebenfalls trennend wirken unterschiedliche Werte und Interessen oder Systeme und Institutionen, die Gewalt reproduzieren, wie zum Beispiel bewaffnete Gruppen und Armeen, Waffenproduktionssysteme und Propagandaapparate (Anderson 1999).

Auf der Basis der Erkenntnisse, die aus dieser Analyse gewonnen werden, soll die humanitäre Hilfe so ausgerichtet werden, dass sie trennende Faktoren nicht weiter verstärkt und verbindende Faktoren unterstützt. Auf diese Weise sollen nicht intendierte Nebenwirkungen vermieden werden. Jede Intervention muss also kontextspezifisch vorbereitet und durchgeführt werden.

Neue Herausforderungen

Besonders Besorgnis erregend ist derzeit die Frage des Zugangs in umkämpfte Gebiete. In einigen aktuellen Konfliktregionen – etwa Somalia, Syrien und dem Jemen– können Hilfsorganisationen nicht oder nur sehr eingeschränkt arbeiten. Ihre Arbeit wird nicht von allen Konfliktparteien akzeptiert. Einen weiteren Punkt stellt die steigende Anzahl gewaltsamer Übergriffe auf Hilfsorganisationen in den letzten Jahren dar. Laut Humanitarian Outcomes wurden im Jahr 2014 321 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen Opfer von Übergriffen, 121 davon mit tödlichem Ausgang (Humanitarian Outcomes 2015). Als Reaktion lässt sich eine immer stärkere Abschottung von Hilfsorganisationen beobachten, die Mark Duffield und Sarah Collings als "Bunkerization" bezeichnen (Collins/Duffield 2013). Obwohl verständlich, könnte dies die Akzeptanz von Hilfsorganisationen in der Bevölkerung weiter schwächen.

Unabhängig davon, ob Hilfe in Konflikten oder nach Naturkatastrophen geleistet wird, besteht eine der wichtigsten Aufgaben für humanitäre Organisationen in der Zukunft darin, die Beziehungen der zahlreichen Akteure in der humanitären Hilfe besser zu gestalten und damit die Zusammenarbeit und Partnerschaft zu stärken. Dazu gehört ganz besonders, dass die notleidende Bevölkerung stärker in die Gestaltung von Nothilfeaktivitäten eingebunden wird und in allen Phasen der Hilfe mehr Einfluss ausüben kann. Ein Baustein dazu ist die Stärkung der führenden Rolle von lokalen Organisationen und nationalen Institutionen in der humanitären Hilfe. Es ist zu hoffen, dass der im Jahr 2016 stattfindende World Humanitarian Summit und der dort zu verabschiedende Handlungsrahmen dieses Anliegen weiter vorantreiben werden.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Katrin Radtke, Akkon Hochschule für Humanwissenschaften, Berlin Institut für Friedensicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht, Ruhr Universität Bochum