Durch das rechtzeitige Erkennen und Vermeiden der gewaltsamen Eskalation von Krisen und Konflikten könnten Jahr für Jahr zehntausende Menschenleben gerettet werden. Milliardensummen, die in das Militär, die Nothilfe und den Wiederaufbau fließen, würden für Entwicklung, Bildung, Forschung und Gesundheit verfügbar. Mehr noch: Die meisten Folgen von Gewaltkonflikten lassen sich nicht mit noch so großzügigen internationalen Wiederaufbauprogrammen reparieren. Leid und Unrecht infolge von Menschenrechts- und Kriegsverbrechen, die Zerstörung sozialer Beziehungen und Gemeinschaften sowie Traumatisierung, Flucht und Vertreibung vieler Millionen Menschen belasten Bürgerkriegsgesellschaften auf Jahrzehnte hinaus.
Die betroffenen Staaten drohen in einen Teufelskreis zu geraten. Ihre Infrastruktur ist weitgehend zerstört, jahrelange Entwicklungsanstrengungen werden zunichte gemacht. Viele Kinder und Jugendliche können keine reguläre Schul- und Berufsausbildung absolvieren. Gesundheitsvorsorge, Umwelt- und Klimaschutz bleiben auf der Strecke. Die zerrüttete Wirtschaft bietet nur noch viel zu wenig Beschäftigungsmöglichkeiten. Ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung ist traumatisiert. Armut, Entwurzelung und Perspektivlosigkeit treffen insbesondere junge Menschen. Organisierte Kriminalität und terroristische Gruppen erhalten Zulauf. Das ist der Nährboden für Alltagsgewalt und Kriminalität.
In Post-Konfliktgesellschaften ist die Wahrscheinlichkeit des (Wieder-)Aufbrechens offen gewaltsamer Auseinandersetzungen signifikant höher als in Gesellschaften, die lange Friedensperioden erlebt haben. Von Gewalt infizierte Gesellschaften stecken in einer "Konfliktfalle" fest (UNO/Weltbank 2018: 83 f.). Viele Akteure – Staat, Unternehmen, ethnische und religiöse Gemeinschaften – haben sich im Modus der gewaltsamen Konfliktaustragung eingerichtet und profitieren davon. Hass und Feindschaft, Helden- und Opfermythen werden von Generation zu Generation weitervererbt und rechtfertigen so die Fortsetzung der Auseinandersetzungen.
Krisen- und Konfliktprävention – die Karriere eines Konzepts
Krisen- und Konfliktprävention ist seit dem programmatischen UN-Dokument "Agenda für den Frieden" (1992) von einer Forderung der Friedens- und Konfliktforschung zu einem fest etablierten Ansatz der internationalen Politik geworden. In der UN-Resolution firmiert das Konzept unter dem Begriff der "vorbeugenden Diplomatie". Darunter fallen nicht nur Vor-Ort-Besuche, Gespräche und Verhandlungen, sondern auch vertrauensbildende Maßnahmen, Frühwarnsysteme zur Tatsachenermittlung, vorbeugende Einsätze sowie die Einrichtung entmilitarisierter Zonen ("Agenda für den Frieden", Ziffer 23).
Seither hat es mehrere Anläufe gegeben, das Konzept weiterzuentwickeln und stärker in der praktischen Politik der Staaten und internationalen Organisationen zu verankern. Eine wichtige Wegmarke war der Bericht "Prevention of armed conflict" des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan an den UN-Sicherheitsrat von Juni 2001. Darin erweiterte er das Konzept der vorbeugenden Diplomatie um einen strukturellen Ansatz. Dieser ist auf die Bearbeitung der "tiefverwurzelten sozio-ökonomischen, kulturellen, umweltbezogenen, institutionellen und anderen strukturellen Ursachen" gerichtet, "die oft den unmittelbaren politischen Symptomen von Konflikten zugrunde liegen" (Annan 2001: 36).
In dem Bericht wurde eine Reihe von Prinzipien und Maßnahmen vorgeschlagen, durch die ein umfassender Wandel von einer "Kultur der Reaktion zu einer Kultur der Prävention" erreicht werden soll:
Einleitung präventiver Maßnahmen in einer frühestmöglichen Phase des Konflikts,
Förderung der Konfliktprävention und einer nachhaltigen, gerechten sozio-ökonomischen Entwicklung als "sich gegenseitig verstärkende Aktivitäten",
Stärkung der Mechanismen des Menschenrechtsschutzes,
Beachtung der Geschlechtergerechtigkeit und der besonderen Situation von Kindern,
mehr Transparenz in Bezug auf die Präsenz militärischer Einheiten in Konfliktgebieten sowie die Ausgaben für Militär und Rüstung,
Priorität für Maßnahmen auf dem Gebiet der Abrüstung, Demobilisierung und Reintegration ehemaliger Kämpfer in Friedensprozessen,
verbesserte Zusammenarbeit zwischen den UN-Institutionen sowie zwischen internationalen und subregionalen Organisationen, Regierungen, Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Weitere Fortschritte brachte die Abschlusserklärung "World Summit Outcome Document" des UN-Gipfels (September 2005). Sie stellte insbesondere die Weichen für die weitere Stärkung der völkerrechtlichen und institutionellen Grundlagen der Krisen- und Konfliktprävention:
die Gründung der UN Peacebuilding Commission,
die Vereinbarung über die Verantwortung der nationalen Regierungen für den Schutz ihrer Bürger vor systematischen Menschenrechtsverletzungen und die Pflicht der internationalen Gemeinschaft zu intervenieren, wenn Regierungen diese Verantwortung nicht wahrnehmen ("Schutzverantwortung"),
die Einrichtung des UN-Menschenrechtsrates (Human Rights Council),
die Schaffung des UN-Demokratiefonds (UN Democracy Fund – UNEF),
die Vereinbarung der Mitgliedsländer, deutlich mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit als eines der wirksamsten Instrumente der Krisen- und Konfliktprävention auszugeben.
Der Erklärung liegt ein umfassendes Verständnis von Prävention zugrunde, das sich nicht allein auf die Vorbeugung von krisenhaften und gewaltsamen Entwicklungen beschränkt. Es bezieht sich ausdrücklich auch darauf, im Verlauf heißer Konflikte weitere Gewalteskalationen zu verhindern und nach Friedensschlüssen wirksame Maßnahmen gegen den Rückfall in gewaltsame Auseinandersetzungen zu ergreifen.
Eine weitere Unterscheidung bezieht sich auf die Qualität und die Tragweite von Präventionsmaßnahmen. Der Fortschrittsbericht "Über die Prävention bewaffneter Konflikte" des UN-Generalsekretärs von Juli 2006 unterscheidet zum ersten Mal explizit zwischen drei Ebenen (Annan 2006: 5). Die operative Prävention entspricht dem Konzept der vorbeugenden Diplomatie. Typische Maßnahmen sind die Früherkennung von Gewaltkonflikten und die Bemühungen um eine rechtzeitige Verhandlungslösung. Ziel ist die Verhinderung des Ausbruchs von Gewalt und die damit einhergehenden menschlichen Opfer und materiellen Kosten.
Die strukturelle Prävention ist darauf gerichtet, dass eskalierte politische und soziale Konflikte, Umweltkrisen sowie von Menschen verursachte Naturkatastrophen gar nicht erst entstehen. Das schließt auch Maßnahmen ein, die sicherstellen sollen, dass einmal befriedete Gewaltkonflikte nicht erneut aufbrechen. Die systemische Prävention schließlich adressiert globale Risiken, deren Abwehr die Handlungsmöglichkeiten einzelner Staaten überschreitet. Gemeint sind u.a. der Handel mit Waren, wie Diamanten und Kleinwaffen, die Konflikte anheizen, die Verbreitung von Kern-, Chemie- und biologischen Waffen, Umweltzerstörungen, Epidemien (z.B. HIV/AIDS), Migration sowie Drogenanbau, Drogenhandel und Drogensucht.
Diskrepanz zwischen Rhetorik und Realität
Der politische Rückenwind für das Thema Prävention bewirkte Ende der 1990er und Anfang 2000er Jahre tatsächlich eine Aufbruchstimmung. In Teilen der politischen Eliten begann ein Sensibilisierungs- und Lernprozess. Ein Boom an Forschungsprojekten und wissenschaftlichen Veröffentlichungen setzte ein. Staatliche und Bildungseinrichtungen boten Ausbildungen u.a. zu Konfliktmediatoren, Wahlbeobachtern und Menschenrechtsmonitoren an. Wissenschaftliche Einrichtungen experimentierten mit dem Aufbau von Informationssystemen für Früherkennung und Frühwarnung von Konflikten (early warning). Private Agenturen erprobten neue Geschäftsmodelle, um z.B. Unternehmen in Ist-Zeit über die Konfliktentwicklung in Krisenländern zu informieren (vgl. Matthies 2010: 13 f.).
Die deutsche Bundesregierung beschloss im Mai 2004 einen "Aktionsplan Zivile Konfliktprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung". Ziel war es, Friedenspolitik und Krisenprävention nicht nur als Aufgabe der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, sondern als Querschnittsaufgabe des gesamten Regierungshandelns zu verstehen und umzusetzen. Das Dokument enthielt u.a. die Verpflichtung, dass "Krisenprävention in größerem Maße als bisher Eingang in die Wirtschafts-, Finanz- und Umweltpolitik finden" soll. Alle zwei Jahre wurde dem Bundestag ein Umsetzungsbericht vorgelegt. Innerhalb der UNO und auf der Ebene regionaler Organisationen (z.B. Europäische Union, Afrikanische Union) wurden Schritte eingeleitet, um Kapazitäten für eine wirksamere Prävention zu schaffen. Ein Beispiel ist das "Conflict Prevention Framework" der westafrikanischen ECOWAS, das seit 2008 aufgebaut wird.
Doch den politischen Statements folgten zu wenig Taten. Die Errichtung einer globalen und regionalen Infrastruktur für eine wirksame Krisen- und Konfliktprävention kam nicht zustande, und der erhoffte Durchbruch zu einer "Kultur der Prävention" blieb aus. Seit Mitte der 2000er Jahre rückte das Thema "Prävention" wieder in den Hintergrund. Die Zahl innerstaatlicher Konflikte schien nachhaltig rückläufig zu sein. Außerdem konzentrierten sich Politik, Sicherheitskräfte und Öffentlichkeit in den westlichen Staaten nach dem 11. September 2001 vor allem auf die Terrorabwehr und die von den USA und ihren Verbündeten entfachten "Anti-Terrorkriege" im Irak und in Afghanistan.
Die erneute massive Zunahme innerstaatlicher Konflikte seit Mitte der 2010er Jahre brachte das Thema zurück auf die internationale Agenda.
Ein neuer Anlauf
Als Reaktion startete die UNO 2014 eine Überprüfung ihrer Strategie und ihres Instrumentariums in den Bereichen Konfliktprävention, Friedenssicherung und Friedensförderung. Nach zwei hochrangigen Expertenberichten und einer internationalen Studie über die Umsetzung der Resolution 1325 des Sicherheitsrates "Frauen, Frieden, Sicherheit" verabschiedeten der UN-Sicherheitsrat und die Generalversammlung im Mai 2016 gleichlautende Resolutionen "Überprüfung der Architektur der Friedenskonsolidierung" (UN-Vollversammlung 2016). Darin wird die "Aufrechterhaltung des Friedens" als zentrales Anliegen der internationalen Staatengemeinschaft formuliert.
Die Resolution bekräftigt u.a. die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Vorgehens auf dem Gebiet der Prävention. Die aufgeführten Maßnahmen reichen von der Bearbeitung der tieferen Ursachen von Konflikten und der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene über die Förderung eines dauerhaften und nachhaltigen Wirtschaftswachstums, Armutsbeseitigung, soziale und nachhaltige Entwicklung bis hin zur nationalen Aussöhnung. Weitere Schwerpunkte sind der Zugang zu Justiz und Unrechtsaufarbeitung, gute Regierungsführung, Demokratie und rechenschaftspflichtige Institutionen, Gleichstellung der Geschlechter sowie Achtung und Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (ebd.).
Ob die von UN-Generalsekretär Antonio Guterres geforderten substanziellen Maßnahmen, wie etwa eine Reform der zuständigen UN-Strukturen, die Verbesserung der Handlungsfähigkeit der UNO in Krisengebieten sowie die Aufstockung der Mittel für die Peacebuilding Commission und den Peacebuilding Fund, von den Mitgliedsstaaten bewilligt und mitgetragen werden, bleibt abzuwarten (UNO 2018). Das Präventionsthema hat immerhin neuen Schwung bekommen. So hat die Weltbank Anfang 2018 gemeinsam mit der UNO eine Studie "Pathways for Peace" veröffentlicht, an der alle namhaften Friedens- und Konfliktforschungsinstitute mitgewirkt haben. Die Studie bildet den aktuellen Stand des Wissens und der Praxis auf dem Gebiet der Krisen- und Konfliktprävention ab und formuliert einen umfangreichen Katalog von Empfehlungen (UNO/Weltbank 2018).
In der Bundesrepublik wurden im Juni 2017 nach einem breiten Diskussionsprozess die Leitlinien der Bundesregierung "Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern" beschlossen. Sie lösen den "Aktionsplan Zivile Krisenprävention" aus dem Jahr 2004 ab und geben gemeinsam mit dem Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr (2016) und dem Entwicklungspolitischen Bericht (2017) einen Orientierungsrahmen für die Politik der Bundesregierung vor. Hervorzuheben ist die Formulierung eines explizit friedenspolitischen Leitbildes für die deutsch Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Wichtiger Bezugsrahmen dafür ist UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die ausdrücklich den wechselseitigen Zusammenhang von Frieden und Entwicklung formuliert (UN-Vollversammlung 2015).
Wie dies in konkrete Politik umgesetzt werden soll, dazu sagen die Leitlinien wenig. Kritische Stimmen aus der deutschen Friedensforschung schlagen z.B. vor, dass alle Ministerien überprüfen sollten, "inwieweit anstehende Entscheidungen dem Ziel der Krisenprävention zuwiderlaufen". Das betreffe nicht nur die Rüstungsexportpolitik, sondern auch die Außenwirtschafts-, Umwelt- und Klimapolitik oder den deutschen Einfluss auf EU-Verhandlungen über Handelsverträge. Stets sollte dazu ein "konfliktbezogenes Impact Assessment" durchgeführt werden (Wolff 2017).