Gewalt und Grausamkeit bewaffneter Konflikte überschreiten oft das, was Menschen individuell oder als Gemeinschaft psychisch und sozial verkraften und verarbeiten können. Große Teile der Bevölkerung erleben in Krisensituationen wiederholt schwere traumatische Ereignisse. Hinzu kommt die nachhaltige Zerstörung sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen und Strukturen, Armut und unzureichende gesundheitliche Versorgung. Die psychische Stabilisierung mit Hilfe von stress- und traumasensiblen Unterstützungsangeboten, psychosozialer Traumaarbeit und Selbsthilfegruppen schafft in der Zeit nach der Beendigung gewaltsamer Konflikte für viele Menschen überhaupt erst die Möglichkeit, sich aktiv an der friedensfördernden Bewältigung gesellschaftspolitischer Konflikte und dem gesellschaftlichen Wiederaufbau zu beteiligen.
Traumatisierung durch Gewalt im Konfliktkontext
Vergewaltigungen und Folter zu erleiden oder mit ansehen zu müssen, wie andere Menschen getötet werden, liegt jenseits "normaler" menschlicher Erfahrung. Es handelt sich um traumatische Ereignisse, die existenzielle Bedrohung und Todesangst auslösen. Weil der Körper in eine Art Notfallmodus umschaltet, greifen aufgrund des extremen (Überlebens-)Stresses die normalen Prozesse der Erfahrungsverarbeitung nicht mehr. In der Folge können Traumafolgereaktionen, wie Panikattacken, Depressionen, chronische Schmerzen, Schlafstörungen oder eine negative Veränderung der Selbst- und Weltsicht, das Leben der Betroffenen über Jahre hinweg dauerhaft beeinträchtigen. Dies ist umso wahrscheinlicher, als es sich meist nicht nur um einzelne traumatische Erlebnisse handelt, sondern um längere Traumatisierungsprozesse im Verlauf von Diktaturen und/oder länger andauernden bewaffneten Konflikten mit multiplen Gewalterfahrungen.
Dabei hängen die Verarbeitungsmöglichkeiten traumatischer Gewalterfahrungen elementar von den Hilfsangeboten und dem umsichtigen Handeln der Fachkräfte ab. Mit guter sozialer Anbindung, sicherem Umfeld und medizinischer Versorgung schaffen es viele Menschen, traumatische Erfahrungen zu bewältigen, ohne dass es zu langanhaltenden Beschwerden kommt, die ihren Alltag stark beeinträchtigen. Doch auch nach Kriegsende können Gewalterfahrungen, z.B. in der Familie und Partnerschaft, oder als bedrohlich wahrgenommene Situationen in Geflüchtetenlagern oder Polizeistationen, Befragungen in Gerichtsverfahren oder auch Untersuchungen in Kliniken zu erneuten Ohnmachtserfahrungen und Retraumatisierungen führen. Durch eine solche "sequentielle Traumatisierung"
Gleichzeitig ist es essenziell, keine rein klinische Perspektive einzunehmen und die Betroffenen nicht zu pathologisieren. Die psychischen und physischen Folgen von konfliktbedingter, auch geschlechterspezifischer Gewalt und politischer Repression müssen immer im Zusammenhang mit den konkreten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrachtet und behandelt werden, unter denen diese möglich wurden und entstanden sind. Das bedeutet zum Beispiel, dass auch die strukturellen und kontextspezifischen Ursachen und Ermöglichungsbedingungen systematischer politischer und geschlechtsspezifischer Gewalt Gegenstand der Konfliktnachsorge und der Aufarbeitung der Vergangenheit sein müssen.
Inwiefern traumatische Erlebnisse und Erfahrungen die Bewältigung des Lebensalltags, die Gesundheit und auch das Vertrauen in sich selbst und andere dauerhaft beeinträchtigen, hängt maßgeblich davon ab, wie diese gesellschaftlich und individuell bewertet und bearbeitet werden. Allzu oft bleiben die politischen Verantwortlichen für Gewalt und Folter auch nach dem Ende von Diktaturen und Bürgerkriegen in einflussreichen Positionen. Sie behindern sowohl die Aufarbeitung der Vergangenheit als auch die Überwindung politischer Strukturen und gesellschaftlicher Einstellungen, die die intersektionale Diskriminierung und Herabsetzung
Stress- und traumasensible Unterstützungsangebote
Die Frauenrechtsorganisation medica mondiale unterstützt durch die Förderung und den Aufbau von Frauenorganisationen seit mehr als 25 Jahren Frauen und Mädchen in Konflikt- und Postkonfliktregionen, die von sexualisierter oder anderen Formen geschlechterbasierter Gewalt betroffen sind. Bewährt hat sich dabei die Kombination von gemeindeorientierten und multi-sektoriellen Unterstützungsangeboten, die auf die Bedarfe von Gewalt betroffenen und oft traumatisierten Frauen an psychosozialer, medizinischer und rechtlicher Beratung, Schutz und solidarischer Begleitung eingehen. Schutznetzwerke in den Gemeinden engagieren sich für Aufklärung und Prävention, Aktivistinnen bieten solidarische Ersthilfe und schaffen einen niedrigschwelligen Zugang zu weiterführenden Hilfsangeboten.
medica mondiale hat zudem in enger Zusammenarbeit und basierend auf praktischen Erfahrungen mit Partnerorganisationen, u.a. aus dem Kosovo, Bosnien und Herzegowina, Afghanistan und Liberia, einen niedrigschwelligen Ansatz zur Unterstützung von Gewaltüberlebenden entwickelt, den STA – stress- und traumasensibler Ansatz®. Er wird in Fortbildungen geteilt und im jeweiligen professionellen und regionalen Kontext adaptiert und weiterentwickelt. Eine stress- und traumasensible Haltung und Praxis ermöglichen es, in unterschiedlichen Kontexten und Situationen, wie z.B. während medizinischer Untersuchungen oder bei Befragungen mit von Gewalt betroffenen Personen, zusätzlichen Stress zu vermeiden, einer Reaktivierung von Belastungsreaktionen vorzubeugen und auch in akuten Krisensituationen zur Stabilisierung beizutragen.
Die Grundprinzipien des STA – stress- und traumasensibler Ansatz® geben eine handlungsleitende Orientierung. Sie wirken den psychischen und sozialen Dynamiken entgegen, die durch existenziell bedrohliche traumatische Erfahrungen ausgelöst wurden, und tragen so auch zur Stabilisierung von Frauen und Mädchen bei, die sexualisierte oder geschlechterbasierte Gewalt erlebt haben:
Sicherheit vermitteln
Durch die Vermittlung von Sicherheit werden posttraumatischer Stress und Angst reduziert, um Menschen, denen Gewalt angetan wurde, zu stabilisieren und ihr Vertrauen in sich und andere zu stärken. Dies betrifft innere und äußere Sicherheit gleichermaßen. Innere Sicherheit zu fördern, kann beispielsweise bedeuten, sie dabei zu unterstützen, den eigenen Körper (mit seinen Empfindungen, Emotionen und Gedanken) wieder als sicheren Ort zu erleben und stärkende Beziehungen zu anderen Menschen zuzulassen. Äußere Sicherheit bezieht sich auf die Verhinderung äußerer Bedrohungssituationen und kann auf verschiedenen Ebenen gefördert werden: etwa durch die Schaffung sicherer Räume, durch transparente Kommunikation – und nicht zuletzt durch Schutzmaßnahmen vor Tätern oder Täterstrukturen auf gesellschaftlicher Ebene.
Solidarität und Verbindung fördern
Traumatische – und insbesondere sexualisierte – Gewalt führt für viele Menschen, die diese Erfahrung durchlebt haben, zu hochbelastenden Scham- und Schuldgefühlen, manchmal ein Leben lang. Sie machen zudem oft nach der erlittenen Gewalt die Erfahrung des Alleingelassen-Werdens, weil sich ihr Umfeld mit den hoch tabuisierten Erfahrungen nicht auseinandersetzt – und sie selbst aus Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung schweigen. Die logische Folge ist innere und äußere Isolation. Die Förderung von Solidarität und Verbindung wirkt der posttraumatischen Isolation entgegen und soll eine soziale Wieder-Teilhabe der Überlebenden an der Gemeinschaft und ihrer Gesellschaft ermöglichen. Mögliche Wege dahin sind die Anerkennung des Leids (Solidarität – in der persönlichen Begegnung, aber auch gesellschaftlich und politisch) und durch das Erleben von Verbundenheit – sowohl mit sich selbst als auch mit anderen (Verbindung).
Überlebende stärken (Empowerment)
Beim Grundprinzip Empowerment geht es darum, eine Gegenbewegung zur erlebten Gewalt und Unterdrückung zu ermöglichen. Empowerment im traumapsychologischen Kontext zielt darauf ab, dass Menschen, die durch Gewalt traumatisiert wurden, Autonomie und ein Gefühl der Kontrolle über die eigene Situation und das eigene Leben (zurück-)erlangen und nimmt deshalb eine zentrale Rolle bei der Traumaverarbeitung und -integration ein. Das bedeutet beispielsweise, in der unterstützenden Begleitung oder auch bei Gesundheitsdienstleistungen Entscheidungsmöglichkeiten und verschiedene Optionen anzubieten, sodass Personen, die beraten oder behandelt werden, informierte und selbstbestimmte Entscheidungen treffen können.
Personal- und Selbstfürsorge etablieren
Aktivistinnen und Aktivisten sowie Fach- und Führungskräfte, die mit von Gewalt betroffenen Menschen arbeiten, sind vielfältigen Belastungen ausgesetzt, die ihre psychosoziale Stabilität beeinträchtigen können. Sie können selbst indirekt traumatisiert werden oder auch eine Mitgefühlserschöpfung entwickeln, was sich u.a. in Schlafstörungen, hoher Reizbarkeit, Vertrauensverlust in sich und andere, Entwicklung einer negativen Weltsicht ausdrücken kann. Oft kommt es in der Folge auch zu Spannungen und Konflikten, die ganze Organisationen oder Teams destabilisieren. Deshalb ist es wichtig Organisationen darin zu unterstützen, Konzepte zur Personalfürsorge zu entwickeln. Dabei gilt es, eine Arbeitskultur zu fördern, die Maßnahmen zur Selbstfürsorge ermöglicht und den negativen Auswirkungen von Stress- und Traumadynamiken vorbeugt. medica mondiale hat dazu das Konzept "Achtsame Organisationskultur©"
Auf verschiedenen Ebenen ansetzen
medica mondiale verfolgt in der Zusammenarbeit mit ihren Partnerorganisationen in den Schwerpunktregionen, wie Südosteuropa, Große Seen Afrikas, Westafrika, Irak-Kurdistan und Afghanistan, die Umsetzung eines Mehrebenen-Ansatzes.