Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Libanon | Kriege und Konflikte | bpb.de

Kriege und Konflikte Geschichte, Definition, Tendenzen Einführung: Paradigmenwechsel im Umgang mit gewaltsamen Konflikten? Definition von Konflikten Ethnopolitische Konflikte Konflikte und Klimawandel ­Formen und Typen von Konflikten Konzepte und Methoden Ideologie und Konflikt Religionskonflikte Ressourcenkonflikte Geschichte innerstaatlicher Konflikte Innerstaatliche Kriege seit 1945 Innerstaatliche Konflikte seit 1989 Internationale Politik Einführung: Zwischen Interessenpolitik und Peacebuilding Die Politik der USA gegenüber innerstaatlichen und regionalen Konflikten Russland und innerstaatliche Konflikte Deutschlands Interessen, Strategien und Politik im Umgang mit innerstaatlichen Konflikten UNO Regionalorganisationen EU und innerstaatliche Konflikte Völkerrecht Zivilgesellschaftliche Akteure Krise des Multilateralismus Handlungsmöglichkeiten der internationalen Gemeinschaft Konflikte seit 1990 Fragile Staatlichkeit Veränderte Konflikte Friedensmissionen Themengrafik: Der Internationale Strafgerichtshof Konfliktporträts Einführung Afghanistan Ägypten Äthiopien Algerien Berg-Karabach Birma/Myanmar Burkina Faso Burundi China - Tibet China - Xinjiang El Salvador Georgien Haiti Honduras Indien ­Irak ­Jemen Kamerun Kaschmir Kongo Kurdenkonflikt Libanon Libyen Mali Mexiko Nahost Nigeria Nordkaukasus Pakistan Philippinen - Bangsamoro Simbabwe Somalia Sudan Südsudan Süd-Thailand Syrien Tadschikistan Tschad Tunesien Ukraine Venezuela Zentralafrikanische Republik Konfliktbearbeitung Einführung Bildungsarbeit und Friedenserziehung Demokratisierung Entwicklungszusammenarbeit Evaluierung von Friedensprozessen Geheimdienste Gendersensible Konfliktbearbeitung Identitätsarbeit und -politik Institutionenaufbau Konfliktsensibler Journalismus Menschenrechtsarbeit Militärische Interventionen Nothilfe Prävention Reformen im Sicherheitssektor Sanktionen Schutzbegleitung Traumaarbeit Vergangenheitsarbeit Verhandlungen Versöhnung Ziviler Friedensdienst Friedensprozesse in Post-Konfliktgesellschaften Einführung: Friedensförderung in Zeiten des Weltordnungskonflikts Friedenskonsolidierung Aceh Baskenland Bosnien-Herzegowina Guatemala Kambodscha ­Kolumbien ­Kosovo ­Nordmazedonien Mosambik Namibia Nicaragua Nordirland Nord-Uganda Sierra Leone Südafrika Analysen Sahel-Zone: Deutschland und die EU Sahel: Ursachen der Gewalteskalation Sahel: Implikationen und Folgen der Corona-Krise Die Türkei im Nahen Osten "Neue Türkei" – neue Außen- und Nahost-Politik? Der regionale Aufstieg der Kurden Regionale Brennpunkte Post-sowjetischer Raum Meinung: Deutsch-ukrainische Beziehungen im Schatten Moskaus Standpunkt: Nur Gegenmachtbildung zähmt revisionistische Mächte Standpunkt: Neutralität als Option Standpunkt: Hätte der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine verhindert werden können? Ukraine-Krieg: Szenarien Netzwerke im postsowjetischen Raum Verschleppte Konflikte und hybride Staatlichkeit Historische Ursachen und Hintergründe Russland als dominante Regionalmacht Der Einfluss externer Mächte Mittelamerika Mittelamerika: regionale Akteure Mittelamerika: Konfliktursachen Mittelamerika: Regionale Ansätze der Konfliktbearbeitung und -lösung Mittelamerika: Einfluss und Rolle der organisierten Kriminalität Nördliches Afrika Regionale Ansätze für eine konstruktive Konfliktbearbeitung und -lösung Einfluss und Rolle des Islamismus Regionale Zusammenhänge und Wechselwirkungen aus historischer Perspektive Geostrategische, politische und sozio-ökonomische Interessen und Strategien regionaler Akteure Zentralasiatische Region Geostrategische, politische und sozio-ökonomische Interessen und Strategien regionaler Akteure Historische Ursachen und Hintergründe der regionalen Konflikte Einfluss und Rolle des Islamismus Arabischer Raum Einfluss und Rolle des Islamismus und dschihadistischen Terrorismus Geostrategische, politische und sozio-ökonomische Interessen und Strategien regionaler Akteure Regionale Konflikte aus historischer Perspektive Der Syrien-Konflikt und die Regionalmächte Ursachen und Hintergründe der Krisen und Umbrüche in der arabischen Welt Krisen und ihre Folgen Debatten Meinung: Föderative Strukturen in einem israelisch-palästinensischen Staatenbund sind die bessere Alternative Meinung: Die Zweistaatenlösung nicht vorschnell über Bord werfen Meinung: Das Völkerrecht und der Berg-Karabach-Konflikt Meinung: Berg-Karabach und die Grenzen des Selbstbestimmungsrechts Meinung: Die Afghanistan-Mission des Westens - vermeidbares Scheitern? Meinung: Afghanistan – Mission 2001 – 2021: Vermeidbares Scheitern? Meinung: Die Kurden: Partner – und Opfer westlicher Großmachtsinteressen Meinung: Die Kurden in Syrien – wie immer zwischen allen Stühlen Meinung: Managen, was nicht lösbar ist – Zum Umgang mit vertrackten Konflikten Meinung: Krisen dulden keinen Aufschub – auf die richtigen Instrumente kommt es an Meinung: Der Westen trägt eine Mitverantwortung für die Ukraine-Krise Meinung: Die Ukraine-Krise hätte verhindert werden können Meinung: Staatsaufbau in Afghanistan. Das Ende der Illusionen? Meinung: Die NATO in Afghanistan. Erst politisch gescheitert, dann militärisch verloren Meinung: Reden allein bringt Syrien nicht weiter. Die Passivität des Westens lässt Syrien explodieren Meinung: Eine politische Lösung in Syrien ist in Sicht – aber keine Selbstverständlichkeit Meinung: Der Mali-Konflikt - nicht nur ein Sicherheitsproblem im Norden! Meinung: Möglichkeiten und Grenzen der Krisenprävention – das Beispiel Mali Meinung: Mexiko, Nigeria, Pakistan – Staatszerfall ganz neuen Ausmaßes? Meinung: "Schwellenländer" – Wachstum als Konfliktursache? Meinung: Die NATO-Intervention gegen das Gaddafi-Regime war illegitim Meinung: Militärische Intervention in Libyen ist grundsätzlich zu begrüßen Meinung: Das Engagement der EU im Sahel nach dem Scheitern in Afghanistan Meinung: Zeit für einen Strategiewechsel in Mali und im Sahel? Glossar Redaktion

Libanon

Valentina Finckenstein Valentina von Finckenstein

/ 10 Minuten zu lesen

Der Libanon kämpft mit einer Wirtschaftskrise, die von der Weltbank als eine der weltweit schwersten seit Mitte des 19. Jahrhunderts eingestuft wird. Während große Teile der Bevölkerung weiter in die Armut abrutschen, mehreren sich nach dem Staatsbankrott im März 2020 die Anzeichen für einen Staatszerfall.

Demonstrierende werfen bei Protesten gegen die Regierung Steine auf Polizisten. Im Libanon, der lange als "Schweiz des Nahen Ostens" bezeichnet wurde, mehren sich die Anzeichen für einen Staatszerfall. (© picture-alliance/AP, Bilal Hussein)

Aktuelle Situation

Am 4. August 2020 erschütterte eine gewaltige Explosion die libanesische Hauptstadt Beirut. Die Detonation von 2.750 Tonnen unvorschriftsmäßig gelagertem Ammoniumnitrat kostete über 200 Menschen das Leben, mehr als 6.500 Menschen wurden verletzt und 300.000 verloren ihr Zuhause. Die Katastrophe im Hafen von Beirut offenbarte ein bestürzendes Ausmaß an Nachlässigkeit der Behörden und der Regierung: Sowohl der Präsident als auch hochrangige Hafenbeamte wussten von der Lagerung der hoch gefährlichen Stoffe.

Die Explosion ist das Symptom einer vielschichtigen politischen und wirtschaftlichen Krise: Wachsende Armut geht zusammen mit einem rapiden Währungsverfall, zivilen Unruhen und einer chronischen Regierungskrise. Die omnipräsente Korruption durchzieht alle Sektoren und zehrt ein Land aus, das mit seiner gut ausgebildeten Bevölkerung eigentlich günstige Ausgangsbedingungen für eine prosperierende Entwicklung besitzt. Schätzungen zufolge sind inzwischen über 45 % der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos und mehr als die Hälfte lebt unter der Armutsgrenze. Die Infrastruktur wurde über Jahrzehnte vernachlässigt. Es gibt kein öffentliches Verkehrssystem, keine funktionierende Abfallentsorgung und die staatlichen Elektrizitätswerke liefern nur wenige Stunden pro Tag Strom. Das bringt fatale Folgen mit sich -– inzwischen kann aufgrund fehlender Elektrizität nicht mehr ausreichend Wasser aus dem Grundwasser hochgepumpt werden, Krankenhäuser können lediglich mit begrenzter Kapazität arbeiten, und kontinuierlich unterbrochene Kühlketten lassen die Lebensmittelqualität auf ein tiefes Niveau absacken.

Als Nordafrika und der Nahe Osten Anfang 2011 vom "Arabischen Frühling" erfasst wurden, regte sich im Libanon noch vergleichsweise wenig. Doch heute, ein Jahrzehnt später, tritt das marode Fundament der libanesischen Wirtschaft und Politik umso deutlich zutage. Im Oktober 2019 brachte die Ankündigung einer neuen Steuer das Fass zum Überlaufen. Die Steuererhöhung löste die sogenannte "Thawra" (Revolution) aus. In landesweiten Protesten prangerten zehntausende Demonstranten die Misswirtschaft und das Versagen der politischen und wirtschaftlichen Eliten an.

Als Premierminister Saad Hariri sich dem Druck der Proteste beugte und zurücktrat, waren die Hoffnung auf tiefgreifende Reformen hoch. Doch seither hat sich wenig getan: Das Land befindet sich in einer beispiellosen Abwärtsspirale. Zwei designierte Nachfolger, Hassan Diab und Mustapha Adib, scheiterten an den Machtspielen der konfessionellen Parteien. Nach langem politischem Tauziehen wurde Hariri im Oktober 2020 erneut zum Premierminister ernannt – und warf neun Monaten im Juli 2021 wieder das Handtuch. Nun führt Najib Miqati, der bereits zweimal zuvor das Amt des Premiers innehielt, seit September 2021 erneut das Land – die Hoffnungen auf Wandel halten sich mit Blick auf das endemisch korrupte System jedoch in Grenzen.

Die inneren Konflikte im Libanon werden durch die Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran um die regionale Vorherrschaft im Nahen Osten zusätzlich angeheizt. Auch der Bürgerkrieg in Syrien wirkt destabilisierend. Mit dem Ausbleiben einer politischen Lösung im Nachbarland ist eine Rückführung der über 1,5 Mio. Flüchtlinge nach wie vor nicht in Sicht. Hinzu kommen ca. 500.000 palästinensische Flüchtlinge, die infolge des Israel-Palästina-Konfliktes in den Libanon flohen. Kein Land auf der Welt hat im Vergleich zu seiner Einwohnerzahl (ca. 6,8 Mio.) so viele Flüchtlinge aufgenommen wie der Libanon. In den Flüchtlingscamps haben sich zum Teil parallele Sicherheitsstrukturen mit bewaffneten Milizen entwickelt, die sich der Kontrolle des Staates und der Polizei entziehen.

Ursachen und Hintergründe

Eine wichtige Ursache für die politische Lähmung und Zerrissenheit besteht seit den Gründungsjahren des libanesischen Staates im "Nationalen Pakt" (1943). Um die Machtverteilung zu garantieren, einigten sich die verschiedenen Religionsgruppen darauf, Staatsämter und Parlamentssitze nach einem Proporzsystem aufzuteilen. Grundlage dafür ist die Volkszählung aus dem Jahre 1932 – in dem Bestreben, den sensiblen Kompromiss nicht zu gefährden, blieb sie die letzte Zählung im Libanon. Reformvorstöße versanden seitdem regelmäßig, weil sich die relevanten Parteien gegenseitig blockieren. Gleichzeitig behindert die konfessionelle Gliederung der politischen Institutionen die Entstehung einer übergreifenden nationalen Identität.

Ein großer Streitpunkt liegt in der Verteilung der Ressourcen, die im Zuge der Wirtschaftskrise immer weiter ausdünnen. Im März 2020 musste der libanesische Staat zum ersten Mal in seiner Geschichte den Staatsbankrott erklären. Der Staat ist nicht mehr in der Lage, seine Schulden zu bedienen. Er verfügt kaum noch über die Fremdwährungseinlagen für lebensnotwendige Importe, wie Benzin, Nahrungsmittel und Medikamente. Durch die Inflation hat die Währung mehr als 90 % ihres Wertes verloren; die Einkommen und Lebensersparnisse vieler Menschen wurden vernichtet. Der Libanon rangiert neben Afghanistan, Jemen und Äthiopien unter den zehn Ländern mit den niedrigsten Löhnen. Der Zusammenbruch wird von der Weltbank zu den drei schwersten Wirtschaftskrisen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gezählt.

An die Stelle des ausblutenden Staates und der kollabierenden Wirtschaft treten die politischen Parteien. Sie versuchen, ihre zunehmend frustrierten Anhänger und Wähler weiterhin mit Jobs, sozialen Dienstleistungen und finanziellen Hilfen an sich zu binden. Wo es kaum einen Sozialstaat gibt, ist das ein mächtiger Hebel der Einflussnahme. Soziale und ökonomische Verteilungskämpfe in der Politik sind damit immer auch konfessionelle Auseinandersetzungen. Sie wirken tief in die Bevölkerung hinein und bieten den Ressentiments und Rivalitäten zwischen den verschiedenen Gemeinschaften einen fruchtbaren Nährboden.

Die Ausplünderung der öffentlichen Ressourcen durch die Parteien untergräbt zunehmend die staatliche Autorität, die nationale Wirtschaft und die innere Sicherheit. Im Libanon, der lange als "Schweiz des Nahen Ostens" bezeichnet wurde, mehren sich die Anzeichen für einen Staatszerfall. Damit wächst die Gefahr, dass – wie schon mehrfach in der Geschichte des Landes – Ängste vor dem Übergewicht anderer konfessioneller Gruppen in bewaffnete Auseinandersetzungen ausarten.

Flüchtlinge und Religionen im Libanon 2018
Interner Link: Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Ein Blick in die Region offenbart eine zusätzliche Dimension des Konfliktes: Regionalmächte unterhalten zu den mit ihnen verbündeten libanesischen Parteien und Gemeinschaften enge Beziehungen und sichern sich so erheblichen Einfluss auf die Politik des Landes. Die schiitische Hisbollah, die sich als Widerstands-Bewegung gegen die israelische Besatzung entwickelte, erhält z.B. wesentliche materielle und politische Unterstützung aus dem Iran. Die libanesischen Kämpfer der Hisbollah sind unter anderem auch in Syrien im Einsatz, wo sie das Assad-Regime gegen die sunnitischen Rebellen unterstützen. Dafür wurden sie von Damaskus und Teheran massiv aufgerüstet.

Saudi-Arabien betrachtet den wachsenden Einfluss der Hisbollah, und damit des Iran, mit Misstrauen und Ablehnung. Riad hat als Investor und politischer Partner eine relevante Wirkungsmacht im Libanon und in dessen sunnitischer Gemeinschaft. Der langjährige Premierminister, Saad Hariri, versucht seine engen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Saudi-Arabien zu erhalten – doch die Stimmung ist angesichts der politischen Deals mit Hisbollah abgekühlt. Im Jahre 2017 wurde Hariri sogar im saudischen Königreich festgehalten und vorübergehend zum Rücktritt gezwungen.

Auch Israel sieht die Hisbollah als Gefahr für die eigene Sicherheit und greift regelmäßig deren Infrastruktur bzw. Kämpfer an. Der letzte größere militärische Konflikt im Sommer 2006 führte im Libanon zu tiefgreifenden innenpolitischen Spannungen und löste eine Verfassungskrise aus. Der Waffenstillstand schrieb die Entwaffnung der Hisbollah sowie die Achtung der territorialen Integrität des Libanon vor. Beide Verpflichtungen werden von den Konfliktparteien bis heute nicht eingehalten. Der UN-Friedenseinsatz UNIFIL versucht indessen, das Konfliktpotenzial zu entschärfen und die Einhaltung der UN-Resolutionen zu überwachen.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Das Taïf-Friedensabkommen vom 22. Oktober 1989, das den 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg (1975-1990) beendete, war eine wichtige Grundlage für die Überwindung des Konfliktes und der Konsolidierung des inneren Friedens. Das Abkommen, das integraler Bestandteil der libanesischen Verfassung ist, enthält das Einverständnis und die Verpflichtung der ehemaligen Konfliktparteien, die Souveränität und das Gewaltmonopol des Staates auf dem gesamten Territorium wiederherzustellen. Dazu gehören auch die Entwaffnung und Auflösung aller Milizen.

Außerdem einigten sich die Vertragspartner auf das "grundlegende nationale Ziel", das konfessionelle Proporzsystem schrittweise abzuschaffen. Mit Ausnahme der höchsten Regierungsämter sollten Stellen im öffentlichen Dienst, in Justiz, Militär und Sicherheit künftig nach Kompetenz und Spezialisierung und nicht nach konfessioneller Zugehörigkeit besetzt werden. Vereinbart wurden außerdem eine Reform des Wahlgesetzes, die Schaffung neuer gemeinsamer Institutionen und eine stärkere Dezentralisierung. Damit sollte eine gerechtere Vertretung und Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen auf nationaler und lokaler Ebene erreicht werden.

Doch die meisten dieser Reformen wurden nie umgesetzt. Traditionelle politische Führer, ebenso wie ehemalige Warlords, hatten kein Interesse, ihre Machtbasis aufzugeben. So ist die Entwaffnung der Hisbollah nie erfolgt. Ihre Milizen kontrollieren bis heute Teile von Beirut und des Landes. Der konfessionelle Proporz wurde nur geringfügig zugunsten der muslimischen Gruppen korrigiert. Für die Sitzverteilung zwischen christlichen und muslimischen Parteien im Parlament gilt nun eine 50:50-Parität. Die Befugnisse des Präsidentenamts, das von einem christlichen Maroniten besetzt werden muss, wurden zugunsten des Premierministers und des Parlamentspräsidenten eingeschränkt. Das Amt des Regierungschefs ist einem sunnitischen und das des Parlamentspräsidenten einem schiitischen Muslim vorbehalten.

Die strukturellen Ursachen, die zum Bürgerkrieg führten, sind bis heute nicht überwunden. Dank eines Amnestiegesetzes aus dem Jahre 1991, das einen Großteil der begangenen Straftaten aus dem Bürgerkrieg straffrei stellte, haben ehemalige Kriegsherren bis heute einflussreiche politische Positionen inne. Auch eine gemeinsame, nationale Aufarbeitung der Bürgerkriegsvergangenheit in der Öffentlichkeit und an Schulen fand nie statt. Stattdessen verstärkt die durch Erziehung geförderte selektive Erinnerung an erlittenes Unrecht die Identifikation mit der eigenen Religionsgemeinschaft. In den Elternhäusern finden die Nachkriegsgenerationen nur bedingt Antworten – jede Konfession und jede Partei berichtet über den Krieg aus ihrer Perspektive. Das Fehlen eines gemeinsamen Verständnisses der Geschichte des Landes untergräbt den Zusammenhalt und vertieft das Misstrauen zwischen den ehemaligen Konfliktparteien.

Angesichts der verheerenden Finanz- und Wirtschaftskrise richtet sich der Fokus der Reformvorschläge derzeit hauptsächlich auf die Restrukturierung des Finanz- und Bankensektors. Dafür muss ein interner Konsens über die Herangehensweise sichergestellt werden, der alle Interessengruppen einschließt. Einen Umbau des Wirtschaftssystems wird es nicht ohne Verhandlungen und Kreditaufnahme mit dem Internationalen Währungsfonds geben können. Jegliche Bemühungen auf diesem Gebiet sind jedoch bislang aufgrund der politischen Blockaden gescheitert.

Während in der Vergangenheit externe Mächte im Libanon um Einfluss rangen, indem sie durch Investitionen und Entwicklungsprojekte ihre Verbündeten vor Ort unterstützten, ist inzwischen eine Ermüdung eingetreten. Die dutzenden Hilfskonferenzen, auf denen Milliarden-Beträge für das Land versprochen wurden, stehen im krassen Gegensatz zu den kümmerlichen Beträgen, die tatsächlich konstruktiv in die Entwicklung des Landes investiert wurden. Nach der Explosion im Beiruter Hafen wurde unter Emmanuel Macrons Führung mit einer internationalen Hilfskonferenz ein erneuter Versuch unternommen. Doch das ambitionierte Reform- und Investitionsprogramm verlief schnell wieder im Sande. Zum Jahrestag der Explosion 2021 unternahm der französische Präsident einen weiterer Anlauf.

Die seit 2015 erstarkende Oppositionsbewegungen könnten das verkrustete politische Gerüst des Zedernstaats ins Wanken bringen. Ihre Forderungen kreisen um die Abschaffung des konfessionellen Systems: eine technokratische Regierung, unabhängige Justiz, effektive Korruptionsbekämpfung und ein funktionierender Sozialstaat.

Geschichte des Konflikts

Am Ende des Ersten Weltkriegs strebten vor allem die katholischen Maroniten die Bildung eines eigenständigen, christlich dominierten Libanon an. Sie fanden Unterstützung bei ihrer traditionellen Schutzmacht Frankreich, die die ehemalige osmanische Provinz Syrien als Mandatsmacht im Auftrag des Völkerbundes kontrollierte. Viele Muslime lehnten zunächst den 1920 gegründeten Staat ab und plädierten für den Verbleib bei Syrien oder für einen panarabischen Einheitsstaat. Erst im antikolonialen Befreiungskampf der 1940er Jahre fanden christliche und muslimische Politiker und Parteien zu einem Kompromiss, der die Teilung der politischen Macht zwischen Christen und Muslimen und die Verpflichtung auf Libanon als unabhängige Nation vorsah.

Doch die Rivalität um die Macht im Staate setzte sich fort. Während die libanesischen Christen ihre privilegierte Position durch Bündnisse mit nicht-arabischen Mächten (v.a. Frankreich, USA und Israel) zu sichern hofften, bemühten sich die libanesischen Muslime um eine enge Einbettung in die arabisch-muslimische Region. Seither vergrößert sich der Anteil der muslimischen Bevölkerung stetig. Eine erste Zäsur war die Ankunft großer palästinensischer Flüchtlingsströme, die im Zuge des Arabisch-Israelischen Krieges (1947-49) aus ihren Städten und Dörfern vertrieben wurden und u.a. in den Libanon flüchteten.

Um das Übergewicht der Christen in den politischen Institutionen zu neutralisieren, schlossen die muslimischen Parteien Anfang der 1970er Jahre ein Bündnis mit der PLO, die in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon über einen starken Rückhalt verfügte. Die sich aufschaukelnden Spannungen entluden sich in einem Bürgerkrieg. Als Auslöser gilt der 13. April 1975. Nachdem Unbekannte vor einer Kirche in Beirut mehrere Anhänger der christlichen Phalange getötet hatten, massakrierten christliche Milizen 27 überwiegend palästinensische Fahrgäste in einem Bus. Im Verlauf des Bürgerkrieges wechselten Gefechtsfronten und Bündnisse rasch. Selbst innerhalb der konfessionellen Gruppen kam es zu Kämpfen.

Das militärische Eingreifen, insbesondere Israels und Syriens, aber auch der USA und Frankreichs, goss zusätzlich Öl ins Feuer. Israel marschierte zweimal (1978 und 1982) in den Südlibanon ein, errichtete eine Besatzungszone und unterstützte die christliche "Südlibanesische Armee" (SLA), insbesondere gegen die PLO. Syrien griff im Mai 1976 unter dem Vorwand ein, zwischen den Bürgerkriegsparteien vermitteln und schlichten zu wollen. Im Laufe des Krieges entwickelte sich Damaskus mit einer massiven Präsenz von bis zu 40.000 Militärs zur Schutzmacht der muslimischen Parteien und Milizen. Die vernichtende Niederlage der Christen im "Befreiungskrieg gegen die Syrer" bereitete den Boden für Friedensverhandlungen.

Weitere Inhalte

ist seit 2019 Programm-Koordinatorin und wissenschaftliche Referentin für die Konrad Adenauer Stiftung in Beirut. Sie ist für das Portfolio Sicherheit, Konflikt und Wirtschaft zuständig und betreut unterschiedliche Projekte, die gemeinsam mit dem Militär, staatlichen Institutionen und der Zivilgesellschaft implementiert werden. Sie ist darüber hinaus ein Associate des außenpolitischen Think Tanks der London School of Economics und befasst sich in ihren Publikationen mit den Themenfeldern internationale Kooperation, Entwicklungshilfe und Konfliktdynamiken in der Levante. Vor ihrem Einsatz in Beirut war sie in verschiedenen Think Tanks und im Europäischen Parlament tätig.