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China - Xinjiang | Kriege und Konflikte | bpb.de

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China - Xinjiang

Kristin Shi-Kupfer Joana-Lorina Hilgert

/ 8 Minuten zu lesen

Zwar scheint die Phase der Internierung großer Teile der muslimischen Bevölkerungsgruppen in der autonomen Region Xinjiang beendet. Doch Peking unterdrückt weiterhin systematisch die Rechte und die Identität der Uiguren und anderer muslimischer Minderheiten.

Uiguren und Sympathisanten demonstrieren gegen die Unterdrückung der Uiguren durch die chinesische Regierung. (© picture-alliance/AP, Remko de Waal)

Aktuelle Situation

Die chinesische Regierung erklärt seit 2019, „bemerkenswerte Ergebnisse“ mit der Einrichtung von „Zentren für Berufsausbildung und -training“ im Kampf gegen den „Extremismus“ und für eine „bessere Qualität“ der „Auszubildenden“ erreicht zu haben. In den online zugänglichen Regierungsberichten für die autonome Region für die Jahre 2022, 2023 und 2024 werden statistische Angabe zu beruflichen Fortbildungsmaßnahmen (jeweils rund 2,2 Mio. Absolventen) im Kontext des „Existenzerhalts und der -verbesserung der Bevölkerung“ veröffentlicht.

Laut internationalen Medienrecherchen aus dem Frühjahr 2024 wurden in der Tat inzwischen einige Internierungslager geschlossen, andere aber in Gefängnisse umgewandelt. Zugleich berichten Menschenrechtsgruppen und Aktivisten von zahlreichen Fällen, in denen Familienangehörige nicht entlassen wurden bzw. weiterhin vermisst werden.

Der im Dezember 2021 ernannte neue Parteichef in Xinjiang, Ma Xingrui, hat im Februar 2024 die Religionsausübung in Xinjiang weiter eingeschränkt. Ma konkretisierte die landesweit geltenden Richtlinien und schaffte damit die Grundlage für die Verschärfung der bereits laufenden Praktiken zu „Sinisierung“ der Religion. So müssen u.a. Moscheen architektonisch „chinesische Charakteristika“ aufweisen und Gläubige „sozialistische Kernwerte praktizieren“. Auch wurden hunderte Dörfer umbenannt, deren Namen für Uiguren eine religiöse, historische oder kulturelle Bedeutung haben.

International ist das Thema „Zwangsarbeit“ in Xinjiang stärker in den Blickpunkt gerückt. Nach dem Besuch einer UN-Menschenrechtsdelegation im Juni 2024 konstatierte ein Sprecher des Hohen Kommissars für Menschenrechte, dass „viele problematische Gesetze und politische Praktiken weiterhin existieren“. Das Büro des Hohen Kommissars hatte bereits nach einem Aufenthalt in Xinjiang Ende August 2022 ein 46-seitigen Bericht veröffentlicht, welcher „schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen“, wie „Masseninhaftierungen und Folter“ in Xinjiang dokumentiert. Laut der damaligen UN-Menschenrechtskommissarin, Michelle Bachelet, hatte Chinas Regierung zunächst versucht, die Veröffentlichung zu unterbinden. Sie wurde dabei von verbündeten und abhängigen Staaten unterstützt.

Inzwischen nimmt auch im wirtschaftlichen Bereich der Druck auf die chinesische Führung zu. Im Frühjahr 2024 hat die Europäische Union im Nachgang zur Verschärfung der Xinjiang betreffenden Regularien der US-Regierung auch ihrerseits ein Verbot von Produkten auf dem europäischen Binnenmarkt auf den Weg gebracht, die mit Zwangsarbeit in oder außerhalb der EU hergestellt wurden (EU Forced Labour Regulation). Große europäische Unternehmen, wie z.B. BASF, haben zu Beginn des Jahres 2024 angekündigt, sich aus Joint Ventures in der Region zurückzuziehen. VW geriet wegen Mängel in seinem Untersuchungsbericht zur Zwangsarbeit in Xinjiang in die Kritik.

Ursachen und Hintergründe

Wie in Tibet sind die Konflikte in Xinjiang durch ethno-politische Gegensätze bestimmt. Konkret treffen wachsende Religiosität und Autonomiebestrebungen unter Uiguren und die rigide Kontrollpolitik Pekings aufeinander. Jegliche Infragestellung der territorialen Zugehörigkeit Xinjiangs zu China ist aus Sicht der Regierung in Peking sowohl geopolitisch als auch wirtschaftlich inakzeptabel. Zudem will die chinesische Regierung jegliche Formen von Netzwerkbildung innerhalb der Region, aber auch transnational mit anderen Turkvölkern oder Muslimen unbedingt verhindern. Xinjiang grenzt an acht andere Länder: Afghanistan, Indien, Kirgisien, Kasachstan, Mongolei, Pakistan, Russland und Tadschikistan. In der autonomen Region befinden sich ein Großteil der kontinentalen Öl- und Gasreserven Chinas. Zudem ist Xinjiang essentieller Ausgangspunkt und Baustein der von Partei- und Staatschef Xi Jinping geplanten „Neuen Seidenstraße“ („One belt, one road“), über die Chinas Güter, Standards und Einfluss via Zentralasien u.a. bis nach Europa transportiert werden sollen.

Die uigurische Bevölkerung profitiert aufgrund ethnischer Diskriminierung, schlechteren Hochchinesisch-Kenntnissen und ungleichen Zugangs zu Bildungs- und Kapitalressourcen sehr viel weniger von der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Region und des gesamten Landes als die sich zunehmend in Xinjiang ansiedelnden Han-Chinesen. Uiguren sind durch das offizielle beförderte Narrativ von potenziellen Gewalttätern und Terroristen pauschalem Misstrauen sowie Diskriminierung ausgesetzt. Skandalisierende Medienberichte über Verhaftungen von Uiguren im Ausland und Verbindungen zu unterschiedlichen internationalen Terrornetzwerken (dem sogenannten Islamischen Staat (IS) oder der Islamischen Turkestan-Partei (Turkistan Islamic Party – TIP) haben den Konflikt zusätzlich verschärft.

Die letzten Protestaktionen und gewaltsamen Anschläge liegen etwa zehn Jahre zurück. Zuletzt hatte 2014 und 2015 eine Reihe von terroristischen Attacken an verschiedenen Orten Chinas gegen Behörden und Zivilisten stattgefunden. Der größte Anschlag erfolgte am 1. März 2014 am Bahnhof von Kunming in der Provinz Yunnan. Er forderte 34 Tote. Auch der IS hat nach der Hinrichtung einer chinesischen Geisel und Propagandavideos mit China als Zielscheibe Ende 2015 keine weiteren Drohsignale mehr gesendet oder Anschläge verübt, die mit einiger Sicherheit seinen Mitgliedern bzw. Netzwerken zugeschrieben werden könnten.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Die Vorstellungen beider Konfliktparteien über Lösungsansätze liegen weit auseinander. Der 2004 aus verschiedenen Gruppen gegründete Weltkongress der Uiguren mit Sitz in München setzt sich für das Ende der „Besetzung“ der Region durch China und das Recht auf politische Selbstbestimmung in Xinjiang ein, welches sie „Ostturkistan“ nennen. Die Bezeichnung bezieht sich auf die traditionell von Turkvölkern besiedelte Region „Turkestan“, zu der neben Xinjiang die meisten heutigen zentralasiatischen Republiken sowie große Teile Afghanistans gehören. Die Berechtigung der Forderungen nach einem eigenen Staat wird historisch von der Existenz uigurischer Staatsgründungen in Teilen Xinjiangs in den 1930 und 1940er Jahren abgeleitet (s. Abschnitt „Geschichte“).

Viele liberale Demokratien kritisieren die Situation in Xinjiang und unterstützen das Anliegen uigurischer Aktivisten. So wurde der 2014 zu lebenslanger Haft verurteilte uigurische Wirtschaftsprofessor Ilham Tohti im Dezember 2019 durch das EU-Parlament mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet. Staaten wollen zudem Unternehmen stärker in die Verantwortung nehmen: 2021 verabschiedeten die USA ein „Gesetz zur Verhinderung uigurischer Zwangsarbeit“ (Uyghur Forced Labor Prevention Act), das seitdem mehrmals ausgeweitet wurde. Deutschland hat mit der Verabschiedung des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz im Juli 2021 Unternehmen mit über eintausend Beschäftigten verpflichtet, Menschenrechtsverstößen, wie z.B. Zwangsarbeit, sowohl in eigenen Werken als auch bei Vertragspartnern und Zulieferern nachzugehen. Allerdings sind unabhängige Audit-Prüfungen in Xinjiang kaum möglich.

Die chinesische Führung setzt dagegen auf eine umfassende Kontrolle über Xinjiang. Bereits 1954 wurden zu diesem Zweck die sog. Produktionsbrigaden („bingtuan“) ins Leben gerufen. Heute umfassen sie rund zwei Millionen Menschen, davon sind über 80 % Han-Chinesen. Mit autonomer Verwaltungsautorität über verschiedene Städte sowie eigener sozialer Infrastruktur ausgestattet sollten sie das Grenzland wirtschaftlich erschließen und die Kontrolle über die Uiguren gewährleisten. Der Anteil der han-chinesischen Bevölkerung in Xinjiang ist inzwischen von knapp 5 % im Jahr 1947 auf über 40 % gestiegen.

Seit Mitte der 2010er Jahre hat die chinesische Regierung schrittweise ein zweisprachiges Bildungssystem durchgesetzt. Laut Medienberichten finden insbesondere die prüfungsrelevanten Kernfächer nur noch in chinesischer Sprache statt. Zusätzlich hat Peking die seit Anfang 2000 initiierten „Inlandsklassen” für Schüler von ethnischen Minderheiten aus Xinjiang in Chinas wirtschaftlich entwickelten Ostprovinzen ausgebaut. Dadurch sollen Uiguren bessere Arbeitsmöglichkeiten erhalten, aber auch gleichzeitig stärker assimiliert werden.

Als Reaktion auf Unruhen im Juli 2009 tauschte Peking sukzessive eine Reihe von hochrangigen Kadern in der Region aus und setzte zunehmend auf umfassende repressive Maßnahmen. Im August 2016 wurde Chen Quanguo Parteisekretär (bis Dezember 2021 im Amt). Chen hatte auf seinem vorherigen Posten in Tibet den dort eskalierten Widerstand mit einem Konzept der systematischen Unterdrückung und Indoktrinierung gestoppt. Im Oktober (2018) verabschiedete der Volkskongress der autonomen Regierung Xinjiang rechtliche Bestimmungen, die eine „Umwandlung“ von „durch Extremismus beeinflussten Menschen“ in „beruflichen Bildungs- und Erziehungsanstalten" legalisieren. Zur Erfassung von potenziellen „Verbrechen“ und „verdächtigen Aktivitäten“ schufen Behörden zudem eine integrierte Daten-Plattform (Integrated Joint Operations Platform – IJOP).

Nach Schätzungen von ausländischen Experten waren zwischen ein und drei Millionen Uiguren und Angehörige anderer muslimischer Minderheiten in den Umerziehungs- und Straflagern für mehrere Wochen oder Monate gegen ihren Willen interniert. Als eine Folge der repressiven Maßnahmen war die Geburtenrate in Xinjiang von 15,88 pro 1.000 Einwohner im Jahr 2017 auf 8,12 im Jahr 2019 gesunken. Auch Sterilisationen nahmen zu. Die chinesischen Behörden wiesen jeden Zusammenhang mit dem Internierungssystem zurück und lobten die Maßnahmen als Beispiele für eine „erfolgreich durchgesetzte Familienplanungspolitik“ und für die „Befreiung und Emanzipation“ von Frauen.

Der amtierende Parteichef Ma Xingrui, ehemals Gouverneur der prosperierenden Provinz Guangdong, soll neben Sicherheitsfragen einen stärkeren Fokus auf die wirtschaftliche Entwicklung der Region legen. Die Regierung will neben dem Ausbau des Tourismus vor allem den Handel mit Zentralasien intensivieren (u.a. durch Einrichtung einer regionalen Freihandelszone im November 2023) sowie mehr Unternehmen aus dem Bereich nachhaltige Energietechnologie (GreenTech) in der Region ansiedeln.

Ethnolinguistische Gruppen in China. Interner Link: Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Geschichte des Konflikts

Ähnlich wie im Tibet-Konflikt vertreten die uigurische und die chinesische Seite unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf die Geschichte Xinjiangs. Uiguren verweisen neben der Entstehung unabhängiger uigurischer Imperien in der Region des heutigen Xinjiang nach dem 8. Jh. besonders auf die Ausrufung der ersten Republik Ostturkistan durch Uiguren und andere Turkvölker im November 1933 im Gebiet um die Stadt Kashgar. Durch den Einfall von hui-chinesischen Warlords kam sie 1934 zu Fall. Von 1944 bis 1949 entstand mit sowjetischer Hilfe im Norden Xinjiangs die zweite Republik Ostturkistan, die durch die Ankunft der chinesischen Volksbefreiungsarmee zu Ende ging.

Aus Sicht der Uiguren haben die Chinesen damals das Territorium des unabhängigen Staates gewaltsam besetzt. Für China war die Errichtung der 2. Republik Teil der kommunistischen Revolution. Die chinesischen Soldaten seien laut Peking von den Uiguren als Befreier begrüßt worden. Auch verweist China auf die Zugehörigkeit der Region zum chinesischen Kaiserreich der Qing. 1882/84 schloss der damalige Kaiser Guangxu das Gebiet als Provinz mit dem Namen „Xinjiang“ (Neues Grenzland) dem Reich an.

Der Konflikt ist zum ersten Mal in den 1950er Jahren offen zutage getreten. Damals kam es regelmäßig zu Protesten, die sich insbesondere gegen die Einführung der von Han-Chinesen dominierten Produktionsbrigaden und die Gründung der autonomen Region Xinjiang (1955) richteten. In den folgenden Jahrzehnten kam es wiederholt zu gewalttätigen Zusammenstößen. So starben bei einer Revolte im Gemeindeverwaltungsbezirk Baren im April 1990 ca. 50 Menschen. Auf die erste großangelegte Verhaftungswelle von Uiguren 1996 folgte im Februar 1997 der Aufstand von Ghulja/Yinning, bei dem mindestens neun Menschen starben. Nach wiederholten Bombenattacken mit Todesopfern und Repressionsakten in den 1990er Jahren blieb die Lage von 2000 bis 2007 überwiegend ruhig.

Die Unruhen im Juli 2009 haben dem Xinjiang-Konflikt eine neue Dimension verliehen. Am 5. Juli 2009 waren friedliche Demonstrationen von Uiguren in der Regionshauptstadt Ürümqi nach Zusammenstößen mit Sicherheitskräften zu gewalttätigen Attacken gegen han-chinesische Passanten eskaliert. Nach offiziellen Angaben starben 197 Menschen, mehr als 1.600 wurden verletzt. Tage vorher hatten u.a. uigurische Exil-Gruppen im Internet zu Demonstrationen aufgerufen. Die Demonstranten forderten die Aufklärung des Todes zweier uigurischer Wanderarbeiter, die bei Auseinandersetzungen in einer Spielzeugfabrik in Südchina Ende Juni d.J. ums Leben gekommen waren.

Weitere Inhalte

Kristin Shi-Kupfer ist Professorin für Gegenwartsbezogene Sinologie an der Universität Trier und Senior Associate Fellow der Berliner Denkfabrik MERICS. Dort hat sie von Oktober 2013 bis Oktober 2020 den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien geleitet. Shi-Kupfer hat von 2007 bis 2011 als Korrespondentin für verschiedene deutschsprachige Medien aus China berichtet. Sie war u.a. im März 2008 in Lhasa, Tibet und 2009 bei den Unruhen in Urumuqi, Xinjiang als Berichterstatterin vor Ort.

ist Doktorandin der gegenwartsbezogenen Sinologie an der Universität Trier. Seit 2020 ist sie als wissenschaftliche Hilfskraft für Prof. Kristin Shi-Kupfer tätig.