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Fragile Staatlichkeit als Konfliktursache und Möglichkeiten der Bearbeitung | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Fragile Staatlichkeit als Konfliktursache und Möglichkeiten der Bearbeitung

Daniel Lambach

/ 6 Minuten zu lesen

Ob in Afghanistan, Südsudan, Irak oder Syrien – als Hauptursache für innerstaatliche Konflikte gilt die Schwäche des Staates. Staaten, die ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können, werden "fragil", "zerfallen" oder "kollabiert" genannt. Hier setzt die Politik der internationalen Gemeinschaft an.

Amerikanischer Soldat in Bagdad, Irak. (© picture-alliance/AP)

Eine aktuelle Auffassung besagt, dass innerstaatliche Konflikte besonders häufig dort entstehen, wo der Staat nicht fähig ist, der Gewalt konkurrierender Akteure Einhalt zu gebieten (z.B. Schneckener 2006). Nach der klassischen Definition des Soziologen Max Weber ist der Staat ein "politischer Anstaltsbetrieb, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt" (Weber 1972: 29).

Dieses Gewaltmonopol bedeutet einerseits, dass der Staat den Schutz der Bevölkerung durch die umfassende Kontrolle der Gewalt sicherstellen kann. Andererseits entsteht dadurch jedoch auch die Gefahr, dass der Staat seine Gewaltmittel zur Unterdrückung der Bürger einsetzt. Derartige Fälle sind zur Genüge aus dem NS-Deutschland und anderen Diktaturen bekannt. "Staat" und "staatliches Gewaltmonopol" sind also nicht automatisch Garanten für ein friedliches und prosperierendes Zusammenleben der Bürger. Staatliche Herrschaft muss deshalb immer auch zwischen den verschiedenen Gewalten (Exekutive, Legislative, Judikative, Medien) ausbalanciert und durch den Souverän – das Volk – demokratisch legitimiert und kontrolliert werden.

Fragile Staatlichkeit als zentrale Konfliktursache

In der Regel entstehen innerstaatliche Konflikte jedoch nicht dort, wo der Staat zu stark, sondern wo er zu schwach ist. Diese Staaten werden als "fragil" (oder als "zerfallen", "kollabiert") bezeichnet, da sie zentrale staatliche Aufgaben nicht (mehr) erfüllen können. Das bedeutet, dass in weiten Teilen oder im gesamten Staatsgebiet die öffentliche Sicherheit nicht gewährleistet, kaum Dienstleistungen (z.B. in den Bereichen Bildung oder Gesundheit) angeboten und die Verordnungen der Regierung unzureichend oder überhaupt nicht durchgesetzt werden können.

Gleichwohl bedeutet fragile Staatlichkeit nicht, dass diese Gesellschaften in eine schrankenlose Anarchie abrutschen, in denen keinerlei Ordnung mehr besteht und jeder Mensch ums nackte Überleben kämpfen muss. Stattdessen treten alternative Akteure und Strukturen in den Vordergrund, die das gesellschaftliche Leben organisieren. Wo der Staat unfähig ist, die Sicherheit und Versorgung seiner Bürger zu garantieren, treten traditionelle Autoritäten und Herrschaftsstrukturen sowie zivilgesellschaftliche Gruppen an seine Stelle. Stammesfürsten, religiöse Autoritäten oder Dorfälteste sorgen für Sicherheit, erlassen Gesetze, erheben Steuern und sitzen zu Gericht. Und nationale und internationale NGOs nehmen wichtige soziale und Entwicklungsaufgaben wahr.

Diese Ausprägung alternativer Ordnungs- und Versorgungsstrukturen hat aber auch eine Kehrseite: Sie trägt unter Umständen zur weiteren Erosion des Staatswesens bei und verhindert seine Wiederherstellung und Konsolidierung. Die Bedeutung nicht-staatlicher Strukturen zeigt in gewisser Weise die Eingeschränktheit des Begriffes "fragile Staatlichkeit" auf. Denn das Konzept macht lediglich auf das Fehlen formeller staatlicher Strukturen aufmerksam und unterschlägt mögliche Ansatzpunkte für den Neuaufbau und die Stärkung des Staates und einer effektiven Verwaltung. Insofern sollte man bei der Verwendung des Begriffs und Konzepts vorsichtig sein, um Fehler in der Analyse und kontraproduktive politische Schlussfolgerungen und Entscheidungen zu vermeiden.

Es besteht aber auch kein Anlass, das Fortbestehen traditioneller und gesellschaftlicher Strukturen in fragilen Staaten zu verklären. Diese Strukturen weisen sowohl Licht- als auch Schattenseiten auf. Einerseits verfügen traditionelle Autoritäten über beträchtlichen Einfluss und sind mit der Situation vor Ort gut vertraut. Andererseits sind auch Chiefs, Älteste und Kirchenvertreter nicht gegen Korruption und Machtmissbrauch gefeit – und da sie keine öffentlichen Ämter bekleiden, gibt es auch keine Prozeduren für Beschwerden oder ihre Abwahl. Besonders problematisch ist das Wirken sogenannter Warlords, die sich durch Waffengewalt lokale Kriegsfürstentümer angeeignet haben und meist nur an deren Erhalt und an wirtschaftlichem Gewinn interessiert sind.

Das Beispiel Somalia

Ein besonders langwieriges Beispiel für Staatszerfall ist seit fast drei Jahrzehnten im ostafrikanischen Somalia zu beobachten. Dort stürzte in den 1980er Jahren ein Aufstand zwar den Diktator Mohammed Siad Barre, doch konnte sich die Koalition von Rebellen danach nicht auf eine neue politische Ordnung einigen. (Interner Link: Konfliktporträt Somalia) Die Koalition zerfiel, und seitdem kontrollieren verschiedene Milizen einen Flickenteppich aus lokalen, clanbasierten Stadtvierteln und Territorien. In vielen Landesteilen übernahmen Clanälteste wichtige Aufgaben, indem sie z.B. die Einhaltung des traditionellen bzw. informellen Rechts überwachen und bei Konflikten als Vermittler agieren. Im Norden Somalias, in den Regionen Somaliland und Puntland, kam es immerhin zur Bildung leidlich funktionierender para-staatlicher Ordnungen. In Somaliland werden regelmäßige demokratische Wahlen abgehalten; gleichwohl wird das Land von der internationalen Gemeinschaft diplomatisch nicht anerkannt.

Seit etwa 2012 hat sich die Lage in ganz Somalia nach und nach stabilisiert. Dank der massiven Unterstützung durch die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union (AU) hat sich eine demokratisch gewählte Zentralregierung gebildet und ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit erworben. Die Regierung sieht sich mit großen Herausforderungen konfrontiert. Dazu gehört der andauernde Kampf mit den islamistischen Al-Shabaab-Milizen, die immer wieder terroristische Anschläge durchführen.

Die Bevölkerung und die Wirtschaft des ohnehin sehr armen Landes haben unter dem jahrzehntelangen Krieg zu leiden. Somalia liegt bei allen gängigen Entwicklungsindikatoren deutlich unter dem Durchschnitt der afrikanischen Staaten. Politisch steht die Integration der autonomen Regionen Somaliland und Puntland in eine zu schaffende föderale Republik Somalia weiterhin in den Sternen.

Bearbeitungsstrategien und Dilemmata

Die Politik zur Überwindung fragiler Staatlichkeit wird als Staatsbildung bezeichnet (englisch: "state-building", oft missverständlich auch "nation-building"). Ganz oben auf der Agenda steht der Aufbau bzw. die Stärkung der zentralen staatlichen Institutionen, z.B. Polizei, Justiz, Verwaltung und Militär. Der (Wieder-)Aufbau von Staaten ist in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Feld der humanitären Nothilfe, der Entwicklungszusammenarbeit und der Friedensförderung geworden. Einschlägige Maßnahmen sind die Bereitstellung von Ausrüstung und Infrastruktur, Finanzhilfen sowie Ausbildung und Training von Personal (s. Text zum Interner Link: Institutionenaufbau, Kap. 5).

Bei der Unterstützung des (Wieder-)Aufbaus von Staaten sehen sich die Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft zahlreichen strategischen und moralischen Dilemmata gegenüber. So müssen sie zwischen ihrem Interesse an innenpolitischer und regionaler Stabilität auf der einen Seite und der Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte auf der anderen Seite abwägen. Angenommen, in einem autokratisch regierten Land ist die Stabilität des Staates (und seines regionalen Umfeldes) gefährdet, sollten dann von außen Maßnahmen zur Stärkung des Staates unterstützt werden, um eine gewaltsame Zuspitzung des inneren Konflikts zu vermeiden? Entsprechende Maßnahmen können kurzfristig vielleicht die Stabilität wieder herstellen, aber zugleich die autoritäre Regierung in die Lage versetzen, die so geschaffenen polizeilichen und militärischen Kapazitäten zur weiteren Unterdrückung der Bevölkerung zu missbrauchen.

Aufgrund derartiger Zielkonflikte muss Staatsbildung immer in Relation zu anderen Zielen, wie z.B. Menschenrechtsschutz, Armutsbekämpfung und Demokratisierung, gedacht und implementiert werden. Zugleich müssen sich externe Akteure zu jedem Zeitpunkt über ihre Prioritäten im Klaren sein, um bei Zielkonflikten situations- und problemadäquat entscheiden zu können. Dies war in Afghanistan offenkundig nicht der Fall. Dort lavierte die internationale Gemeinschaft ohne strategischen Kompass zwischen den Zielen der Demokratisierung, des State-building und der Bekämpfung der Taliban hin- und her.

Die bisherigen Erfahrungen mit von außen unterstützter Staatsbildung sind gemischt – entsprechende Maßnahmen erreichen oft nur Teilziele und schüren neue politische Konflikte. Vielfach liegt dies an einer zu "technokratischen" und kurzatmigen Herangehensweise. So unterschätzen externe Akteure häufig die Dauer und den Ressourcenaufwand des Institutionenaufbaus und machen sich nicht ausreichend bewusst, dass derartige Reformen neben Gewinnern auch Verlierer produzieren, die dann ihre Stellung nutzen, um die Umsetzung von Reformen zu hintertreiben.

Auch zeigt sich in der Praxis, dass formelle Institutionen immer von informellen, gesellschaftlichen Praktiken und Institutionen, wie z.B. Clanstrukturen oder traditionellen Formen der Rechtsprechung, beeinflusst werden. In der Folge bilden sich hybride politische Ordnungen mit Elementen aus beiden "Welten" heraus (Fischer/ Schmelzle 2009). So ist es in manchen westafrikanischen Ländern nicht unüblich, dass gewählte Parlamentarier zusätzlich traditionelle Posten, wie den Titel des "Chiefs", anstreben, um sich dadurch zusätzliche Legitimität zu verschaffen. Dies ist kein grundsätzliches Problem von Staatsbildung, zeigt aber deutlich, wie wichtig die Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten bei der Planung und Umsetzung von Reformprogrammen ist.

Weitere Inhalte

Daniel Lambach, geboren 1977, ist promovierter Politikwissenschaftler. Er ist Vertretungsprofessor für Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft und Associate Fellow des Instituts für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg-Essen.