Alle islamistischen Bewegungen und Organisationsformen
Das Spektrum dieser Akteure reicht von dschihadistischen Gruppen, die religiös legitimierte Gewalt (Dschihad
Auch das nicht-dschihadistische islamistische Spektrum weist eine Vielfalt verschiedener Strömungen auf. Dazu gehören neben den Salafisten
Historisch gesehen existierten im arabischen Raum zum einen sozialistisch geprägte Republiken (z.B. Ägypten), die im Umgang mit Islamisten ein übergeordnetes Ziel verfolgten: die Schwächung der islamistischen Herausforderer mit dem Ziel des Machterhalts der herrschenden Eliten. Daneben gab es verschiedene Staaten, die selbst eine islamistische Staatsdoktrin verfolgten (z.B. Saudi-Arabien, Iran seit 1979). Diese Staaten unterstützten ausgewählte islamistische (oft salafistische) Gruppierungen in der Region und darüber hinaus. Der Umgang mit der Muslimbruderschaft war dabei ambivalent. Einerseits nahm Saudi-Arabien zahlreiche ägyptische Muslimbrüder als Lehrer in den Staatsdienst auf, versuchte jedoch zugleich ihren Einfluss auf die Politik zu begrenzen.
In Folge des "Arabischen Frühlings" änderte sich – je nach nationalem Kontext – das Verhältnis zwischen den Regimen und den nicht-dschihadistischen islamistischen Bewegungen. Während sich beispielsweise in Tunesien die islamistische Ennahda im neuen politischen System verankern konnte, endete die politische Integration der ägyptischen Muslimbruderschaft 2013 jäh mit dem Sturz des gewählten Präsidenten Mohammed Mursi durch das ägyptische Militär. Seither sind die Muslimbrüder einer anhaltenden Repressionswelle durch das Regime ausgesetzt, die extreme Ausmaße annimmt und jegliche Form politischer Partizipation oder gesellschaftlicher Aktivität unmöglich macht.
Konkurrierende Außenpolitiken der Regionalmächte: für oder gegen die Muslimbrüder
Der politische Aufschwung Muslimbruder-naher Parteien seit 2010 führte im arabischen Raum zu zwei diametral unterschiedlichen Reaktionen und Strategien.
Auf der anderen Seite formierte sich ein loses überregionales Netzwerk aus Muslimbruderschaftsorganisationen, das insbesondere von Katar und der Türkei unterstützt wurde. Für beide Länder schien sich mit dem "Arabischen Frühling" die einmalige Gelegenheit zu bieten, über ihre guten Kontakte zu Muslimbruder-Organisationen ihren regionalen Einfluss zu erweitern und den arabischen Raum gemäß ihren Interessen umzugestalten. Insbesondere die türkische Führung sah in der ideologischen Nähe der Regierungspartei AKP zur Muslimbruderschaft dafür eine gute Voraussetzung. Auf Seiten von Katar ist der Politische Islam seit jeher ein integraler Bestandteil der außenpolitischen Strategie. Zudem setzten beide Hauptstädte darauf, die wirtschaftliche Kooperation mit anderen Ländern, z.B. Ägypten und Tunesien, auszubauen, wo sich die Muslimbrüder als einflussreiche politische Parteien etablieren konnten.
In Saudi-Arabien und der VAE wird der politische Aktivismus der Muslimbrüder hingegen als Bedrohung für die innere Sicherheit wahrgenommen. Die herrschenden Eliten befürchten, dass die Vorstellungen der Muslimbrüder von Religion, Politik und Nation in Verbindung mit demokratischen Elementen in der Gesellschaft auf offene Ohren stoßen. Für die religiös legitimierte Herrschaft des saudischen Königshauses, das sich als sunnitische Führungsmacht in der Region und der Welt sieht, kommt noch hinzu, dass der auf Reform und demokratischen Prinzipien beruhende Politikansatz der Muslimbrüder ebenfalls religiös begründet wird.
Ein zusätzlicher Faktor für die Ablehnung der Muslimbruderschaft, insbesondere in Ägypten, war auch die Verbesserung der Beziehungen zwischen Ägypten und Iran unter Mohammed Mursi. Bereits unmittelbar nach den Wahlerfolgen der ägyptischen Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP) bemühte sich das iranische Regime um eine Annäherung auf Grundlage einer vermeintlich gemeinsamen ideologisch-religiösen Basis. Teheran versuchte, den "Arabischen Frühling" und die Wahlerfolge der Islamisten als Fortsetzung der Islamischen Revolution darzustellen, mit der die aktuellen politischen und religiösen Eliten des Landes 1979 an die Macht gekommen waren. Auch wenn die ägyptische Muslimbruderschaft die iranischen Avancen zurückwies, befürchteten Saudi-Arabien und die VAE, dass eine ägyptische-iranische Wiederannäherung den Erzfeind am Golf außenpolitisch stärken könnte.
Die saudisch-iranische Rivalität rückt in den Vordergrund
Seit 2013 ist eine Verschiebung der regionalen Machtkonstellation zu beobachten, die insbesondere auf drei grundlegende Veränderungen zurückzuführen ist: Erstens wurden die Strukturen der Muslimbruderschaft durch den Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi und ihre anschließende Unterdrückung und Zerschlagung in Ägypten stark geschwächt. Zweitens breitete sich der IS im Irak und in Syrien, aber auch in Ägypten (nördlicher Sinai) und Libyen immer stärker aus. Im Juni 2014 rief der Anführer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, in Mossul das Kalifat aus. Die zweitgrößte Stadt des Irak war kurz zuvor vom IS überrannt worden, und die Staaten der Region sahen sich zunehmend von der Terrororganisation bedroht. Das dritte Ereignis war der Vormarsch der Houthis im Jemen. Bereits zwischen 2004 und 2010 hatten die Houthis und die jemenitische Regierung unter Präsident Ali Abdullah Saleh mehrere Kriege gegeneinander geführt. Im Zuge der Umwälzungsprozesse seit 2010, die auch im Jemen zum Sturz des Langzeit-Herrschers führten, konnten die Houthis 2011 im Norden ihre Kontrolle auf die Provinzen Saada und Al-Jawf ausdehnen. Im September 2014 kontrollierten die Houthis schließlich auch weite Teile der Hauptstadt Sanaa. Dies versetzte sie in die Lage, Anfang 2015 das bisherige Parlament aufzulösen und einen Revolutionsrat einzurichten, der als neues Legislativorgan fungieren sollte.
Der iranische Parlamentsabgeordnete Ali Reza Zakani behauptete daraufhin, dass sich nunmehr vier arabische Hauptstädte in den Händen Irans befänden: Damaskus, Bagdad, Beirut und nun auch Sanaa.
Vor dem Hintergrund dieser drei Entwicklungen wurde das zentrale Feindbild "Muslimbruderschaft" in der Außenpolitik Saudi-Arabiens und der VAE durch andere Bedrohungen, vor allem durch den IS und Iran, abgelöst. Dieser Prozess wurde maßgeblich durch den Tod des saudischen Königs Abdallah im Januar 2015 und die anschließende Machtübernahme seines Halbbruders Salman verstärkt. König Salman modifizierte einerseits die Gewichtung der außenpolitischen Zielsetzungen sowie die Strategien, um diese zu erreichen. Hierzu zählt neben einer graduellen Wiederannäherung an die Muslimbruderschaft auch die Bekämpfung der iranischen Bedrohung.
In der Folge wurde auch das enge Bündnis zwischen den beiden Golfstaaten belastet, die nunmehr in einigen regionalen Konflikten unterschiedliche Interessen und Ziele verfolgten. Saudi-Arabien will vor allem im Jemen die Houthis zurückdrängen und mit Abdrabbu Mansour Hadi einen pro-saudischen Präsidenten zurück an die Macht bringen. Dafür ist Riad sogar bereit, die den Muslimbrüdern nahestehende Islah-Vereinigung zu unterstützen.
So suchte Kairo den Schulterschluss mit dem libyschen General Khalifa Haftar, als dieser sich daran machte, mit der Operation "Karama" (Mai/Juni 2014) die libysche Muslimbruderschaft auszuschalten. Im Rahmen dieser Operation versuchte Haftar, die international anerkannte libysche Regierung zu stürzen und das von der Muslimbruderschaft gestützte Parlament in Tripolis aufzulösen. Dabei wurden immer wieder die Strukturen der Anti-Muslimbruder-Allianz deutlich. So wurden Haftars Truppen durch Bombardements der ägyptischen und emiratischen Luftwaffe unterstützt. General Haftar forderte seinerseits alle Türken und Kataris auf, die Stadt Benghazi zu verlassen, in der sich das Hauptquartier seiner Streitkräfte befindet.
Katar und die Türkei waren hingegen nicht bereit, die Unterstützung der Muslimbruderschaft aufzugeben und sich dem von Saudi-Arabien und der VAE geführten Bündnis gegen Iran anzuschließen. Beide Länder haben beispielsweise verfolgte Muslimbrüder aus Ägypten, Saudi-Arabien oder den VAE aufgenommen. Insbesondere Katar geriet hierdurch zunehmend in politische und wirtschaftliche Bedrängnis. Den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete eine diplomatische Krise, die u.a. zur Abberufungen des bahrainischen, emiratischen und saudischen Botschafters im März 2014 führte. Erst im November 2014 konnte nach zahlreichen Treffen des Golfkooperationsrats (GKR) eine Beilegung des Streits durch konkrete Vereinbarungen auf der Basis des ersten und zweiten Vertrages von Riad (2013/14) sowie einer geheimen Zusatzvereinbarung (2014) erzielt werden.
Die Krise eskalierte erneut im Juni 2017. Saudi-Arabien, die VAE und Bahrain – diesmal unter Beteiligung Ägyptens – brachen erneut ihre diplomatischen Kontakte zu Katar ab, verhängten eine vollständige Blockade zu Land, zu Wasser und in der Luft und verwiesen alle katarischen Bürger des Landes. Offiziell führten die Blockade-Staaten als Begründung an, dass Katar Terroristen und den Iran unterstütze. Zu den insgesamt 13 Forderungen gehören u.a. die Einschränkung der Beziehungen zu Iran, die Schließung des türkischen Militärstützpunktes in Doha, die Abschaltung des Nachrichtensenders Al Jazeera, die Ausweisung aller Bürger des Iran und der Türkei aus Katar sowie die direkte Überstellung aller als Terroristen gesuchten Personen des IS, von al-Qaida, Fatah Al-Scham (die ehemalige Al-Nusra-Front), der Muslimbruderschaft sowie Hisbollah.
Die mit Katar verbündete Türkei reagierte umgehend, indem sie über eine Luftbrücke Waren lieferte und ein bereits 2013 geschlossenes Abkommen umsetzte, das die Stationierung türkischer Soldaten auf einer Militärbasis in Doha vorsieht. Auch Teheran erklärte sich solidarisch und sicherte u.a. die Versorgung mit Gemüse und Obst zu. So führt die Politik der Blockade-Staaten dazu, dass es eine zweckrationale Annäherung zwischen Iran und Katar auf der Basis wirtschaftlicher Notwendigkeiten gibt. Für die beiden Unterstützerstaaten, Katar und die Türkei, hat die Muslimbruderschaft im Vergleich zu 2010/11 als Machtfaktor in der Region deutlich verloren. Nichtsdestotrotz hat das Bündnis zwischen beiden Staaten nichts von seiner Relevanz eingebüßt.
Bilanz
Ausgelöst durch die Wahlsiege islamistischer Akteure im Zuge des "Arabischen Frühlings" vollzog sich ein Wandel der Kräfteverhältnissein der arabischen Welt. Sichtbarstes Zeichen war der Aufschwung der Muslimbruderschaft gleich in mehreren Ländern. Auf diese Machtverschiebung und den damit einhergehenden kulturellen Wandel innerhalb der Gesellschaften und politischen Systeme der Region reagierten die etablierten politischen Eliten in ganz unterschiedlicher Weise. Die einen versuchen, die Muslimbrüder als regionale Verbündete zu gewinnen, die anderen als gefährliche Gegner zu neutralisieren. Gemeinsamer Nenner der verschiedenen Strategien war und ist das Ziel, die eigene Macht auf nationaler und regionaler Ebene zu sichern und nach Möglichkeit auszuweiten.
Dabei ist die islamistische Ideologie in ihren unterschiedlichen Spielarten vor allem "Mittel zum Zweck". Sie dient in erster Linie als Instrument für die Mobilisierung der eigenen Bevölkerung und die Rechtfertigung des jeweiligen außen- und sicherheitspolitischen Kurses. Die konfessionell aufgeladenen Konfliktlinien im arabischen Raum sind somit keineswegs die zwangsläufige Folge der umstrittenen Nachfolge des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert, die zur Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten geführt hat. Sie sind vielmehr Ausdruck der Instrumentalisierung der religiösen Überzeugungen und Gefühle breiter Bevölkerungsschichten für außen- und regionalpolitische Zwecke.
Die Konfessionalisierung von Politik im Allgemeinen und von regionalem Hegemoniestreben im Besonderen birgt gleichwohl eine große Eskalationsgefahr, wie die zahlreichen hochgradig eskalierten Konfliktherde in der Region belegen (Libyen, Syrien, Jemen u.a.). Die regionalen Entwicklungen der letzten Jahre zeigen aber auch, dass konfessionelle und ideologische Spaltungen keine primäre Konfliktursache darstellen. Dies wird nicht zuletzt an der vorsichtigen Annäherung einiger sunnitisch dominierter Staaten an Iran deutlich, wie es sich beispielsweise in Bezug auf die Koordination zwischen Iran und der Türkei bei ihren Interventionen in Syrien sowie die verstärkte katarisch-iranische Zusammenarbeit seit der Katarkrise von 2017 abzeichnet. Auf der anderen Seite häufen sich in der jüngeren Vergangenheit inner-sunnitische Konflikte, beispielsweise innerhalb des Golfkooperationsrates. Der Streit dreht sich u.a. um den angemessenen Umgang mit den Muslimbrüdern und dem Iran.