Verschleppte Konflikte und hybride Staatlichkeit im post-sowjetischen Raum
Andreas Wittkowsky
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Eine schnelle Lösung der verschleppten Konflikte an der russischen Peripherie ist unwahrscheinlich. Das liegt vor allem daran, dass Russland die Konflikte für seine geopolitischen Interessen instrumentalisiert. Wie die internationale Gemeinschaft damit umgehen soll, wird im Westen kontrovers diskutiert.
Von März 1990 bis zur Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 erklärten sich nicht nur die Sowjetrepubliken, sondern auch einige ihrer Teilgebiete für unabhängig. Die tiefe Wirtschafts- und Gesellschaftskrise heizte ethnische Spannungen an, von denen mehrere in Gewaltkonflikte eskalierten – zwischen Armenien und Aserbaidschan, in der Republik Moldau, in Georgien, Russland und Interner Link: Tadschikistan. Einige schwelen bis heute – sie sind "verschleppte Konflikte". Im besten Fall – wenn die Waffen schweigen – sind sie "eingefroren".
In den meisten Fällen wollten sich ethnische Minderheiten von den neu entstehenden Staaten abspalten: Berg-Karabach von Aserbaidschan, Südossetien und Abchasien von Georgien, Transnistrien von der Moldau und Tschetschenien von Russland. Da die Unabhängigkeitsbestrebungen der Republiken anti-sowjetisch und ethno-nationalistisch aufgeladen waren, fühlten sich diese Minderheiten bedroht und widersetzten sich der Vereinnahmung durch die Titularnation.
In diesem Widerstand wurden sie von pro-sowjetischen bzw. pro-russischen Kräften unterstützt, die sich gegen den Zerfall stemmten. Ihr Spektrum reichte von offiziellen Sicherheitskräften über irreguläre Milizen, teilweise aus Russland unterstützt, bis hin zu politischen Abenteurern. Moskau nutzte schon frühzeitig Friedenstruppen als Instrument, um unter seiner Ägide ausgehandelte Waffenstillstände zwischen den Konfliktparteien seinen Interessen gemäß durchzusetzen und abzusichern (Malek 1998/ Zagorski 1996).
Als Russland dann zunehmend offensiv den Anspruch auf eine "besondere Interessensphäre" vertrat, wuchs die geopolitische Bedeutung der Konflikte, denn sie gewähren Einflussmöglichkeiten auf die betroffenen Staaten. Dazu wurde auch ihre Verflechtung mit Russland forciert – wenn auch in unterschiedlichem Maße (siehe Tabelle).
Alle genannten Konfliktgebiete verfügen heute über staatliche Attribute wie Parlamente, Regierungen, Sicherheitskräfte usw. Sie sind aber dennoch, was man gemeinhin Satellitenstaaten nennt. Ihre Staatlichkeit ist begrenzt beziehungsweise hybrid, denn einige staatliche Funktionen (wie der Grenzschutz) werden von einer Schutzmacht übernommen. In Berg-Karabach war das bisher Armenien, in den übrigen Gebieten Russland. Bei den Schutzmächten liegt auch der Schlüssel zur Konfliktlösung. Russland spielt dabei eine Doppelrolle: Es präsentiert sich als Vermittler, ist aber gleichzeitig Konfliktpartei.
Der erste bewaffnete Territorialkonflikt der Sowjetunion entstand im südlichen Kaukasus. Im Herbst 1991 erklärten sich Armenien und Aserbaidschan für unabhängig, ebenso das in Aserbaidschan gelegene Autonome Gebiet Berg-Karabach, das zu drei Vierteln von Armeniern bewohnt war. Dies löste eine militärische Auseinandersetzung aus, in der Armenien dem abtrünnigen Gebiet gegen Aserbaidschan beistand. Der aserbaidschanische Landkorridor zwischen Armenien und Berg-Karabach sowie die angrenzenden Kreise Aserbaidschans wurden als "Pufferzone" besetzt. Berg-Karabach wurde aufs Engste mit Armenien verflochten. Der Konflikt forderte mehrere Zehntausend Tote, über eine Million Armenier und Aserbaidschaner wurden vertrieben.
Noch im Rahmen der KSZE (später OSZE) wurde 1992 die Minsk-Gruppe etabliert, um unter dem Ko-Vorsitz Frankreichs, Russlands und der USA eine Konfliktlösung zu ermöglichen. Nach zwei Jahren Kriegshandlungen vermittelte Russland 1994 einen Waffenstillstand. Seit 1995 führt ein OSZE-Sondergesandter punktuelle Inspektionen an der Waffenstillstandslinie durch. Gleichzeitig hat Russland Armenien und Aserbaidschan mit Rüstungsgütern beliefert.
Im September 2020 eskalierte der Konflikt erneut in einen 44-Tage-Krieg, in dem Aserbaidschan die Oberhand gewann. Dabei erhielt es Unterstützung durch die Türkei, die sich in Konkurrenz zu Russland als Regionalmacht etablieren möchte. Am 10. November führte Russland ein trilaterales Waffenstillstandsabkommen mit Armenien und Aserbaidschan herbei, das durch russische Friedenstruppen abgesichert werden soll. Armenien hat sich verpflichtet, seine Streitkräfte auf sein eigenes Staatsgebiet zurückzuziehen. An seiner statt wird Russland die Schutzmacht in Interner Link: Berg-Karabach.
Abchasien und Südossetien
Karte Georgiens abtrünniger Regionen (mr-kartographie)
In Georgien erklärte sich 1989 das Autonome Gebiet Südossetien zur Autonomen Sowjetrepublik, wenig später für unabhängig. Nachdem georgische Milizen versuchten, dies zu verhindern, griffen russische Truppen auf Seiten Südossetiens ein. Im russischen Dagomys wurde 1992 ein Waffenstillstand geschlossen. Eine Friedenstruppe der Konfliktparteien und eine OSZE-Beobachtermission sicherten ihn ab.
Als die ethno-nationalistische Mobilisierung in Georgien zunahm, sagte sich 1992 auch die Autonome Sowjetrepublik Abchasien los. Der abchasische Bevölkerungsanteil lag dort bei 20 %, der georgische bei 45 %. Der Unabhängigkeitskonflikt war blutig, am Ende war ein Großteil der Georgier geflohen oder vertrieben. Zwei Waffenstillstandsvereinbarungen (1993 und 1994) führten zur Entsendung einer russischen Friedenstruppe und einer UN-Beobachtermission.
Nach 2004 schlug der neue georgische Präsident Saakaschwili in beiden Konflikten eine härtere Gangart ein. Gleichzeitig nahm er Kurs auf eine Mitgliedschaft in NATO und EU. Die Spannungen stiegen. Als Gefechte und militärische Aktivitäten an den Waffenstillstandslinien derart zunahmen, dass sie in Georgien als Vorzeichen eines bevorstehenden Angriffs interpretiert wurden, befahl Saakaschwili im August 2008 den Einmarsch in Südossetien. Dort geriet auch die russische Friedenstruppe unter Feuer. Dies löste den georgisch-russischen Fünf-Tage-Krieg aus, in dem Georgien unterlag. Moskau erkannte die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens an und verhinderte die Verlängerung der Missionen von OSZE und UN. Stattdessen verstärkte Russland seine eigene militärische Präsenz und übernahm den Grenzschutz zum georgischen Kernland.
Seit Herbst 2008 finden in Genf Internationale Diskussionen unter dem Vorsitz von UN, OSZE und EU statt. Daran nehmen Georgien, Russland, die USA und Vertreter beider Gebiete teil. Die Europäische Union hat eine Beobachtermission (EUMM) entsandt, die aber nur auf der georgisch kontrollierten Seite der Verwaltungsgrenze patrouillieren kann. Obwohl der Waffenstillstand hält, kommt es immer wieder zu Interner Link: Spannungen.
Transnistrien
Karte vom Konflikt in Transnistrien (mr-kartographie)
Auch die Moldauische Sowjetrepublik strebte Ende der 1980er Jahre nach Unabhängigkeit. Dort orientierte sich die Nationalbewegung aus historisch-sprachlichen Gründen stark nach Rumänien; sogar eine staatliche Vereinigung stand im Raum. In Transnistrien stieß dies auf Ablehnung. Das Ostufer des Dnister war geprägt durch die sowjetische Industrialisierung und die Präsenz der 14. Sowjetischen Armee (der späteren 14. Russischen Armee). Auch der slawische Bevölkerungsanteil lag dort wesentlich höher.
Im September 1990 erklärte sich Transnistrien zur Sowjetrepublik und schuf eigene staatliche Strukturen. Nachdem die Republik Moldau 1991 unabhängig wurde, führte dies zum bewaffneten Konflikt. Dabei wurde Transnistrien von der 14. Armee unterstützt. Infolge eines Waffenstillstands unter russischer Vermittlung wurde eine trilaterale moldauisch-transnistrisch-russische Friedenstruppe aufgestellt.
Die internationale Konfliktbearbeitung erfolgt in einem 5+2-Format. Ihm gehören die beiden Konfliktparteien, Russland, die Ukraine und die OSZE sowie seit 2005 als Beobachter die EU und die USA an. Zuvor hatte Russland 2003 mit dem Kosak-Memorandum eine Lösung im Alleingang gesucht. Dabei sollte Transnistrien als föderales Subjekt einer neutralen Republik Moldau starke Einfluss- und Vetorechte erhalten. Die Initiative scheiterte, und auch die 5+2-Verhandlungen stagnierten.
Seit 2014 ist die Republik Moldau mit der EU assoziiert. Die transnistrischen Exporteure können am Freihandel mit der EU teilhaben – unter der Bedingung, dass sie sich in der Republik registrieren und die offiziellen Exportzertifikate verwenden. Inzwischen gehen mehr Exporte Transnistriens in die EU als nach Russland, insbesondere nach Rumänien (Necsutu 2019).
Von allen verschleppten Konflikten ist dieser inzwischen der entspannteste. Der Waffenstillstand hält, die Zusammenarbeit verläuft pragmatisch – nur am politischen Status Quo hat sich wenig geändert.
Krim und Ostukraine
Karte der vom Konflikt betroffenen Provinzen am Donbass in der Ukraine (mr-kartographie)
Die Ukraine erklärte 1991 nach einem Referendum mit 90 % Zustimmung ihre Unabhängigkeit. Die Krim mit ihrer zu rund 60 % russisch-ethnischen Bevölkerung erhielt den Status einer Autonomen Republik. Einzelne separatistische Bestrebungen auf der Halbinsel kamen 1995 zum Erliegen (Wittkowsky 2010). Obwohl die Bevölkerung keine übermäßige Affinität zur Ukraine empfand, gab es in Meinungsumfragen keine Mehrheit für den Anschluss an Russland.
Als der ukrainische Präsident Janukowitsch im Februar 2014 infolge der Proteste des Euro-Maidans die Flucht nach Russland ergriff, besetzten russische Sicherheitskräfte – als "Grüne Männchen" getarnt – die Krim. Aufgrund eines hastig anberaumten "Referendums", das keinerlei internationalen Standards entsprach und von der Vollversammlung der Vereinten Nationen für völkerrechtlich ungültig erklärt wurde, annektierte Russland die Halbinsel innerhalb eines Monats.
Wenig später sickerten irreguläre Kämpfer und Einheiten aus Russland in die ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk ein. Dort unterstützten sie die gewaltsame Abspaltung sogenannter Volksrepubliken. Als ukrainische Sicherheitskräfte und Freiwilligenbataillone die Oberhand zu gewinnen drohten, griffen russische Truppen auch direkt in die Kämpfe ein. Seitdem gewährt Russland den "Volksrepubliken" erhebliche finanzielle, personelle und militärische Unterstützung.
Karte der Geschichte der Ukraine und der ehemaligen Sowjetrepubliken (mr-kartographie)
Im Kern handelt es sich bei diesem Konflikt um einen nicht erklärten Krieg zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine, den Moskau auch mit hybriden Mitteln (wie nicht-gekennzeichneten Soldaten und Desinformationskampagnen) führt. Gleichzeitig verschleiert und leugnet Russland seine direkte Beteiligung systematisch. Die USA und die EU belegten das völkerrechtswidrige russische Vorgehen auf der Krim und in der Ostukraine mit Sanktionen.
Im März 2014 mandatierte die OSZE eine Beobachtungsmission. Zudem wurde eine in Minsk tagende Trilaterale Kontaktgruppe mit der Ukraine und Russland unter Ägide der OSZE ins Leben gerufen. Politisch wurde dies durch hochrangige Vermittlungsgespräche der Präsidenten Frankreichs, Russlands und der Ukraine sowie der deutschen Bundeskanzlerin flankiert (Normandie-Format).
Im September 2014 und Februar 2015 wurde in Minsk ein Waffenstillstand vereinbart, die OSZE-Mission damit betraut, ihn zu überwachen. Doch die Waffen schwiegen nur selten. Bis 2020 verging kaum eine Woche ohne Todesopfer. Deshalb ging es auch bei den politischen Fragen kaum voran. Streitpunkte sind der künftige Status der Gebiete, die Modalitäten für freie Wahlen und die Kontrolle über die Grenze zu Russland. Interner Link: Ob die jüngste, im Juli 2020 erfolgte Bekräftigung des Waffenstillstands dauerhaft Bestand hat, muss sich zeigen.
Trotz aller internationalen Bemühungen stehen die Chancen für eine baldige politische Lösung der verschleppten Konflikte eher schlecht. Das eingesetzte Instrumentarium hat bisher bestenfalls ihr "Einfrieren" ermöglicht. Um mehr zu erreichen, fehlt es der internationalen Gemeinschaft an Geschlossenheit. Denn obwohl alle Konflikte eine lokale Dimension haben, wurde immer deutlicher, dass Moskau sie aus geopolitischem Interesse am Leben erhalten und die damit verbundene Instabilität im eigenen Interesse "managen" will. In der Frage, wie mit einem solchen Russland umzugehen ist, stehen sich zwei Positionen gegenüber.
Die Vertreter eines stärker auf Kompromisse drängenden Ansatzes sind bereit, weiter auf die behaupteten russischen Interessen einzugehen (in Deutschland werden sie mitunter als "Russlandversteher" bezeichnet). Die westliche Rolle in der jüngeren Vergangenheit sehen sie kritisch und empfehlen, sich mit Russland über die sicherheitspolitische Orientierung der Staaten im postsowjetischen Raum zu verständigen (vgl. Adomeit 2019). Bei den betroffenen "Staaten dazwischen" stößt diese Art von Kompromisswilligkeit auf heftige Ablehnung (OSZE 2015). Insbesondere die Vorstellung, Deutschland und Russland könnten sich über ihre Köpfe hinweg "einigen", weckt bei ihnen Reminiszenzen an den Molotow-Ribbentrop-Pakt.
Die Gegenposition tritt mit Blick auf die Souveränitätsrechte prinzipienfester und wesentlich kompromissloser auf. Ausgangspunkt ist die Analyse, dass sich Russland als globale Macht in einem multipolaren internationalen System etablieren will – mit dem "Recht" auf eine exklusive Einflusssphäre in seiner Nachbarschaft. Der in den OSZE-Dokumenten fixierte Konsens, wonach alle Staaten gleiche, souveräne Rechte haben, werde dabei missachtet. Beschreitet man diesen Weg, wäre nicht nur die eigene Glaubwürdigkeit beschädigt, sondern letztlich auch die eigene Sicherheit. Deshalb müsse man sich auf eine längerfristige politische Auseinandersetzung mit Russland einstellen – und dabei in Kauf nehmen, dass die Konflikte im post-sowjetischen Raum weiter verschleppt werden.
Wie immer das Pendel zwischen diesen Positionen auch ausschlägt: Die internationale Konfliktbearbeitung muss versuchen, militärische Eskalationen zu verhindern und vertrauensbildende Mechanismen zu stärken. Der 44-Tage-Krieg um Berg-Karabach im Herbst 2020 zeigt, welche Gefahren drohen, wenn lediglich ein Einfrieren des Konflikts gelingt und Fortschritte bei der weiteren Konfliktlösung ausbleiben. In Ermangelung besserer Alternativen ist es deshalb notwendig, an den etablierten Mechanismen der Konfliktbearbeitung festzuhalten – in der Hoffnung, dass sich mittelfristig doch noch Chancen für politische Durchbrüche eröffnen.
Dr. Andreas Wittkowsky ist seit 2011 Leiter des Projektes Frieden und Sicherheit im Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) in Berlin. Von 2008 bis 2010 war er Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO). Davor war er in verschiedenen Positionen im EU-Pfeiler der United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK) für Wiederaufbau und Entwicklung tätig; von 2006 bis 2008 als stellvertretender Leiter.
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